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ОглавлениеKapitel 2 Ein Wald und eine Heide
Es wurde kühler. Nebel legte sich wie milchiger Schleier über die Stämme der Bäume. Sie stapften über Wurzeln ohne ein Wort zu sagen. Plötzlich zerriss ein Schrei ihr Schweigen.
„Ahhh! Da ist eine Schlange!“ Ein Ruck ging durch die Gruppe. Es floh oder versteckte sich, wer konnte, kletterte auf Bäume oder begann eifrig zu fressen – da der Aufschrei einen wunderbar hohen Frequenzpegel hatte, der nach Sahne und Sauerkirschteig schmeckte. Ein paar Mutige gingen weiter.
„Da vorne am Baumstamm...!“, kreischte Eulalia Birdwitch abermals, tat ein paar unvorsichtige Schritte rückwärts und stolperte über eine Wurzel. Sie wäre fast zu Boden gestürzt, wäre da nicht ein Mann im schwarzen Kapuzenmantel hinter ihr gestanden. Da dieser jedoch anstatt Finger eiserne Krallengerätschaften zu je fünf Metallspitzen besaß, wurde Eulalia nur durch seinen breiten Brustkorb vom Fallen abgehalten. Ein drittes Mal kreischte die einzig normale Erwachsene, als sie die Eisenfinger vor ihren Rippen gegeneinander schlagen hörte. Eulalia konnte den nach verbranntem Holz riechenden Atem in ihrem Nacken spüren. Wieder sicher im Gleichgewicht, stieß sie sich angewidert von dem Mann ab und wagte einen Schritt vorwärts. Suckandpop rülpste.
Ein Mädchen erreichte Eulalia und Elester Claw. Sie blieb aber nicht stehen, sondern ging beherzt auf den Baumstamm zu und hob etwas hoch. Grinsend drehte sie sich zu den anderen um. „Eine lasche Schlange! Der Nebel hat Ihnen einen Streich gespielt, Miss Birdwitch!“
„Siiieht aber wiiehrklichsch ausss wieeeh eine Ssschlannnge!!“ Jim Hicksley sah sogar mehrere Schlangen, doch das war ihm ziemlich egal. In letzter Zeit war ihm überhaupt so ziemlich alles egal, was nicht einfach vor seinen Augen verschwand, so wie damals. Er nahm noch einen Schluck aus seinem Fläschchen.
„Olle Tante!“
„Wer war das?“, brauste Eulalia auf. Alle anderen zuckten mit den Schultern, denn niemand hatte etwas gesagt.
„Ach, dieser nebulose Wald, wie lange sollen wir noch hier herumirren?!“ Eulalia sprach lauter, um sich Mut zu machen, und Suckandpop hatte Speichelfluss.
„Ja, in unserem Buch mussten wir wenigstens nicht ewig laufen ...“, meinte nun ein anderes Mädchen, das auch zu den Herumstehenden trat. Eulalia ließ sie nicht weiter zu Wort kommen und quiekte beinahe, „Ach was, dieses blöde Buch! Ich saß auf alle Fälle in meinem Büro in Los Angeles, ich war in Sicherheit, keine Kälte und kein Nebel!“
„Sicherheit... Sicherheit, wenn nicht einmal die hohe Wissenschaft astronomischer Pendelexperimente vor Kerzenleuchtern geschützt ist!“, schimpfte ein ehrenwert aussehender Mann und mischte sich in Höhe von Eulalias Kniekehlen ins Gespräch.
Er hatte die Erlebnisse aus jüngster Vergangenheit noch nicht vollständig verarbeitet – was aber verzeihlich war, da dieser ehrenwert aussehende Mann auf sehr viel Vergangenheit zurückblicken musste.
„Nun, jetzt stehen sie auf dem Boden, Herr Professor!“ meinte Bel Raven, die das Buch bis zu der Stelle gelesen, an der sie selbst darin vorkam. So eine Erfahrung prägt natürlich. Dadurch wusste sie mehr als alles anderen, wenn sie überhaupt etwas wusste.
„Herr Professor, Sie waren doch eine berühmte Persönlichkeit!“, fügte Penny Lo hinzu, um den kleinen Mann zu beruhigen.
„Ich WAR eine berühmte Persönlichkeit, bin aber schon längst tot!“, schimpfte Professor Draciterius unbeirrt.
„Na und. Bin es auch!“ Aus einer besonders dichten Nebelwand erhob sich ein dünnes Stimmchen. „Und das freiwillig! Hatte eine wunderschöne Zeit in meinem Haus in London, Clerkwell, Alaster Road 15!“
„So kommen wir nie weiter!“ Der Suckandpop schluckte zufrieden, während Penny Lo wütend mit dem Fuß gegen den Baumstamm stieß. „Wir müssen versuchen, zur Grenze zu kommen und...“
„Vielleicht einem Monster den Rachen verkleben? Sonst noch was?“, unterbrach ein Junge Penny Lo. Pat Swift war sicher kein Feigling, Held war er aber auch keiner.
„Wenn wir noch länger hier stehen bleiben, brauchen wir uns bald keine Gedanken mehr zu machen!“, brummte Eulalias Retter vor dem Fall.
Ein voller Mond war aufgegangen, manchmal rissen die Nebel kurz auf und es wurde hell im Wald.
„Es wird sehr kalt!“, meinte Prof. Draciterius so pathetisch, als würde er die Entdeckung der modernen Naturwissenschaften ankündigen. Dann schüttelte er seinen ehrenwerten Glatzkopf, den zwei noch ehrenwertere Kotletten schmückten, und war und blieb seiner Zeit um fünf Jahrhunderte zurück. Immerhin konnte er die anderen hin und wieder durch reformatorische Gedankenschärfe beeindrucken, wenn auch nicht gerade jetzt.
Die Gruppe der ihrem Buch Entrissenen machte sich also wieder auf den Weg. Jim Hicksley ließ alle an sich vorbeiziehen, um dann mit einem bleichgesichtigen jungen Mann namens Merlot die Nachhut des Trupps zu bilden.
So gingen sie, bis die Waldgrenze endlich hinter ihnen lag und sich Metallklinken der Morgendämmerung entgegen streckten.
„Alles Haltmachen!“, brüllte Elester Claw. Jim Hicksley stolperte fluchend zu Boden und fiel über Merlot, der sich wie ein Brett ins Gras hatte kippen lassen. Er nahm einen Schluck aus dem Flachmann und schlief ein paar Minuten später auf Merlot ein. Professor Draciterius und Dr. Sanguinis Anatomis taten sich nicht so leicht mit dem Einschlafen. Verzweifelt rannten sie zwischen den anderen hin und her, um eine Gerade zu finden. Doch die Heidelandschaft hielt nichts von Geometrie, und so begannen sich die beiden zu zanken, bis sie schließlich ebenso gerade umfielen wie Merlot.
Auch die Tiere waren müde. Selim, die einzig normale Gans, pardon, der einzig normale Gänserich, suchte sich einen Platz nahe eines Tümpels. Mäusegroßvater Mero fand mit seiner Familie im Gras Unterschlupf, ebenso Tarantilli, die Flohspinne, und Fischa, die Meerkatze.
Vierzehn Jugendliche sanken ebenfalls zu Boden, während ein an den Händen gefesselter Mann an eine Weide gebunden wurde und dort über seinen Qualen entschlummerte.
So schliefen alle ein. Wirklich alle? Nein, nicht alle. Wer kann sich vorstellen, dass Eulalia Birdwitch in freier Wildnis die Nacht verbringt? Sie war es nicht gewohnt, sich ohne ihre tägliche Fernsehserie dem kleinen Tod zu überlassen. Auf einem möglichst sauberen Stein sitzend dachte sie an ihr Appartement mit Bodenheizung in Los Angeles.
Doch sie war nicht die einzige, die wach war. Auch Bel Raven konnte keinen Schlaf finden. Das Mädchen hatte sich zwar, so gut es ging, in ihren Wollschal eingewickelt, doch Gewissensbisse lassen sich nicht einwickeln.
Bel blickte hinüber zu der Amerikanerin und seufzte. Ob sie zu ihr gehen und sich entschuldigen sollte? Doch damals hatte sie ja nicht wissen können, dass die Zusendung ihres Liedes an Warner Bros solche Konsequenzen haben würde. Komisch! Wo sie doch sonst immer alles wusste! Wozu das ganze nur? Erscheinen würde der Film sowieso frühestens erst 2017, wenn überhaupt. Immerhin war der Korken, den sie im Winter noch in den Pazifik befördert hatte schon an den Stränden von Hawaii angekommen. Sie versuchte sich zu erinnern, was sie damals eingeritzt hatte. Doch wie immer, wenn sie daran dachte: es mochte ihr nicht gelingen. Nun, irgendwann würde das alles zu Ende sein. Von dieser Erkenntnis beruhigt, schlief sie schlussendlich doch ein.
Auch Eulalia überkam die ersehnte Ruhe. Selbst ohne die Befriedigung zu wissen, ob Betty Love in der Vorabendserie ‚Die schmelzenden Eisbären von Denver’ noch an Mister Lester McStubborn herangekommen war oder nicht. Sogar die Ungewissheit, ob sie selbst, Eulalia, Opfer eines Mordes geworden war und ihre jetzige Lage vielleicht eine Vorhölle sei, erschien ihr mit zunehmender Müdigkeit belanglos.
Penny Lo erwachte als erste von allen. Sie räkelte sich und meinte alle Knochen zu spüren. Doch was sie dann sah, schmerzte fast noch mehr. Unweit von ihr, unter einem stacheligen Gestrüpp, lagen zwei ehrenwerte Gestalten aneinandergeklammert auf dem Boden als wollten sie sich gegenseitig erwürgen. Etwas weiter, den Abhang hinunter Richtung Tümpel, schnarchte ein älterer, mit Fetzen bekleideter Mann. Unter ihm lag ein bleicher jüngerer Mann, der kaum zu atmen schien. Seine Augen waren mit einer Binde bedeckt. Penny Lo schüttelte den Kopf und ließ ihren Blick in die Weite schweifen. Sie befanden sich auf einer Hochebene, vor ihnen Gras und Büsche, die in Nebeln verschwanden, ein Tümpel war gerade noch zu erkennen. Dahinter mochten sich Wiesen und Wälder befinden, in der Ferne vielleicht ein Gebirgszug. Sie sog die frische Luft ein.
Dann zog der Suckandpop ihre Aufmerksamkeit auf sich. Das unförmige Etwas hing schlapp über dem tiefen Ast einer Birke. Es hieß übrigens Sucky. Penny Lo erinnerte sich an eine Schulstunde letzten Jahres, als dieses Unding besprochen worden war. Angeblich änderte es ständig seine Form und sah im wohlgenährten Zustand aus wie ein Riesenschnuller. Es ernährte sich ausschließlich von Frequenzen, eine Verstopfung hatte lautstarke Explosionen und den Gestank nach Schimpfwörtern zur Folge. Seit dieser Schulstunde wusste Penny Lo, dass Schimpfwörter stinken können.
Suckys Schlafplatz lag etwas abseits von den anderen. Nur eine etwas festere, blondhaarige Frau Mitte dreißig hatte den Fehler begangen, sich unter die Birke zu legen. Penny Los Stimmung erhellte sich augenblicklich, als sie Suckys triefenden Speichel beobachtete. Pat schien dasselbe zu beobachten und bemerkte nur: „Na, wenn die aufwacht, hat der Suckandpop sicher ein fulminantes Frühstück!“
„… Waschmaschine, weiß, schwarz und... neinnnnn!“, murmelte der an den Baum gebundene Schläfer. Der Suckandpop wurde etwas dicker, die Schnullerspitze streckte sich. Schleim tröpfelte auf Eulalias Bluse, sie lächelte im Schlaf und drehte sich auf den Bauch.
Als der Gefesselte die Augen aufmachte, sah er aus, als wäre er gerade einer Waschmaschine im Schleudergang entstiegen.
„Allle heeerkooommmen! Wir müssen einen Rat einberufen!“ Sucky bekam sein Frühstück, denn Elester Claw brüllte ziemlich laut. Aber es dauerte noch lange, bis alle versammelt waren. Vor allem die Tiere unten am Tümpel wollten nichts von irgendwelchen Zusammenkünften wissen. Die Meerkatze Fischa dachte sofort an Flucht. Versammlungen entsprachen nicht ihrem Naturell.
Die Sonne war schon fast wieder verschwunden, als Elester allen Beteiligten einen ‚Guten Morgen’ wünschte. Sucky, fett und glücklich, lag neben Elester und rührte sich nicht mehr.
„Wir haben“, erhob der ehemalige Mönch seine heisere Stimme, „einen gefährlichen Wald durchquert, und jetzt kann es nur noch einen Weg geben: den Weg zur Grenze!“
„Unmöglich!“, unterbrach ihn Professor Draciterius und hörte kurz auf, sich mit Dr. Sanguinis Anatomis zu streiten. „Ich will zurück ins Buch! Ich weiß gar nicht, warum ich mich diesem Trupp überhaupt angeschlossen habe. Habe ich mich diesem Trupp überhaupt angeschlossen? NEIN, ich wurde ausgeschlossen, eliminiert aus den Seiten, sozusagen!!“ Der Suckandpop hätte mit diesem anschwellenden Frequenzpegel seine Freude gehabt, doch sein Hunger war bereits gestillt.
„Ja, ganz richtig! Außerdem waren wir doch nur Randfiguren, ich verzichte darauf, zur Grenze des Nichtigen Reiches zu kommen, ich verzichte!“, fügte der zwielichtige Professor Anatomis Sanguinis hinzu, und man hätte meinen können, er und Professor Draciterius wären ein Herz und eine Seele.
„Ja, genau, ich bin eine ganz normale Gans. Mein Name wurde nur einmal erwähnt, stellt euch das vor: einmal! Ich wurde weder beschrieben, nein, nein, noch eigentlich durfte ich ein Wort reden, nicht reden durfte ich, jawohl! Nowhere Man. Und genauso ging es Elvira, jawohl, der Stubenfliege, genau, genau, Draculetta, ja, ja, der Fledermaus, genauso, genauso, der Flohspinne Tarantilli und Geier Willy, von der Fledermaus ‚Hu’ ganz zu schweigen! Twist and Shout. Wozu der ganze Aufwand? Wozu? Wozu? Let it be! Also, ich möchte auch zurück ins Buch, jawohl, zurück. Niemand wird mich bemerken, nein, nein, ich bin nur eine ganz unscheinbare Gans, ja, ja, und halte meinen Mund! Yeah, yeah, yeah! Und wenn das nicht geht, nicht geht, jawohl, ich meine, wenn das alles zu lange dauert, dann fliege ich, jawohl, dann fliege ich! I’ll Follow the Sun!“
„Selim hat völlig recht!“ Elester glaubte, seinen Augen nicht zu trauen, als auch noch vier Jugendliche aufstanden. „Wir möchten auch zurück!“
Der ehemalige Mönch setzte sich auf den nächsten Felsbrocken. Er hätte jetzt gerne den Kopf auf seine Hände gestützt, doch um sich selber nicht aufzuspießen, unterließ er es. Stattdessen verschränkte er seine Eisenspitzen ineinander, blickte schweigend von einem zum anderen, bis es endlich ruhiger wurde.
„Es stimmt, dass wir unvorbereitet auf diese Reise geschickt wurden. Wir wurden herausgerissen aus unserem täglichen Leben und fanden uns hier wieder. Einige von uns kamen auch nicht hierher, da sie zu schwer waren wie der Steinerne Löwe oder zu weit weg wie Kat Waterrise und Lerry Miller... Aber ihr wisst, was uns alle verbindet!“
„Ja, es verbindet uns, dass wir im Nirgendwo herumsausen...!“, piepste Draculetta, die Fledermaus.
„...und dass wir einmal gemeinsam in einem Buch waren, jedoch daraus – wodurch auch immer – verbannt wurden!“, ergänzte die Flohspinne Tarantilli.
„Freunde! Dort, wo ihr zurück wollt, ist keine Heimat! Wir alle waren doch nur Randfiguren in diesem Buch, keiner von uns war in die Handlung verwoben. Vielleicht haben wir jetzt, obwohl verbannt, die Möglichkeit, einen neuen Weg zu gehen und zu uns selbst zu finden! Jetzt können wir unsere eigene Geschichte schreiben! Der Weg ist das Ziel, und es ist alleinig unser Weg! Als erstes müssen wir die Grenze dieser Landschaft erreichen, denn wir befinden uns hier im Nichtigen Reich. Alles ist der Nichtigkeit preisgegeben, da es keinen Stein, keine Pflanze, keinen Tümpel und keinen Berg wirklich gibt, aber wenn wir…“
„Eben…! Alles ist so nichtig hier!“, unterbrach Prof Draciterius Elester aufgebracht. „Dann kehren wir doch ins Buch zurück! Ich brauche keine eigene Geschichte. Meine adeliges Blut ist geschichtsträchtig genug!“
„Nein, das ist nicht möglich!“, mischte sich Penny Lo ins Gespräch. „Wir können nicht mehr ins Buch zurück! Wären wir wenigstens in der wirklichen Welt, dann könnten wir unser Buch suchen und vielleicht wieder zwischen den Zeilen verschwinden. Doch wo das Nichtige Reich genau ist, wissen wir nicht. Wir wissen ja nicht einmal, wer wir genau sind! Wir haben die Form von Menschen und Tieren, aber das einzige, was wir sicher wissen, ist, dass wir in einem Buch entstanden sind! Außerdem ist das hier bei weitem nicht Schottland! Wir wandern doch schon tagelang Richtung Westen und hätten längst das Meer erreichen müssen, doch hier gibt es kein Meer!“ Diese Feststellung traf die Meerkatze Fischa. Ihre Enttäuschung war riesig. Da sie das Meer in ihrer Gattungsbezeichnung trug, hatte sie sich immer schon gewünscht, es einmal zu sehen.
Der Professor quengelte unterdessen unbeirrt weiter: „Und ob ich ein Mensch bin! Nieder mit dem versklavenden Idealismus, es lebe der Humanismus – auch wenn ich meiner Zeit etwas vorgreife! Schauen Sie sich ein Bild aus dem 16. Jahrhundert an: auf einer zweidimensionalen Fläche ist bereits eine räumliche Darstellung zu erkennen! Dank dem logischen Verstand und der genauen Beobachtung! Pah, wahrlich, ich sage Ihnen: cogito, ergo sum! Wir gehen einfach den Weg zurück, meine Herrschaften, und ich werde diesem Nichts eine Dimension hinzufügen – dank meiner Pendelexperimente, um uns wieder unserer wahren Heimat zuzuführen! Vertrauen Sie auf die Wissenschaft der Renaissance – ich habe schließlich Leonardo da Vincis geometrische Skizzen nicht umsonst studiert!“ Viele Augenpaare blickten begeistert auf den kleinen Mann. Nur Merlot und einige wenige sahen betreten aus. Der junge Vampir knickte sogar sichtlich ein. Er hatte nämlich einen Hang zu geisteswissenschaftlichen Überlegungen und dachte weiter als der Professor der Renaissance: wenn es nämlich dieses Nichtige Reich gar nicht gab, dann gab es ihn wahrscheinlich genauso wenig – das zumindest verriet eine von allem Idealismus befreite Logik. Trotzdem tauchte das Dämmerlicht die Gesichter aller in trübe Schatten.
Schließlich erklang wieder Elesters Stimme. „Pat, nimm mal den Stock!“ Als Elester begann, in die Luft zu hauchen, verstand der Junge. Er hielt dem Kapuzenmann einen nichtigen Stock vor den Mund, sofort entzündete er sich. Bald darauf brannte ein kleines, wenn auch nichtiges, Feuer. Elester starrte in die nichtigen – wir wissen es schon – Flammen und dachte nach.
Merlot hielt es schließlich nicht mehr aus. „Aber…, wenn wir irgendwo sind, wo wir nirgendwo sind, sind wir selbst dann überhaupt irgendwie oder sind wir vielleicht nirgendwie?“ Die Reaktion der Gefährten war für Merlot erstaunlich. Selten hatten seine Worte dasselbe ausgelöst wie seine Bisse – panische Aufschreie. Am schlimmsten dran war Eulalia. Nach tagelangem Herumirren mit diesen Irren, frisch bespuckt von einem Unding, und jetzt auch noch der Gewissheit beraubt, überhaupt zu existieren, reifte in ihr im Nirgendwo die Erkenntnis, dass dies keine Vorhölle, sondern die Haupthölle sei. Ob es eine solche überhaupt gab, hatte sie sich nie gefragt. Sie kniete nieder und begann um Verzeihung ihrer Sünden zu bitten. Bel Raven näherte sich ihr vorsichtig und meinte leise: „Es wird alles wieder gut!“
„Leute, wer oder was, wie und wieso, wodurch und weswegen, ob wir oder ob wir nicht existent sind, das tut jetzt alles nichts zu Sache! Auch wenn es uns gar nicht gibt, wäre es furchtbar langweilig, uns nicht vom Fleck zu bewegen. Also schlage ich vor, wir gehen einfach weiter!“, rief Penny Lo so laut sie konnte.
„Gehen, aber in welche Richtung? Das ist hier die Frage!“, ereiferte sich Professor Draciterius aufgebracht. „Ob´ s edler im Gemüt... alle, die an unumstößliche Größen wie Bilderrahmen glauben, gehen mit mir. Wir gehen dorthin zurück, woher wir gekommen sind! Von dort werden wir unsere geistige Heimat zurückerobern – mithilfe genauer wissenschaftlicher Analyse der Wirklichkeit!“ Angesichts der Bedrohung völliger Identitätslosigkeit ging ein fanatischer Aufschrei durch die Gruppe.
Elester erblasste. Die meisten seiner Kumpanen scharten sich um den Professor. Er stand auf und sah sich um. „Nun… Wenn es so sein soll, wer geht dann mit mir?!“
Bel Raven kam mit Eulalia vom Tümpel zurück. Sie stellte sich mit der Willenlosen hinter Elester. Auch Pat Swift und Penny Lo gesellten sich zu ihm.
„Konfrontiert mit dem Nichtsein ziehe ich die Aussicht auf ein fortschrittliches Nichtseins der Aussicht auf ein rückschrittliches Nichtsein vor, also komme ich mit euch! Ihr müsst mir nur eines versprechen!“, bemerkte Merlot.
„Und das wäre?“, erwiderte Elester matt.
„Tagsüber muss ich mir die Augen verbinden, da brauche ich unbedingt jemanden, der mich führt!“
„Aberrrr dass isch doch klar, mmmein Junggge!“ Jim Hicksley torkelte herbei. „Wo DU bissch, da binnn auch ich! Highly!“
„Fein, dann sind wir ja eine wirklich starke Truppe!“, brummte Elester, während ihm seine Kapuze vor die Augen rutschte.
„Elester...“
„Ja, Bel...“
„Nun, ich kenne unsere Geschichte ja schon, und an dieser Stelle fragt Bel Raven Elester, ob er sehr verzweifelt wäre, wenn sie, natürlich nicht wegen des Glaubens an unumstößliche Größen, sondern vielmehr wegen narrativer Umstände, sich der Gruppe der siebenunddreißig anschließen würde.“
„Und was sagt Elester da?“, fragte Elester.
„Er sagt: ‚Ja, ich bin sehr verzweifelt, aber bitte geh mit den anderen, da ich so oder so sehr verzweifelt bin!’“, erklärte Bel.
„Ja, ich bin sehr verzweifelt, aber bitte geh mit den anderen, da ich so und so sehr verzweifelt bin!“, wiederholte Elester. Bel schloss sich somit der größeren Gruppe an.
Die Nacht war hereingebrochen. Das Feuer warf einen flackernden Lichtkreis. Vom Waldrand her bewegte sich eine Gestalt auf sie zu. Die hintere Reihe der Fünfundvierzig teilte sich, und der Dunkelheit entsprang ein in Reiterhose, Stiefel und kariertem Hemd daherstapfendes monokeltragendes Individuum.
„Willkommen, Lord Waxmore, wir halten gerade eine Versammlung ab. Wollen Sie mit Professor Draciterius und den anderen zurück an den Ort, an dem unsere Reise begonnen hat? Obwohl sie diesen vermutlich nie finden werden. Aber wollen sie zurück, um der Hoffnung nachzuhängen, wieder in unser Buch zu gelangen, oder...“, fragte Elester lustlos.
„Guten Abend Mylords! Unser Buch? Was verbindet mich denn mit diesem Buch? Nichts als die Erwähnung meines Namens – keine Abenteuer, keine Aufgaben, ja nicht einmal eine Nebenhandlung wurde mir zugeschrieben. Nie und niemals möchte ich dorthin zurück!“, unterbrach der Lord Elesters Ausführungen.
„Ha, Niedergang des Adels! Sie werden sich noch ansehen, Mylord! Irren Sie nur blaublütig in diesem Nichtigen Reich herum! Im Namen der siegreichen Wissenschaft werde ich diesem unwürdigen Geschehen Widerstand leisten!“ Ohne weitere Verabschiedung, dafür mit wilden Schlachtrufen, stürmte Professor Draciterius Richtung Wald davon. Sechsunddreißig Individuen folgten ihm.
Sechsunddreißig Individuen?
„Nehmt mich mit!“, keuchte es aus dem Nirgendwo. Obwohl sich Penny Lo dreimal umdrehte, konnte sie nicht erkennen, wer gerufen hatte.
„Ich sitze auf deiner linken Schulter!“
Pat Swift grinste. Dann bemerkte er: „Das ist die Flohspinne Tarantilli! Sie ist so klein, dass sie kaum zu sehen ist, und sie wiegt auch nichts. Ich glaube, sie hat dich als Sänftenträger gewählt!“
„Na von mir aus...“ Plötzlich spürte Penny Lo einen Windhauch neben sich. Draculetta, die Fledermaus, landete auf ihrer rechten Schulter und piepste: „Nicht auszuhalten, dieser Haufen! Vor allem der Professor! Hu hält ja viel aus…“
„Wartet!“ Ein graubraunes Fellbündel kollerte Pat vor die Füße. „Erbarmen, ich komm auch mit euch!“, machte sich die Meerkatze Fischa bemerkbar. Sie sprang auf Pats Schulter, der entnervt wissen wollte: „Sind wir jetzt alle vollzählig?“
„Von den Tieren schon. Selim kann hinfliegen, wo er will, Mäusegroßvater Mero ist dem Trupp mit seinen Enkeln vorausgeeilt, BMS-Spatz Posi flattert auch voraus und hört nicht viel von den Schlachtrufen des Professors, und Geier Willy schwebt erhaben in den Lüften…!“
Pat wollte etwas sagen, bekam aber Fischas Schwanz ins Gesicht.
„Können wir endlich gehen…?“, flehte Merlot. „Solange es dunkel ist, sehe ich noch etwas von der Landschaft!“