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ОглавлениеKapitel 12 Lisa weiß nicht weiter
Das erste, was Lisa hörte, war der Schrei einer Seemöwe. Verschlafen drehte sie sich auf die andere Seite. Eine Göttin zwinkerte, nachdem Lisa noch einmal ins Land der Träume gesunken und ein Vogel dort mit ihr über Wüstensand geflogen war.
Am Frühstückstisch stellte Alwin wieder einmal die Frage: „Und jetzt?“
„Wir mieten ein Boot, um an der Küste entlang zu fahren oder vielleicht auch auf eine nahe Insel!“
„Suchst du etwas Bestimmtes?“
„Nein, nur das Meer, die Landschaft und die Tiere “, meinte Lisa lächelnd.
Alwin gab sich mit dieser Antwort zufrieden. Er hatte Schlimmeres erwartet, so etwas wie: „Wir gehen schwimmen, tun so, als wären wir beheimatete Robben, und warten auf von Meerwasser überspülten Felsen auf ultimative Intuitionsergüsse!“ Insofern fand er ihren Vorschlag beruhigend, einfach und unkompliziert und freute sich auf ein paar Tage Naturerlebnis, obwohl er natürlich insgeheim mit den größten Katastrophen rechnete, so realistisch war er.
Das kleine Hotel in dem sie wohnten lag unweit von der Bootsanlegestelle. Sie gingen den Kai hinunter, es roch nach Fisch und Meertang. Mit einem gemieteten Motorboot fuhren sie dann Richtung Norden, die Küste entlang. Einige Wolken zogen auf und warfen Schatten über die Grashügel, als wollten sie wandernde Figuren erschaffen; zumindest sah das Lisa so. Für einen poetischen Hinweis genügte das Naturschauspiel jedoch leider nicht. Das Boot passierte schließlich einen Felsvorsprung, dahinter schlängelte sich der Meerarm in Landesinnere. Ein Grashügel erhob sich, nicht höher als zweihundert Meter.
„Lass uns hier hineinfahren!“, schlug Lisa Alwin vor. Sie folgten dem Wasserlauf und sahen die ersten Steine am Meeresboden. Alwin stoppte den Motor.
„Und jetzt?“
„Wir besteigen diesen Hügel!“
„Lisa?!“
„Ach, komm schon, Alwin!“
Seufzend gab er nach. Sie machten das Boot an einem Pfahl fest, schlüpften in Wellington-Boots und wateten zum Ufer. Dort stapften sie den schmalen Weg zur Hügelspitze.
Erschöpft ließ sich Alwin auf einem Stein nieder. Mit einem Schmunzeln auf den Lippen sah er zu Lisa, die das offene Meer betrachtete.
„Wir könnten ja nach Lewis hinüberfahren und den Steinkreis von Callanish betreten, vielleicht stülpt sich dann ein freundliches schwarzes Loch über uns, und wenn es uns wieder ausspuckt, sind wir im Nichtigen Reich. Wir schnippen noch dreimal mit den Fingern, und landen am besten mit all deinen Romanfiguren wieder auf Hawaii, das ließe sich sicher einrichten…!“
Leise erwiderte Lisa: „Es ist so schön hier, es gibt Steine, Tiere, Pflanzen… Irgendwie helfen sie mir!“
Bevor sie wieder ins Boot stiegen, spazierten sie noch die Küste entlang. Nach einer Weile gelangten sie zu kleinen Felsblöcken, über die sie sprangen. Es tat Lisa gut, hier alleine mit Alwin zu sein, der nun gar nicht mehr murrte und diese kleine Wanderung genoss. Einzig die vielen leeren Plastikflaschen und Kanister, die angeschwemmt zwischen den Felsen liegengeblieben waren, verdüsterten ihre Stimmung.
„Alles wird von den großen Schiffen ins Meer geworfen, als wäre es eine große Müllhalde!“ Lisa stieß wütend eine leere Cola Flasche weg, die vor ihr im Kies lag. Am liebsten hätte sie diese Welt aus den Angeln gehoben, den ganzen Mist entleert und die Menschen beschworen, sich vor der Muttergöttin Gaia zu verbeugen und den Titel „Krone der Schöpfung“ ins Archiv für überholte Bezeichnungen zu verbannen, um sich als kleiner unbedeutender Teil der Schöpfung neben Braunbären und Waldameisen einzureihen.
Als ob er diesmal Lisas Gedanken erraten konnte, flüsterte Alwin leise, „Und sie dreht sich doch…!“ Lisa nahm seine Hand und so gingen sie zurück zum Boot.
„Komm, wir fahren aufs Meer hinaus!“, meinte sie zuversichtlich.
Ein nun wieder wolkenloser Himmel ließ das Wasser tiefblau schimmern, als sie Fahrt aufnahmen. Sie übernachteten auf einer Insel. Tags darauf fuhren sie weiter nach Skye, besuchten ein Schloss, stiegen nochmals auf einen Hügel, ließen das kleine Boot im Hafen und nahmen am Nachmittag eine Fähre nach Harris. Die Überfahrt verbrachte Alwin auf einer Bank am Unterdeck der Fähre liegend. Lisa hingegen saß backbord an das Außenfenster gelehnt und wünschte sich, ewig in diesem Wellenmeer zu schaukeln. Tarbert war viel zu schnell erreicht, für ihr Gefühl.
Halb krank verschlief Alwin den nächsten Tag, während Lisa all ihre Antennen ausfuhr, um irgendeinen Hinweis zu empfangen, was jetzt zu tun wäre. Doch sie konnte keinerlei Zeichen erkennen, wo sich ein Nichtiges Reich befinden könnte. Auch der darauffolgende Tag, an dem sie Lewis besuchten und in verlassenen Dörfern herumirrten, barg nicht den kleinsten poetischen Hinweis. Und das war fast ein Wunder, denn von alten Webstühlen bis mit Stroh bedeckten Steinhäusern gab es genug, was Geheimnisse zu bergen schien.
Am nächsten Morgen beim Frühstück meinte Alwin, nachdem er lange genug auf seinem Brötchen herumgekaut hatte, „Lisa, ich hab das Gefühl, dass wir so nicht recht weiterkommen!“
„Und, was solen wir deiner Meinung nach tun?“ Lisa war angespannt.
„Nun, vielleicht sollten wir mehr auf die Leute zugehen, die hier leben.“ Sie saßen in einem kleinen Raum mit einem Kamin und Schiffsbildern an den Wänden. Der Kellner kam, um nach den Wünschen zu fragen, doch Lisa schüttelte bloß den Kopf, als wollte sie dadurch auch Alwins Vorschlag ablehnen. „Welche Leute denn? Obwohl die Menschen hier alle sehr nett sind, hab ich noch niemand getroffen, bei dem ich das Gefühl…“ Eine böse Ahnung ließ sie plötzlich stocken. „Alwin, das ist doch nicht dein Ernst?“
Ihr Mann hatte die Visitenkarte aus dem Jackett gezogen und spielte damit.
„Du meinst doch nicht, dass dieser… Mac Future, oder wie er hieß, uns weiterhelfen kann?“
„Hm, wer weiß?“ Alwin sah auf die Karte, die er zwischen seinen Fingern drehte.
„Wahrscheinlich nicht, aber…“ Er sah Lisa an und fuhr dann schmunzelnd fort: „Immerhin war es das erste Mal, dass von Büchern und Filmen die Rede war – erinnerst du dich? Als der Zug in Glenfinnan stehenblieb. Von wegen poetischer Hinweis….“
„Sehr poetisch“, konterte Lisa, wich Alwins Blick aus und starrte auf seine Finger, welche die Visitenkarte umfasst hielten, als wäre sie das indizienführende Beweisstück in einem Mordprozess.
„Alwin, das war doch reiner Zufall!“
„Na, wunderbar, wir kurven hier in den Highlands herum auf der Suche nach irgendeinem Hinweis über den Aufenthaltsort von möglicherweise multifunktionalen Romanfiguren, und wenn ein völlig Fremder etwas über eine berühmte Buchverfimungen erwähnt, ist das bloßer Zufall! Auf was willst du den noch warten? Vielleicht dass der Geist der Alaster Road zu uns kommt, um uns ins Nichtige Reich zu begleiten?“ Plötzlich warf Alwin die Visitenkarte wie nach einem verlorenen Spiel auf den Tisch und winkte dem Kellner. Müdigkeit fuhr in seine Glieder.
Lisa sah ihren Mann lange an, dann sprach sie leise: „Du willst Mac Futuroy wiedersehen…“
Gereizt verdrehte Alwin die Augen. „Hör mal, wir brechen wegen deiner untrüglichen Intuition unseren Urlaub ab, verbringen tagelang in Staus oder Zügen und fahren ziellos im kühlen Schottland herum, wo wir doch eigentlich bei einem Glas Bacardi auf Hawaii sitzen könnten, um uns die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen…“ Er schob die Hände in die Hosentaschen und stierte schweigend auf die Eingangstür des Lokals. Als er den Kellner sah, bedeutete er ihm, die Rechnung zu bringen.
„Sorry, ja, aber….“
„Das ist deine Mission, die wir hier verfolgen!“, unterbrach Alwin Lisa barsch. Nach einer einer kurzen Pause stellte er sachlich fest: „Ja, ich weiß, es wäre dir lieber gewesen, wenn sich Edgar Allan Poe ins Abteil gesetzt und uns in das ‚House of Usher’ eingeladen hätte.“ Als seine Frau lächelte, wich auch aus Alwins Zügen die Spannung. Er sah so lange in Lisas haselnussbraune Augen, bis der Kellner vor ihnen stand, um die Rechnung auszuhändigen. Nachdem Alwin umständlich bezahlt hatte, wie um sich wieder in die Gegenwart einzuloggen, umschloss Lisa seine Hände.
„Vielleicht hast du Recht. Die Tatsache, dass uns ein Schotte anspricht und sogar einlädt, ihn zu besuchen, birgt gewisse…“ Lisa sah aus dem Fenster und beobachtete eine Möwe, die sich kreischend auf einem Fischkutter niederließ. „…. gewisse Möglichkeiten, unserem Ziel näher zu kommen. Zumindest scheint er sich in der Geschichte dieses Landes auszukennen!“
„Und in den Geschichten dieses Landes!“, ergänzte Alwin.
„Ja, so gesehen könnte man das Ganze als literarisches Augenzwinkern bezeichnen...“, gab Lisa schließlich zu.
„Also, wenn du mich fragst, ist es ein Wink mit dem Zaunpfahl!“
Dann schwiegen sie eine Zeit lang, jeder in seine Gedanken versunken.
„Vermisst du ihn?“, fragte Lisa plötzlich, nachdem sie die Möwe auf dem Boot beim Abflug beobachtet hatte. Sie sah plötzlich ernst aus.
„Du meinst Leonhard?“ Alwin lachte auf, dann blickte er zu Boden, ehe er seiner Frau wieder in die Augen sah. Leise, ohne Untertöne, meinte er: „Wie heißt es so schön? Menschen, die man liebt, trägt man immer in seinem Herzen mit sich.“
Lisa strich Alwin über die Schläfen und küsste ihn. „Na meinetwegen, dann statten wir diesem Mac Futuroy eben einen Besuch ab!“ Sie drückte seine Finger fester und ihr Mann erwiderte den Druck. Beide sahen aus dem Fenster.
Eine große Möwe landete auf dem Kutter. Ihre Flügel, zuerst noch ausgebreitet in der Luft schwingend um das Gleichgewicht zu bewahren, legte sie einen über den anderen und wechselte noch ein paar Mal die Stellung des Deckflügels, bis sie ihren Schnabel öffnete und einen Fischer ankreischte, der sein Boot reparierte und wahrscheinlich noch herrlich nach morgendlichem Fang duftete.
„Nein, ich werde ihn wohl auch nie vergessen, ihr beide wart meine Flügel...“
„Und jetzt kreischst du jeden an, der nach Frischfisch riecht!“, grinste Alwin.
„Aber ich bin doch keine Möwe!“, entrüstete sich Lisa und schmollte verschmitzt.
Um zu vermeiden, dass seine Frau ausführlich über die Hauptfigur ihres Romans zu erzählen begänne, meinte Alwin schnell: „Lass uns auf der Karte nachsehen, wo Mac Futuroy wohnt!“
„Wir haben nur seine Telefonnummer!“ gab Lisa etwas spitz zurück.
„Stimmt.“ Alwin befreite seine Hand aus ihrem Griff, zog sein Mobiltelefon aus der Tasche und wollte schon wählen.
„Cherie, lass das, bitte! Es gibt doch noch immer diese kleinen süßen roten Telefonzellen!“
Alwin sah schon wieder so aus, als würde er den Weihnachtsmann am Plafond hängen sehen. Lisa musste ihre Sätze nicht mehr aussprechen, er kannte sie bereits auswendig. ‚Wir wissen gar nicht, was die Strahlungen bewirken. Es gibt viel zu viele Mobilfunkmasten. Weil jeder mitmacht, muss ich nicht wie ein blindes Schaf mitrennen. Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom. Und: Mir geht’s ohne eben besser!’ Also schob er sein Telefon gehorsam zurück in die Tasche und sah seiner Frau tief in die Augen.
„Außerdem braucht Mac Futuroy nicht sofort deine Telefonnummer zu wissen“, fügte sie bissig hinzu.
So standen sie auf, verließen das Hotel und gingen zu einer knallroten Telefonzelle, die sauber geputzt und frisch gestrichen vor dem Postamt des kleinen Ortes stand. Alwin öffnete die Türe. Ein Fauchen war zu hören, sodass er erschrocken zur Seite trat.
„Achtung, Tiger!“ Eine riesengroße gestreifte Katze sprang ins Freie.
„Entschuldigung“, murmelte Alwin, „wusste nicht, dass gerade gesprochen wird!“ Zu Lisa gewandt meinte er: „Jetzt haben wir wahrscheinlich gerade ein tierisch ernstes Gespräch unterbrochen!“
Lisa sah auf die Katze, die unter dem nächsten geparkten Auto verschwand und murmelte, „Alwin, ich glaube, wir müssen wirklich vorsichtig sein!“
„Genau! Darum sollten wir gefährliche öffentliche Anlagen meiden und lieber von meinem Mobiltelefon aus anrufen, aber bitte…“ Er überlegte kurz. „Vielleicht könnte es sich dabei ja auch um einen literarischen Hinweis handeln? Also, dann übernehme ich, wie ausgemacht, die Gesprächsführung mit Mac Futuroy und du übernimmst die mit der Katze, vielleicht versteht sie dich ja!“ Langsam schloss sich die Tür der Zelle.
Lisa ging langsam ein paar Schritte die Straße hinunter und ertappte sich bei dem Gedanken, Alwin möge den kontaktfreudigen Unternehmer gar nicht erreichen. Doch ihre Hoffnung erwies sich als nichtig.
„Schöne Grüße. Mister Futuroy wirkte erfreut, als er von uns hörte und hat uns für heute Nachmittag eingeladen.“
Eine Stunde später verließen sie tatsächlich das Hotel und machten sich zum Fährhafen von Stornoway auf den Weg.
„Von Ullapool mieten wir einen Wagen nach Inverness, Glen Affric liegt südwestlich von der Stadt. Futuroy hat mir den Weg genau beschrieben!“
Die Fahrt nach Inverness verlief ruhig und sie kamen gut voran. Lisa fiel auf, dass sie überhaupt wenig miteinander gesprochen hatten, seit sie in den Highlands angekommen waren. Je weiter sie nach Osten kamen, desto mehr Wolken brauten sich zusammen. Als sie Inverness erreicht hatten, begann es zu regnen.
„Und jetzt?“. Diesmal war es Lisa, die das fragte.
„Wir sollen uns südlich halten, die Hauptstraße Richtung Perth, und Futuroy von unterwegs aus anrufen, er würde uns lotsen!“
„Wahrscheinlich hat er einen Vertrag mit den heimischen Mobilnetzbetreibern!“, ätzte Lisa. Der Regen wurde immer heftiger. Bald krochen sie nur noch wie die immer seltener werdenden anderen Autos dahin.
„Wenn das so weitergeht, wird es Mitternacht, bis wir ankommen!“
„Wenn wir überhaupt ankommen. Was steht auf dem Schild da vorne? Ich glaube wir müssen abbiegen!“ Alwin fuhr fast schon Schrittgeschwindigkeit und betätigte den Blinker. Sie fuhren von der Hauptstraße ab und befanden sich auf einer von hohen Bäumen gesäumten Straße mit Schlaglöchern und Pfützen.
„War das jetzt schon die richtige Abzweigung? Die Straße ist eng, hinter uns fährt niemand, und es kommt uns seit fünf Minuten schon kein Auto mehr entgegen!“
„Futuroy hat den Weg so beschrieben. Aber ich sehe kaum noch etwas!“ Alwin hielt und stellte die Warnblinkanlage an.
„Du erlaubst?“ Er holte sein Telefon aus der Jacketttasche und wählte.
Grauschwarze Wolken jagten über den Himmel, die Bäume verloren ihre Blätter, als wäre es schon Herbst, und dicke Regentropfen trommelten lautstark gegen das Wagendach.
„Danke, Mister Futuroy, das ist sehr zuvorkommend von Ihnen!“ Alwin schob das Telefon wieder ein und legte seinen Arm über Lisas Sitzlehne.
„Er schickt seinen Chauffeur, er wird uns den Weg zeigen!“
„Wahrscheinlich einen einäugigen Quasimodo in schwarzer Pferdekutsche, einem langen Umhang, spitzen Zähnen und einem Sarg im Schlepptau!“, brummte Lisa.
Quasimodos Pferdekutsche war tatsächlich schwarz, hatte jedoch bedeutend mehr Pferdestärken. Der Range Rover war das einzige Auto, das ihnen in der nächsten dreiviertel Stunde begegnen sollte. Alwin startete und folgte dem schweren Geländewagen durch den nicht enden wollenden Regen.