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Kapitel 4 Eine Gans ist nicht mehr ganz klar

Da Maracella seit achtundreißig Jahren nichts anderes zu tun hatte, als Südseemädchen zu sein, konnte sie schwimmen wie ein Fisch. Sie war schon weit vom Strand entfernt, die Wellen waren nicht hoch, sie legte sich auf den Rücken und ließ sich treiben. Da berührte sie etwas am Bein. Sie atmete tief ein. Da fühlte sie wieder einen Stoß im Rücken, doch auch diesmal ließ sich das Mädchen weitertreiben, als wäre sie ein Stück Holz.

„Tscherill! Ich bin doch kitzelig!“ Barthaare berührten Maracellas Wange. Eine Robbe tauchte dicht neben Maracella auf. Tscherill war Maracellas bester Freund, sie kannte ihn seit achtunddreißig Jahren, als er ihr damals das Leben gerettet hatte.

„Help!“

Wie vom Blitz getroffen sah Maracella um sich.

„Hallo, junge Dame! I’m so tired, nicht erschrecken, wenn ich rede, ich bin eine ganz normale Gans. Nun ja, vielleicht doch nicht ganz normal, habe leider viele ganz normale Menschen auf meiner Reise erschreckt bis jetzt, ja, es tut mir so leid, so leid, Cry Baby Cry, einige werden wohl zum Arzt gehen und erzählen, sie hätten eine Gans sprechen hören, Doctor Robert, ach, es tut mir jaaa so leid, aber es geht um Leben oder Tod! Lady Madonna, ich konnte nämlich nicht mehr zurück ins Buch! Nein! Nein! Don’t Let Me Down“, sprudelte es aus der Gans hervor.

„Hallo!“, sagte Maracella etwas zögerlich. „Du kannst mit mir reden, ich bin ja auch kein normales Mädchen und verstehe dich schon...!“

„Uff, endlich, du bist die erste seit achttausend Kilometer, die mich versteht! Thank you Girl!“

„Tja, eine Hawaiigans bist du nicht, die sieht anders aus und kann nicht fliegen. Aber komm, setzt dich auf meinen Kopf, du bist ja ganz erschöpft, liebe Gans, ich schwimm mit dir zum Ufer! Tschüß Tscherill!“

Endlich watschelte die Gans über den Sand. Lerry lag am Strand und las.

„Hallo, mein Junge, was liest du da? Doch nicht etwa dieses mysteriöse Buch, dem wir alle die Misere zu verdanken haben? It’s Been a Hard Days Night…“

Mit diesen Worten ließ sich die Gans augenblicklich in den Sand fallen.

„Schläft sie noch immer?“

Die Jungs nickten.

„Ist sie vielleicht tot?“

Lerry und Kat schüttelten den Kopf.

„Sagt ihr aber heute viel!“ Mürrisch setzte sich Maracella auf ein mit Gänsefedern gefülltes Sitzkissen. Da saßen sie nun alle drei neben dem unverhofften Gast.

Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken. Es war die Gans, die mit geschlossenen Augen den Schnabel aus dem Gefieder zog, ein paar Mal laut schnatterte, um ihn wieder unters Federkleid zu schieben.

„Sie träumt wahrscheinlich!“, meinte Maracella ernst.

Lerry legte seine Karten auf die Bastmatte am Boden. „Poker, Kat, das Spiel ist aus!“

„Mist!“

„I’m Down. Wo bin ich hier gelandet?!“ Plötzlich riss die Gans ihren Kopf hoch und blickte sich um als sähe sie nur Gänseleber.

„Wir haben uns im Meer getroffen, kannst du dich erinnern?“, beruhigte sie Maracella.

„Good Morning Good Morning. Genau! Der erste Mensch, der mich verstand! Ain’t She Sweet. Verzeihung, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Selim, mein Name! Komme eigentlich ursprünglich aus dem Londoner Zoo! Jeah!“ Nach einer etwas umständlichen Begrüßungszeremonie, bei der Lerry, Kat und Maracella ihre Namen dreimal wiederholen mussten, begann die Gans loszuplappern. „Bin ich froh, euch getroffen zu haben. Ja, ja, froh! Here Comes the Sun. Wie viele Menschen habe ich angeschnattert, aber niemand wollte zuhören, nein, nein, keiner interessierte sich für meine Geschichte! Got to Get You Into My Life“

„Schieß los! Du bist also eine englische Gans?“ Lerry strich sich die Haare wieder einmal über der Stirne glatt.

„Ein Gänserich, wenn ich bitten darf! Nun gut, wo waren wir, ach ja, es begann alles damit, dass ein aufgebrachter Spatz in den Zoo geflogen kam und jedes Tier befragte, ob es eine Eule gesehen hätte, eine ganz bestimmte Eule, nämlich. Später im Nichtigen Reich, da hab ich, ja, da hab ich diesen Spatz wiedergesehen, er heißt Posi. Do You Want to Know a Secret? Posi hat mir erzählt, dass er der Grund war, jawohl der Grund, warum ich nun nicht mehr im Londoner Zoo bin! Der Grund war er, dieser Spatz, der eine Eule gesucht hat, eine ganz bestimmte Eule, ach dieser doofe Spatz, Entschuldigung, jedenfalls, ihr müsst wissen, deshalb nun diese ganze Odyssee! Twist and Shout!“

„Im Nichtigen Reich?!“

Alle drei waren aufgesprungen.

„Was weißt du über das Nichtige Reich?“ Kat schnappte sich vorsichtshalber sein Surfbord, das in einer Ecke lehnte, da er sich damit immer am sichersten fühlte.

„Na ja, soviel weiß ich auch nicht darüber, ja darüber, nun soviel nicht, nein, nein…! Happines Is a Warm Gun.“, beschwichtigte Selim seine Zuhörer und schaute unruhig von einem zum anderen.

„Setzt euch bitte wieder hin, ja, hin, zu große Tiere waren mir schon immer unheimlich, sehr unheimlich. Don’t Bother Me! Und wenn sie der Gattung Mensch angehören, dann ganz besonders, sehr besonders, jawohl! We Can Work It Out.“ Die Gans putzte kurz ihr Gefieder, fuhr dann aber doch fort zu erzählen. „Also, ich bin letztes Jahr geboren, ja, ja, aber eigentlich älter als ihr, wisst ihr? Jap, jap! Within You Without You“ Selim entließ eine Deckfeder aus ihrem Schnabel und sah in die Runde.

Alle drei blickten gespannt auf den Vogel.

„Also, in einer für mich und andere geschaffenen Welt lebe ich nämlich im Jahr 1965. Jip, Jip! The roaring sixties, jeah, jeah, jeah! Kenn aber schon alle Beatles Lieder! Ja, Ja, ein Wunder, sozusagen! Das hört sich jetzt kompliziert an, ist es auch, aber das macht nichts! No, no, Strawberry Hills Forever, Forever, Forever!!!“

Nach einer Pause war es Maracella, die als erste etwas sagte. „Ja, bei uns ist das auch ein bisschen kompliziert. Ich zum Beispiel bin seit achtunddreißig Jahren acht Jahre alt!“ Marcella lächelte Selim an. „Das ist der Grund, warum du einen von uns finden musstest. Niemand anderer hätte dich verstanden. Wir kennen die Vorgeschichte etwas! Beatles kenn ich aber nicht.“

Kat, der sich auf sein Surfbrett gesetzt hatte, erzählte nun Selim von dem Korken, den sie entdeckt hatten. Lerry vergaß, seine Haare, wie sonst üblich, zu glätten, während Selim auf die Stirn des Jungen starrte. Dann schnatterte er weiter, und die drei hörten sich an, was die Gans noch alles zu berichten wusste.

„Across the Universe… am Anfang war natürlich totales Chaos, Come Together, jawohl Chaos, ungefähr acht, neun Tiere, aber no Walrus, no Rocky Racoon, der Rest ein Haufen sechzehnjähriger Schüler, na, wie gut, dass jetzt Sommerferien sind, Good Day Sunshine, dann waren da noch ein gefesselter und drei ungefesselte Männer, It’s All Too Much, sowie allerhand komische Figuren, sehr komische, die sich noch nie vorher gesehen hatten, Here There and Everywhere, ja, und eine ganz normale Erwachsene.... Fool on the Hill, und zwei ehrenwerte Akademiker, die allerdings etwas klein geraten…! Dear Prudence! Das war ja schlimmer als die Seargant Peppers Lonely Hearts Club Band!“

„Die kleinen Akademiker waren wahrscheinlich Professor Draciterius und Dr. Sanguinis Anantomis! Letzterer hat vor einem dreiviertel Jahr mit einem Kerzenleuchter einen Anschlag auf meine Halbtante verübt und war danach nicht mehr zu finden gewesen!“, ergänzte Lerry Selims Beschreibungen. Die Gans wackelte aufgeregt mit dem Kopf.

„Und die anderen, kennst du sie, Lerry?“ Maracella riss ihre Augen auf und starrte Lerry an.

„Hm, weiß nicht so genau. Also, von einer normalen Erwachsenen wüsste ich nichts! Der Gefesselte könnte Body Britten sein. Er hat versucht, meine Halbtante zu entführen, wurde dann aber überwältigt.“

„Miss Petty muss ja ein entspanntes Jahr verbracht haben“, bemerkte Kat.

„Und es waren 45 Individuen?“, fragte Lerry schnell, da er nicht wollte, dass jetzt zuviel über Bela geredet würde.

Aufgeregt blickte die Gans von einem zum anderen. Bevor sie weitersprach, öffnete sie ihren Schnabel und sah Lerry wieder lange an. „Ja, und zuerst gingen und gingen und gingen wir alle gemeinsam tagelang durch einen Wald, Magical Mystery Tour, ja, durch einen gefährlichen Wald, bis wir zu einer Heide kamen, ja, einer Heide, doch dann teilte sich die Gruppe, jawohl die Gruppe. Hello Goodbye. Einige wollten unbedingt zur Grenze, unbedingt. Ich bin mit den meisten zurückgegangen, besser gesagt, geflogen, ja zurück, weil ich dachte, das Buch ist meine Heimat, jawohl, meine Heimat, Mother Nature’s Sun, obwohl ich darin in einem Zoo lebe! I’ve Got to Find My Baby.Aber wir kamen nirgends an, nein, nirgends! Dann hab ich mich davon gemacht, ja, ja! Aber plötzlich war sie da! Es war schrecklich, ja, ja!“

„Wer war da?“, fragten alle drei gleichzeitig.

„From Me To You: Die Grenze! Sie ist scheußlich, sehr scheußlich, jawohl, hab sie aber überflogen, ja, überflogen, da gibt es einen Sumpf, einen Sumpf, jawohl, Tomorrow Never Nows, eine riesige Mauer, Mauer, ja, ja, ein Monster, uhhh, ein Monster in einer Stadt, es ist schrecklich, seeeehr schrecklich... Run for Your Life!“

„Aber wo ist denn dieses Nichtige Reich überhaupt?!“, unterbrach Lerry die Gans ungeduldig.

„Das kann ich auch nicht genau sagen, genau, aber wahrscheinlich liegt das Nichtige Reich irgendwo, jawohl irgendwo, über den Wolken Schottlands, da irgendwo hoch oben, jawohl! Lucy in the Sky with Diamonds.“

„Wie kommst du denn auf diese Idee?“ Kat hielt sein Bord fester.

„Na ja, nachdem ich das Monster überflogen hatte, Free as a Bird, das Schreckliche, das Schrecklichste, in der Stadt, einer schrecklichen, da sah ich bald darauf ein paar Inseln, ja, ja die kenn ich, von denen hat meine freie Großmutter immer meiner gefangenen Mutter erzählt, Your Mother Should Know, als sie uns besuchen kam im Londoner Zoo, ich war noch ein Küken, und meine Mutter hat mir dann, als ich größer war, abends am Zooteich…!“

„Selim!“

„Ach so, entschuldigung, ich schweife ab, ja ab…! Ich bin dann halt immer weiter der Sonne nachgeflogen, Follow The Sun, wie bereits zitiert, und dann kam lange nur noch Wasser, ganz viel Wasser, jawohl! Wäre ich nicht auf einem Schiff zwischengelandet, ja gelandet, hätte ich den Überflug nie, nie, nie überlebt, nein, nein, wäre schon tot, wie traurig! No Reply. War aber auch schon schwierig genug, sehr, sehr schwierig, von den Matrosen nicht in einen Kochtopf gesteckt zu werden, Glass Onion, Kochtopf, wie schlimm, diese Meute, jawohl, Meute, ja, ja… Revolution!“

„Armer Selim, aber sag mir bitte, wie sah denn das Monster aus?“ Maracella liebte nämlich Monster aller Art.

„Gar nicht, es ist nämlich unsichtbar! You’ ve Got to Hide Your Love Away.“

Die drei Jugendlichen starrten die Gans an.

„Nein, du siehst es nicht, nein, nein, You Won’t See Me. Aber da es immer da ist, spürst du es, ja, ja, und das Schlimmste ist sein Rachen, wie schrecklich, wenn du ihm zu nahe kommst, zu nahe ja, dann denkst du nur noch daran, was du alles haben möchtest, Pleasy Pleasy Me, jawohl, und wie du es dir am besten holen könntest, ja ja. Ich bekam eine solche Lust, nach unten zu fliegen, ja wohl, um mir alles zu stehlen was nicht niet- und nagelfest ist, ja, ja, aber ich bin ja ein Tier, jawohl, Hey Bulldog, da hab ich das Monster irgendwann ausgelacht, jawohl, ausgelacht hab ich es! Real Love. Aber wehe dem, der dieser Gier nachgibt: den frisst das Monster, frisst ihn, jawohl, mit Haut und Haar! Piggies.“

Maracella, die nicht wusste, was sie von diesem Monster halten sollte, fragte neugierig, „Und im Nichtigen Reich, gibt es da auch Monster?“

„Ich hab keines gesehen, nein, nein, aber wer weiß, ja, wer weiß schon! Dig It!

„Was sind da noch für Wesen dort?“, wollte die kleine Hawaiianerin unbeirrt wissen.

„Keine Ahnung. Everybody Has Got Something to Hide Except Me and My Monkey.“

„Also, da ihr alle auch alle aus Lisas Feder seid, könnte sich auch Tarantuga im Nichtigen Reich befinden!“, überlegte Maracella laut.

„Tarantuga? Helter Skelter!“ Selim blinzelte misstrauisch.

„Tarantuga ist so alt wie ich. Seine Geschichte hatte das gleiche Schicksal wie meine. Lisa verbrannte sie, als sie noch ein Kind war!“

„Aber warum hat sie denn all diese Geschichten verbrannt?“, warf Lerry ein und vergaß Selims Erzählung für einen Moment.

Maracella zuckte die Schultern, dann dachte sie kurz nach. Schließlich meinte sie, „Naja, wahrscheinlich glaubte Lisa, Gott sei Katholik! Eigene Welten und Figuren zu erschaffen, ist doch so ungeheuer lustig und man leidet dabei so wenig! Sie fühlte sich wahrscheinlich irgendwie schuldig und nicht mehr fromm genug.“

„Wie auch immer, das hilft uns jetzt auch nicht weiter!“, meinte Kat missmutig. Diese ganze Diskussion uferte für sein Gefühl zusehends aus. Er sehnte sich zurück zu einem Ufer, wo man wenigstens Wellenreiten konnte. Außerdem war für ihn dieses Nichtige Reich samt Treibgut mehr als rätselhaft. Er hätte jetzt viel lieber handfeste Tatsachen als Spekulationen vor sich gehabt.

„Gab es eigentlich noch eine Erzählung, die Lisa damals verbrannt hatte?“ Lerry ließ nicht locker und sah Maracella an.

„Hm, ja, die Geschichte von Walla!“

„Walla, was war denn das, eine fliegende Untertasse?“, warf Kat lakonisch ein, worauf Maracella beleidigt schwieg. Auch wenn Lisa damals ihre Geschichten verbrannt hatte, durfte niemand etwas gegen sie sagen. Schon gar nicht die Figuren aus ihrem Buch!

Sie diskutierten noch lange über diesen mysteriösen Ort, doch Selim war ihnen keine große Hilfe mehr. Da er immer etwas abseits der anderen geflogen war, wusste er nichts Genaueres mehr über die Gruppe. Außerdem hatte der Graugänserich bereits einer wunderschönen Hawaiigans zu tief in die Augen geschaut.

„Nun Freunde, ich fürchte, ich kann euch auch nicht mehr verraten, so sorry, sorry. Ihr entschuldigt mich doch? All you need is Love!“

Schon flog er fort.

Das Eulenrätsel

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