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ОглавлениеKapitel 5 Swinging London
Lisa lugte auf die Wolken. Es war angenehm ruhig, die meisten Fluggäste dösten. Außer den Schritten der Stewardessen hörte sie nur das gleichmäßige Surren der Düsen. Lisa legte den Kopf auf Alwins Schulter und dachte an ihre Mutter, die sie nie wirklich gekannt, und die sie doch in ihrer Wahrheit erlebt hatte, dessen war sie sich sicher. Eine Wahrheit, die einem in leuchtenden Farben geschmückten Tempel glich.
Lisa war bei ihren Großeltern in Kanada aufgewachsen. Ihr Vater, ein verheirateter Engländer, hatte sich nie zu der herumreisenden Zigeunerin bekannt, die ihm eine Tochter geschenkt hatte. Deren Eltern hatten jedoch einen Zirkus. Als ihre Mutter kurz nach ihrer Geburt verschwand, übernahmen Lisas Großeltern ihre Erziehung. Die zwei älteren, liebevollen Menschen hatten ihr eine wunderbare Kindheit geschenkt und sie gelehrt, die Geborgenheit in der Reise, die Heimat in der Fremde zu umarmen.
Sie war in ihrem Leben viel herumgekommen. Dabei hatte sie immer getan, was sie fühlte, tun zu müssen. Oft genug kam sie dadurch in Schwierigkeiten; tat Dinge, die viele Menschen aus der Bahn warfen. Sie riss dort Wände ein, wo sie andere mühsam errichtet hatten, und oft genug ging sie dabei Leuten auf die Nerven. Doch sie konnte nicht anders.
Ihre Ehe mit Alwin war einem Segeltörn auf hoher See vergleichbar, weit weg vom sicheren Hafen. Dann, letztes Jahr, kam Leonhard. Als Alwin ihr mittgeteilt hatte, er hätte sich in einen jüngeren Mann verliebt, schlitterte Lisa zuerst in eine Depression. Es war, als wäre sie in eine seelische Totenstarre verfallen. Doch dann geschah, was sie trotz ihrer unkonventionellen Einstellung nicht für möglich gehalten hätte: Sie verliebte sich in den Liebhaber ihres Mannes. Für Alwin stellte das kein Problem dar, für Leonhard auch nicht, und sie erlebte mit diesen beiden Männern nie geahnte Höhenflüge.
Es war ein paar Tage nachdem Leonhard sich verabschiedet hatte und Lisa eines Abends den Bestseller der Autorin Mary Rocking, „The Return of the Godess“, zu Ende gelesen hatte. Die folgende Nacht träumte sie diesen Traum. Es war ein Traum, in dem sie Farben schmecken und Gerüche tasten konnte. Als sie aufwachte, fühlte sie sich erleichtert. Den ganzen Tag über spürte sie, etwas war anders in ihrem Leben. Am Abend begann sie plötzlich zu schreiben; das erste Mal nach so langer Zeit, nachdem sie als Kind ihre Geschichten verbrannt hatte. Die Worte flossen nur so aus ihrer Feder. Nach drei Monaten gab es neunhundert handgeschriebene Seiten mehr auf diesem Planeten. Sie überarbeitete den Text über die Machenschaften einer Göttin namens „Tochronoth“ und ließ das Manuskript als Buch binden. Es existierte nur ein einziges Exemplar davon. Für sie war dieses kreative Erlebnis eine Offenbarung. Seitdem wusste sie, das Paradies war etwas aus dem sie niemals vertrieben worden war – einem magischen Dreieck ähnlich, das über einem Abgrund kreist.
In London angekommen, nahmen sich Alwin und Lisa erst einmal ein Hotel. Weniger, um sich von dem langen Flug, sondern vielmehr von dem Schock zu erholen, höchstwahrscheinlich in göttlicher Mission unterwegs zu sein. Erst am Morgen des dritten Tages fragte Alwin in der mit Kaminfeuer erwärmten Frühstückshalle: „So, und was jetzt?“ Er sah Lisa an, als würde er noch immer irgendwo über den Wolken schweben.
Seine Frau zuckte mit den Schultern. „Mal sehen...!“, gab sie lächelnd zurück. Sie schob sich eine weitere Weinbeere in den Mund und meinte, „gehen wir doch einfach spazieren!“
Aber sie gingen nicht, denn da wären sie wahrscheinlich noch heute unterwegs. Also mieteten sie sich eine große hässliche Limousine, die für einen Parkplatz drei Pferdekutschenlängen beansprucht und deren Fenster mit kugelsicherem Glas verdunkelt sind. Wie alle anderen steckten sie im Stau. Als die Limousine schließlich an der Statue von Lord Nelson vorbeikroch, sagte Lisa zu Alwin, „Cherie, ich steige kurz aus!“ Anzuhalten brauchte der Fahrer ohnehin nicht. Lisa würde das Gefährt schon bald wieder eingeholt haben. Sie ging zu einem der großen steinernen Löwen und stand länger davor.
„Victoria Street!“, rief sie dem Chauffeur zu, als sie die Limousine bei der Kurve Richtung Piccadilly Circus wieder erreicht hatte.
Alwin legte den Arm um sie. „Was willst du denn in der City, hast du etwa vor, eine Weltwirtschaftskrise heraufzubeschwören?“
Lisa schwieg. Als sie der Limousine endlich entstiegen, setzte Alwin seine Sonnenbrille auf. Zumindest das war heute an London besonders: das Wetter war wunderschön. Sie gingen durch die mit Menschen dichtbevölkerte Straße, als Lisa unvermittelt stehenblieb.
„Es wird uns wahrscheinlich niemand beobachten, aber vielleicht kannst du so tun als würdest du mit mir reden, während ich mich mit dem steinernen Löwen dort oben an der Fassade unterhalte?“
Alwin betrachtete bloß den von Taubendreck beschissenen Löwen auf der Fassade eines im vorletzten Jahrhundert erbauten Herrschaftshauses. „Natürlich, Liebling!“
Ihren Blick nach oben gerichtet begann Lisa vorsichtig: „Guten Tag, Sir Leo, der Vierte hoch 3, können Sie sich noch an mich erinnern?“
Der steinerne Löwe verzog keine Miene, denn er war ja ein steinerner Löwe. Nach dem dritten Gruß jedoch war ein nur für Lisa wahrnehmbares sattes Brummen von der Fassade her zu hören. „Wer stört mich da in meiner Ruhe?“
„Erinnern Sie sich noch an mich? Wir haben uns letzten Frühling kennen gelernt.“, fügte sie fast entschuldigend hinzu. Dann sprach sie schnell weiter. „Genaugenommen war es in einer andere Zeit, und ich hatte auch ... nun, eine etwas andere Form!“
„Pah, und von so verrücktem Gesindel lass ich mich um meinen Mittagsschlaf bringen!“, brüllte der Löwe aufgebracht.
Alwin stand da und verrenkte seine Lippen. Da Lisa den kleinen König der Londoner Steinwüste schon ein bisschen kannte, sprach sie unbeirrt weiter. „Ich bin es, nun, sagen wir mal, ich bin Bela Petty. Es war Mitte der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts und ich war eine Eule!“, versuchte sie der Steinfigur etwas auf die Sprünge zu helfen.
Sir Leo, der Vierte hoch 3, schwieg kurz; dann ließ er helles Brummen hören. „Ach ja, die kleine Eule, die keine war, und verfolgt wurde – von wem eigentlich? Ich kann mich nicht mehr genau erinnern.“
„Das tut doch heute nichts zur Sache, aber Sie haben mir durch Purtschitz, die Spitzmaus, einen sicheren Schlafplatz vermittelt, wofür ich Ihnen heute noch dankbar bin!“
„Bitte, bitte! Werden Sie schon wieder verfolgt? Der Taubenschlag westlich von St. Pauls wäre zu haben! Ein prima Versteck!“ Sir Leo war freundlicher geworden, nachdem seine steinernen Gehirnzellen in Schwung gekommen waren.
„Danke, Sir Leo, der Vierte hoch 3. Heute bin ich ausnahmsweise nicht auf der Flucht. Aber ich hatte das Gefühl, ich sollte Ihnen einen Besuch abstatten. Ihr Artgenosse am Trafalgar Square hat mir nämlich berichtet, dass Jim Hicksley seit vier Wochen plötzlich spurlos verschwunden ist!“
„Jim Hicksley… ist das vielleicht der betrunkene Amerikaner, der die Tauben gefüttert hat?“, unterbrach Alwin Lisa unvermittelt.
Erstaunt sah sie ihren Mann an. „DU kennst Jim Hicksley?“
„Ja, damals, als wir dich gesucht haben…, in deinem Buch. Ich meine…, ich hab es ja auch gelesen, und ich war doch der, der Hicksley nach dir befragt hat...!“, stotterte Alwin. Warum er jetzt so reagierte, konnte er sich selbst nicht erklären. Sicher war, dass er Lisa zu sehr liebte, um sie mit ihrer Intuition alleine zu lassen. Dann lieber mit in ihre Welt gehen! Außerdem hatte sie ihn in diesem Buch so hervorragend beschrieben, schon dafür schuldete er ihr eine Gewisse Loyalität.
Lisa schüttelte besorgt den Kopf. „Der Arme, er muß ganz durcheinander gewesen sein, als es plötzlich ‚plopp’ gemacht hat, und ihr nicht mehr da wart!“ Zu dem steinernen Löwen hochblickend meinte sie nach einem Augenblick: „Ihr Kollege hat gesagt, dass die Bank auf der Jim saß, plötzlich leer war! Haben Sie vielleicht Jim in der Victoria Street gesehen?“
„Hm, nein, hab ich nicht, er kam auch sonst nur selten in dieses Viertel.“
„Sir Leo, haben Sie vielleicht um die Zeit, als Hicksley verschwunden ist, so vor vier Wochen ungefähr, haben SIE da etwas Besonderes gespürt oder bemerkt?“
„Vier Wochen, was sind denn vier Wochen?“, fragte Sir Leo ungehalten. Der Löwe schüttelte entrüstet seine steinerne Mähne oder dachte zumindest, es zu tun.
„Oh, natürlich, entschuldigung, also ungefähr dreißigmal Tag und Nachtwechsel! Oder besser ...“ Lisa sah zum Himmel, gegen Osten, aber natürlich war es noch zu früh. „... wenn einmal der Mond zu und dann wieder abnimmt!“
„Hmmm…“ Der Löwe schwieg.
Eine Gruppe Japaner war hinter Lisa stehen geblieben. Sie begann, den steinernen Löwen zu fotografieren, obwohl er mit seiner Taubenkacke am Kopf überhaupt nicht fotogen aussah. Doch ihm tat die vermehrte Aufmerksamkeit gar nicht schlecht. In etwas besserer Stimmung erwiderte er, „Soso, der Mond… ja, das weiß ich noch! Ungefähr vor einem Monat, wie ihr meint, da habe ich so ein eigenartiges Ziehen verspürt. Ich dachte kurz an ein Erdbeben, es hatte aber nur einen Moment gedauert, dann war es vorbei. Ich weiß es noch genau, weil unter mir eine wunderschöne Siamkatze durch die Menge lief, und ich mir dachte, jetzt auf sie raufzufallen wäre ein schöner Tod für uns beide!“
„Danke, Sir Leo, der Vierte hoch 3! Danke, Sie haben mir sehr weitergeholfen.“
Lisa sah Alwin an und meinte, „Ich weiß jetzt genug!“ Als sie weitergingen, wurden sie von einer kleinen Menschenmenge verfolgt und stiegen schnell in ihre Limousine. Ein glatzköpfiger Mann äffte Lisas Worte nach: „Danke, Sir Leo der Vierte hoch 3… Ich weiß jetzt genug!“ Lisa war froh, dass das kugelsichere und verdunkelte Fensterglas einiges aushielt. Immer wieder sah sie Handflächen an den Seitenscheiben picken und neugierige Gesichter, die erfolglos ins Innere des Wagens spähten.
„Vielleicht sollten wir doch auf Sir Leos Angebot zurückkommen und uns im Taubenschlag von St. Pauls verkriechen!“
„Ach was. Stell dir vor, du bist ein berühmter Schauspieler und alle lieben dich!“, erwiderte Lisa.
Doch Alwin sah ungeduldig auf die Uhr. „Es ist schon spät. Ich kann mir wirklich Schöneres vorstellen als hier im Stau zu stehen!“
„Wir stehen nicht, wir sitzen“, erwiderte Lisa.
„Gut, aber was eigentlich weißt du jetzt?“. Alwin blickte seine Frau von der Seite her an. Doch diese starrte weiter aus dem Fenster. Offenbar hatten ein paar Jugendliche jetzt auch die Straße vor ihnen blockiert, denn das Auto hielt. Bobbys versuchten die Menschentraube aufzulösen.
„Ein bisschen unheimlich… hoffentlich wird niemand verletzt!“, meinte sie besorgt. Es dauerte nicht lange, als Reiter der königlichen Garde auftauchten und der Limousine Geleit gaben.
„Hoffentlich werden wir jetzt nicht zum Buckingham Palace chauffiert!“, stöhnte Alwin, während Lisa sich schon einen Orden für den Verdienst entgegennehmen sah, einen neuen Königinnenbruder sechsten Grades erfunden zu haben. Schließlich konnten die beiden aufatmen. Der Verkehr wurde flüssiger und die Garde verabschiedete sich salutierend. Auf dem Weg zurück zum Hotel kam Alwin auf seine Frage zurück.
Lisa schwieg und blickte wieder hinaus auf die vorübereilenden Passanten.
„He, was ist los mit dir?“
Aber was sollte sie Alwin sagen? Das hatte doch nur sie mitbekommen: Kats Übelkeit, vor ungefähr einem Monat. Er hatte am ganzen Köper ein Ziehen verspürt, ihm war schwindlig geworden, und er hatte sich nicht mehr auf den Beinen halten können. Es hatte aber nur wenige Minuten gedauert.
Schließlich wagte es Lisa, Alwin jetzt davon zu erzählen.
„Na ja, eine kurze Kreislaufgeschichte wahrscheinlich“, murmelte er und begann plötzlich zu schwitzen.
„Aber der steinerne Löwe hatte doch auch von einem Ziehen gesprochen! Und das war ebenfalls vor einem Monat, genau zu der Zeit, als Jim Hicksley von einem Moment auf den anderen verschwunden ist!“
„Gut, und was sagt dir deine Intuition damit? Und vor allem, warum tust du das? Versuchst du noch immer an deinem Roman herumzubasteln?“
„Vielleicht schreibe ich einen neuen Roman!“, antwortete Lisa prompt.
Alwin stöhnte auf.
„Hast übrigens du mir vorgeschlagen! Nein, vergiß es, war ein Scherz. Was mich viel mehr beschäftigt, ist, wie wirklich ist unsere äußere Welt überhaupt? Alwin, dieser Traum und dann der Schreibfluss… Ich hab so etwas nie zuvor erlebt, bin weder Esoterikerin, noch halte ich viel von paranormalen Phänomenen – aber ich möchte verstehen, warum so etwas passiert. Wir alle leben doch so sicher in unserer Alltagswelt, während die moderne Naturwissenschaft schon längst von Parallelwelten und multidimensionalen Persönlichkeiten spricht. Ich meine, ich bin kein Wissenschaftler und habe keine Ahnung, aber ich erlebe zur Zeit täglich, dass es eine Welt in mir gibt, die über etwas Bescheid zu wissen scheint was ich mir nicht im Geringsten, nicht einmal im Traum, vorstellen könnte!“
„Falsch!“, konterte Alwin und fügte beschwichtigend hinzu: „Nun gut, du hast recht, es gibt wahrscheinlich unendlich viele Welten, ineinander geschachtelt oder wie auch immer, und die Wissenschaft weiß wenig darüber – aber was uns beide betrifft, sehe ich das etwas anders!“
Jetzt war es Lisa, die aufstöhnte. Sie wusste, was kommen würde und ließ Alwin daher nicht zu Wort kommen. „Okay, Herr Psychologe, ich bin elternlos aufgewachsen und aus meiner unerfüllten Sehnsucht heraus habe ich einen Mann geheiratet, der mein Vater sein könnte. Nach den erfüllenden erotischen Erlebnissen einer Dreierbeziehung habe ich eine mythische Göttin erfunden, auf die ich eine nie erlebte Mutterliebe projeziere. Das ist doch, was du sagen willst?“
Alwin schwieg.
„Nun, wie auch immer, sind wir nicht alle wie elternlose verwahrloste Kinder, die glauben, die intellegentesten Wesen auf diesem Planeten zu sein? Und sind wir nicht alle dabei, unsere Lebensquellen zu vernichten, indem wir die Natur und andere Lebewesen zerstören? Und was wissen wir wirklich?“
Wie pathetisch Lisa in solchen Momenten werden konnte!
„Nun gut, wahrscheinlich verbringen wir sowieso den Rest des Nachmittags in diesem Auto. Lass uns also ruhig ein bisschen an deinen Beobachtungen weiterrätseln, immerhin ist es unterhaltsam. Also, was hat Jim Hicksley wohl mit Kat Waterrise und dem Steinernen Löwen gemein?“
Lisa schwieg zuerst, konnte es Alwin aber nicht verübeln, dass es schwierig war für ihn, sie zu begreifen. Sie verstand sich ja nicht einmal selbst. Schließlich atmete sie tief ein und meinte leise, „Kat und der steinerne Löwe haben vielleicht zur selben Zeit ein komisches Ziehen verspürt – genau zu der Zeit, als Jim Hicksley verschwunden sein könnte!“
„Ja, und?“
„Alwin, es war eben alles zur selben Zeit!“, wiederholte Lisa.
„Mein Gott, vielleicht hat der große steinerne Löwe am Trafalgar Square Jim gerade nicht bemerkt, weil ihm eine Taube aufs Auge gekackt hat. Daraufhin kam sich Jim so unbeachtet vor, dass er in den nächsten Bus gestiegen ist, sich in Kings Cross in einen Güterwaggon gelegt hat, eingeschlafen ist und jetzt in Liverpool Tauben füttert! Wäre doch auch eine Lösung!“ Alwins Seufzen klang wie das einer kalbenden Seekuh und er fragte sich insgeheim, ob er nicht besser mit Lisa einen Arzt aufsuchen sollte.
„Die Worte auf dem Korken waren eindeutig ein Hilferuf!“, entgegnete sie jedoch vehement.
„Natürlich, auf einem verschimmelten Korken rufen dich Romanfiguren zu Hilfe! Was uns veranlasst, unseren Urlaub abzubrechen, nach London zu fliegen und im Stau zu stecken!“ Resigniert schüttelte er den Kopf.
Lisa schwieg. Erst nachdem Alwin lange genug durch die Frontscheiben gestarrt hatte, fuhr er gelassener fort: „So sehr ich deine atemberaubende Intuition schätze, aber im Moment sehe ich nur, dass die Ampel rot ist, wir bei grün zwei Meter weiter kommen, wieder anhalten, und das seit einer halben Stunde!“
„Gefangen im Nichtigen Reich. Ob das symbolisch gemeint ist oder wirklich?“, murmelte Lisa leise.
„Gefangen im Straßenverkehr, reicht doch“, gab Alwin entnervt zur Antwort. Er versuchte zu lächeln und sah wieder aus dem Fenster. Lisa hasste es, wenn er so lächelte und sich dabei von ihr abwandte. Sie fühlte sich plötzlich sehr verlassen.
„Halten Sie!“, zischte sie den Fahrer an, riss die Türe auf und sprang aus dem Auto. Alwin blickte ihr mit offenem Mund nach, er wollte noch etwas sagen, kam aber nicht mehr dazu. Im Nu war Lisas Gestalt im Großstadtgewimmel untergetaucht.
Als sie spät nachts zurück ins Hotel kam, lag Alwin angezogen auf dem Bett und starrte zur Decke. Sie setzte sich zu ihm.
„Glaubst du, dass es eine Form von zirkularer Bewegung geben könnte, die Romanfiguren aus einem Buch zieht? Ich meine, ihre geistige Essenz…, ich hab da so eine Ahnung.“
„Hmm, ist nicht ganz mein Fachbereich, aber wir können ja mal überlegen“, murmelte er, als plötzlich der Ruf der Internationalen ertönte: „Völker hört die Signale, auf zum letzten Gefecht…“ Alwin fummelte sein Mobiltelefon aus dem Jackett. Doch ehe er den Anruf entgegennehmen konnte, nahm ihm Lisa das Telefon aus der Hand.
„Ja, hallo? Lerry?! Jaa…, danke, äh, uns geht es gut…!“
Alwin erbleichte.
„Ja…, nein…, was? Ja, bei uns ist es schon finster. Nun sag, wie geht es denn euch? Alles in Ordnung? Also…, was ist los?“ Lisas Augenbrauen zuckten. „Was für eine Grenze…? Die Grenze des Nichtigen Reiches, das sich irgendwo innerhalb der Atmosphäre, aber über den Wolken Schottlands...Was? Der Sumpf der Banalen Belanglosigkeiten, die Mauer der tausend unhinterfragten Glaubenssätze... Wessen Reich? Aha, des nie gesehenen immer gegenwärtigen Monsters unendlicher Gier“ Fassungslos blickte Lisa zu Alwin.
„Des nie gesehenen immer gegenwärtigen Monsters unendlicher Gier?“, wiederholte er und fügte ausdruckslos hinzu, „Nun, vielleicht sollten wir demnächst mal bei ‚Harrods’ vorbeischauen!“ Auf seinem Gesicht schienen sich die Falten ihre Plätze streitig zu machen. Er wusste nicht, ob er lachen oder durchdrehen sollte! Schließlich riss er Lisa das Telefon aus der Hand. Auf dem Display stand „Unbekannter Teilnehmer“.
„Hallo, wer spricht? Verdammt noch mal!“ Nachdem er kurz das Telefon ans Ohr gepresst hatte, ließ er seine Hand sinken und starrte Lisa an. „Willst du mich verrückt machen? Warst du eifersüchtig wegen Leonhard, hast du einen Geliebten, den du mir verschweigst? Wenn ich durchdrehe, gibt’s nichts zum Erben, verdammt noch mal, was machst du?“ Voller Verzweifelung blickte er auf seine Frau.
„Alwin, ich… ich mache nichts. Ich weiß auch nicht, wer angerufen hat. Der Anrufer meldete sich mit Lerry und… seine Stimme, naja, die Entfernung… Ich sah ihn vor mir, als ich telefonierte… Es war… so normal für mich. Als dein Telefon klingelte, wusste ich, es hätte etwas mit meiner Geschichte zu tun. Alwin, ich liebe dich. Ich bin weder eifersüchtig auf Leonhard, noch habe ich einen geheimen Geliebten und am wenigsten will ich, dass du durchdrehst. Schon gar nicht jetzt!“ Lisa wurde immer lauter und schrie die letzten Worte fast.
Ihr Mann atmete lange aus und ließ sein Gegenüber nicht aus den Augen. „Kommt vermutlich vom vielen Skypen!“, entgegnete er dann trocken. „Wahrscheinlich hat irgendein Irrer angerufen, und als du auf ihn eingegangen bist, hat er dir irgendeine Geschichte erzäht…!“ Alwin versuchte sich zu beruhigen. Nur nicht zuviel nachdenken!
Beide schwiegen, bis Lisas Blick auf das Mobiltelefon in Alwins Hand fiel. Dann meinte sie leise, „Seit wann kleben denn Fluglinien Werbevignetten auf Handys?“ Nun blickte auch Alwin erstaunt auf den runden Aufkleber mit einer Flughafenlegende an der Rückseite des Telefons.
Sie sahen sich beide an.
„Was denkst du?“
„Hm…, weißt du noch, wie unsere Fluglinie hieß?“
„Chickenwings?... Nein, im Ernst, kann mich nicht mehr erinnern. Aber warte, hier steht in kleiner Schrift ein Name.“ Lisa hielt das Handy unter den Lampenschirm und versuchte angestrengt die Buchstaben zu entziffern. Als sie wieder ihren Mann anblickte, war auch sie bleich. „Da steht ‚Tochronoth wings’… “ Sie bestellte beim Hotelservice eine Lupe, um sich zu vergewissern, dass sie Recht hatte.
„Komischer Zufall“, meinte Alwin leise. Sein Gesicht erschien Lisa irgendwie seltsam wächsern.
„Könnte jemand durch diese Vignette deine Telefonnumer herrausfinden?“, fragte Lisa kaum hörbar.
Alwin lachte hell auf und all die Spannung wich aus seinem Gesicht. „Vielleicht solltest du doch einen Roman schreiben! Einen Thriller. Darüber, dass eine Großmacht, am besten die USA, einen amerikanischen Staatsbürger verfolgt, weil er die Überwachungs-und Spionagepraktiken britischer und amerikanischer Geheimdienste aufdeckt… Lisa…!“
Anschließend surften sie im Internet. Eine Fluglinie namens „Tochronoth wings“ schien freilich nicht zu existieren. Allerdings gab es einige Artikel zu dem Thema „Flugvinetten“. Es wurde sogar in der „Times“ erwähnt, dass das Aufkleben von Vignetten zur Zeit an den Kontrollschaltern der Flughäfen zu zahlreichen Beschwerden führte, da so der Flugverkehr erheblich verzögert würde. Angeblich wollte das Sicherheitspersonal damit nur eine automatische Zählung der technischen Geräte an Bord vornehmen, da diese durch die Vignette automatisch registriert würden. Sogar eine Bürgerinitiative hatte sich gegründet, die gegen diese Art Überwachung protestierte.
Alwin und Lisa wurden immer nachdenklicher. Bei einem Glas Whisky, das keinem der beiden schmeckte, saßen sie in ihrem Hotelzimmer und überlegten.
„Was hat Lerry…, ich meine, dieser ‚wer auch immer’ zu dir gesagt?“, brach Lisa schließlich das Schweigen, während sie mit ihren Fingernägel die Vignette von Alwins Handy kratzte.
„Er behauptete, er hieße Lerry Miller. Dann entschuldigte er sich für die offensichtliche Störung und legte auf. Was hälst du davon?“
Lisa dachte lange nach. Gefasst entgegnete sie, „Alwin, vielleicht denkst du jetzt, ich wäre total übergeschnappt… Aber tun wir mal so, als könntest du mit meinen Romanfiguren telefonieren. Tun wir so, als wären wir selbst in meinem Buch gewesen und als wären all die Figuren auf irgendeiner Ebene real…“
Alwin vergrub sein Gesicht in den Händen. „Lisa…, bitte!“
„Schau mal, bei diesem Text… habe ich uns in ein Buch geschrieben. Es gibt uns also als Romanfiguren und als Menschen. Was ist, wenn Lerry und all die anderen Figuren nicht nur Romanfiguren sind?! Vielleicht leben auch sie in anderen Realitäten, genauso wie wir Menschen auf mehreren Ebenen zu Hause sind. Manche kennen wir, manche sind uns aber gänzlich fremd! Übrigens, kannst du dich an eine Gans erinnern, der du letztes Jahr im Buch begegnet bist?“ Den letzten Satz fügte sie wie beiläufig hinzu.
Ob das beinahe tierische Aufseufzen ihres Mannes eine positive Anwort versprach?
„Nein, die muss ein Außenposten gewesen sein. Das Nichtige Reich und seine Grenze haben einen besonderen Esprit, nicht?“, meinte er todernst.
In sich gekehrt sinnierte Lisa. „Gefangen im Nichtigen Reich!“, stellte sie gewichtig fest.
Alwin nickte, seine Lippen befanden sich auf Talfahrt. Was anderes konnte er jetzt noch tun außer mitzuspielen? Irgendwie schien es hoffnungslos, Lisa von ihrer fixen Idee abzubringen. Und nach zwei weiteren Schlücken Whisky war es ihm fast egal. „Also gut, irgendwo über den Wolken Schottlands irren ein paar Romanfiguren herum. Vielleicht sollten wir am besten alle Bodenkontrollstationen in der Umgebung verständigen, damit Jim Hicksley und Co. nicht den internationalen Flugverkehr lahm legen! Aber wahrscheinlich gibt es dort oben schon Landemöglichkeiten für Flugzeuge der ‚Tochronoth wings’. Fahren wir doch morgen zum Flughafen und bestellen einen Flug ins Nichtige Reich. Ich fände es äußerst spannend zu erfahren, wo wir dann landen!“
„Danke für deine Ironie! Du tust immer so, als wäre das ganze Schlamassel hier bloß mir zuzuschreiben. Du vergisst, ich habe dieses Buch wie in Trance geschrieben! Was ist, wenn es wirklich so etwas wie eine göttliche Macht oder ein Wesen gibt, dem es nicht egal ist, was hier auf dem Planeten passiert? Was, wenn von ‚oben’ jemand eingreift, um den Menschen etwas zu vermitteln? Okay, es war nur Fantasy. Und ich behaupte ja nicht Sri Aurobindo zu sein. Aber das Symbol eines ‚Göttervogels’ gibt es schon lange in unterschiedlichen Kulturen. Vielleicht gibt es ihn wirklich…“
„Lisa, nneeein!“
„Und dieses Wesen hatte einen Träumer wie mich gebraucht, um sich zu vermitteln! Nun gut, dass es sein Ei– metaphorisch gesprochen– in einen Bestseller legte, versteh’ ich auch nicht ganz. Aber vielleicht hatte es einen für seinen göttlichen Plan günstigen Ort gesucht, an dem es in Ruhe reifen konnte!“Alwin war wieder klar und verlor seine vorübergehende Gelassenheit. Wie zugänglich war Lisa eigentlich noch für logische Erklärungsversuche? „Wem ist es denn so wichtig, die ohnehin kaum wahrgenommenen Figuren eines unveröffentlichten Buches in ein ‚Nichtiges Reich’ zu versetzen? Ergibt das irgendeinen Sinn? In deinem Buch wären sie sowieso unentdeckt geblieben!“, fauchte er.
„Das verstehe ich auch nicht ganz…“, gab Lisa versöhnlich zu. Vielleicht will sie irgendjemand vernichten, weil ihr Vorkommen selbst in einem unveröffentlichten Buch zu beunruhigend ist. Das war vielleicht nicht einmal für dieses geflügelte Wesen vorauszusehen…“
„Ich seh’ auch gleich etwas nicht mehr voraus… “, meinte er nun ebenfalls sanfter. Mit Logik kam er ohnehin nicht mehr weiter. Aber in welche Wahnidee sich seine Frau auch immer verloren zu haben schien, er wollte sie nicht alleine lassen.
Als sich die beiden küssten, knipste er die Nachttischlampe aus.
Und unbemerkt zog Geier Willi noch immer seine Kreise am dunklen Himmel über London…