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ОглавлениеKapitel 1 Ein Strand
Sommer 2004
Schmal war der Pfad, der Boden fühlte sich warm an unter ihren Füßen, den einzigen Spuren im Sand. Hibiskusblätter streiften Lisas Schultern, sie stapfte ein paar Meter die Anhöhe hinauf. Vor ihr lag eine Bucht, ganz anders als die Strände zu Hause in New Jersey. Immer schon hatte Lisa geheime Orte gesucht, in der Natur genauso wie in ihrem Inneren. Doch während sie die äußeren Orte von den Zwängen der lärmenden Städte abschirmten, verliehen ihr die inneren manchmal Flügel. Dieser Ort hier schien beides zu versprechen; eine versteckte Bucht, durch Dünen von den anderen Stränden getrennt. Niemand könnte sie hier sehen.
Warmer Wind durchwühlte Lisas Haar, blähte ihr Gewand auf wie eine sanfte Hand. Sie schmunzelte und ging zum Meer hinab. Ob Alwin schon vom Einkauf aus dem Dorf zurückgekommen war? Sie wünschte, er möge sich Zeit lassen, sich keine Sorgen um sie machen. Er machte sich so viele Sorgen. Vor allem seit sie das Buch geschrieben hatte. Sie sah zum Horizont und lauschte der Brandung. Als sie tief einatmete, wehte schwarzes Haar durch ihr Bewusstsein, dann ein lächelndes Kindergesicht: Maracella, das Südseemädchen! Ihre allererste Titelheldin. Lisa tat es heute noch leid, dass sie ihre eigenen Geschichten damals als Achtjährige verbrannt hatte. Die Erinnerung daran war wie ein Stich in die Seele.
Doch Maracella war trotzdem hier. Gegenwärtig, in Lisas Geist atmend. Behutsam legte Lisa die Arme um ihre Schultern und sah aufs Meer hinaus. Schließlich setzte sie sich langsam. Maracellas Kinderblick, ihre großen Augen, sahen Lisa an, so erwartungsvoll und forschend. Es war, als wäre Maracella hier neben ihr und musterte sie unverhohlen. Solches Haar in den Farbschattierungen von Eierschalen hatte Maracella wohl noch nie gesehen. Aber es gab viel, was ihre kleine Titelheldin noch nie gesehen hatte, obwohl sie alles andere als jung war. Lisa dachte noch darüber nach, warum diese Figur einer ihrer Kindergeschichten jetzt so präsent war, als sie eine helle Mädchenstimme fragen hörte, „Wer kennt dein Buch?“ Die Frage war so klar, dass Lisa sich umsah, doch nichts als Dünen, Sand und Meer waren um sie. Maracella lächelte sie an.
„Alwin!“, antwortete Lisa der Brandung nach einer Weile. Maracella hatte verstanden und sah ebenfalls zum Meer hinaus. Da saß Lisa nun, ihr Lächeln verband sie mit einem verlorenen Glück aus Kindertagen.
Weit draußen auf dem Ozean fuhren große Schiffe vorbei – aber was war das?
Lisa beobachtete, wie Maracella aufsprang und in die sich brechenden Wellen hüpfte. Als Lisa ebenfalls etwas in der Gischt auftauchen sah, ließ sie sich plötzlich rücklings in den Sand fallen. Mit einem Auge lugte sie auf Maracella. Als hielte das Mädchen einen sakralen Gegenstand in ihren Händen, musterte die Kleine das Treibgut.
„Da steht etwas geschrieben, unter dem Seegras und den Muscheln…!“, flüsterte Maracella geheimnisvoll.
„Ach ja, ein verschimmeltes Holzteil mit irgendwelchen Hyroglyphen, heißt vermutlich ‚Oliventransport’ auf Hawaiianisch, chinesisch oder makrobiotisch!“, sagte Lisa laut und schloss die Augen. Warum sagte sie das so laut und schnell? Doch wohl nicht, um mit der Vision ihrer kleinen Titelheldin zu kommunizieren? Lisa hätte sich am liebsten im warmen Sand vergraben.
Das letzte Jahr war so vielseitig gewesen. Und dann hatte sie diesen Traum. Ein Traum, der sie veranlasste wieder zu schreiben. Nach all den Jahren! Und sie schrieb und schrieb und schrieb… dieses Buch. Nicht für sich selbst oder für Alwin, das war von Anfang an klar. Und es würde sich niemals veröffentlichen lassen. Das war auch von Anfang klar. Aber sie musste es schreiben, sie hatte keine Wahl.
Warum spürte Lisa plötzlich ihr Herz heftig klopfen?
Die Antwort war wie ein sanfter Schlag. Gut, dass Lisa schon im Sand lag.
Sie existierten! Woher sie das wusste, konnte sie nicht sagen. Lisa sah sie nicht, so wie sie Maracella neben sich am Strand sah. Aber sie fühlte, dass sie lebendig waren.
Schweigend legte Maracella ihren Fund neben Lisa in den Sand.
„Und? Was steht da geschrieben?!“, fragte das Südseemädchen schließlich vorsichtig.
Lisa setzte sich auf und sah auf das Treibgut, das sie gut mit beiden Händen umfassen konnte. Salzig schmeckte der Geruch. Für einen kurzen Moment hatte Lisa den Eindruck, sie selbst wäre wie eine der Muscheln, die an dem Gegenstand hafteten: herausgerissen aus ihrem Element und zuhause in der Tiefe des Meeres.
„Ein Korken, er muss schon länger im Wasser geschwommen sein. Wahrscheinlich ist es ein Stück von einem Lebensmittelfass, irgendeine Werbung oder sonstige Beschriftung! Schwer zu lesen, man müsste das Seegras und die Muscheln ablösen...“, sagte Lisa leise zu sich selbst.
„Das ist kein Teil von einem Fass!“, drängte sich Maracellas Stimme in Lisas Gedanken.
Lisa seufzte und schüttelte den Kopf. Warum war sie nur so naiv und ließ sich von ihrer kleinen Titelheldin dazu verleiten, auf ein Stück Treibgut zu starren? Sie wusste die Antwort einen Augenblick später. Weil das Treibgut nicht unbedeutend war, und eine andere Titelheldin fiel ihr ein. Bela Petty.
„Ach, das ist doch bedeutungslos!“ Oh Gott, jetzt sprach Lisa schon zu sich selbst. Ob sie sich überzeugen konnte?
Das Mädchen streckte den Oberkörper. Ihre dunklen Augen blitzten angriffslustig.
„Aber das könnte doch auch eine Botschaft sein...!“ Mit einem lauten Stöhnen ließ sich Lisa wieder in den Sand fallen.
Weiter südlich ging Alwin langsam über den Strand. Sanfter Wellenschaum umspülte seine bloßen Füße. Die Hosen hochgekrempelt und das Hemd aufgeknöpft, genoss er die Einsamkeit dieses Nachmittags, während der Meereswind mit seinen grauen Haaren spielte. Manchmal huschte ein Lächeln über Alwins Gesicht, doch es versteckte sich schnell wieder in einer tiefen Falte zwischen den Augenbrauen. Soeben hatte er sich vorgenommen, nach seiner Pensionierung Schauspielunterricht zu nehmen. Ob er dieses neue Hobby Leonhard zu verdanken hatte? Aber bald wieder nagten seine Gedanken als beständige Sorge um Lisa an seiner Stimmung. Das kannte er schon seit zwanzig Jahren, doch seit seine Frau dieses Buch geschrieben hatte, war etwas an ihr, das ihm völlig neu war. Es machte ihm Angst. Am meisten Angst machte ihm, dass er gar nicht sagen konnte, was sich an Lisa verändert hatte. Irgendetwas war passiert. Ob es mit Leonhard zu tun hatte? War es zuviel für Lisa gewesen? Aber sie war so glücklich gewesen wie selten zuvor im Leben.
Auch Alwin sah die großen Schiffe. Ob er er Lisa jetzt suchen sollte, fragte er sich plötzlich. Sie war doch ganz alleine unterwegs. Er sah die Dünen hinauf, dann schüttelte er den Kopf. Lisa war doch kein Küken mehr!
Nein, Lisa war kein Küken und auch nicht ganz allein. Nachdem Maracella sich verabschiedet hatte, sah sie weit enfernt am Strand zwei Jungs gehen, beide 16 Jahre alt. Interessiert beobachtete sie die beiden mit geschlossenen Augen. Sie wanderten durch ihren Geist, als wäre dieser ein Faltenwurf mit unzähligen Verstecken, in denen all ihre Figuren gegenwärtig und lebendig Platz fänden. Jetzt kamen die beiden daraus hervor. Lisa kannte die Jungs aus ihrem unveröffentlichten Buch. Aber wo waren denn die anderen?
Der eine Junge hieß Lerry Miller und sah fast aus wie der fünfte ‚Beatle’, der andere, Kat Waterrise, hatte einen Krauskopf. Unter seiner Achsel klemmte meistens ein Surfbrett. Als Lisa damals mitten im Schreiben ihres Romans war, war Kat plötzlich aufgetaucht, aus dem Nichts. Sie begann von ihm zu erzählen, ohne zu wissen, was er eigentlich mit ihrer Geschichte zu tun hätte. Aber es passierten öfters eigenartige Sachen, als sie an diesem Buch schrieb. Was genau geschah, wenn ein Stern implodierte, wollte sie einmal wissen. Daraufhin klingelte das Telefon und ein Bekannter erzählte, er hätte begonnen, Astrophysik zu studieren. Oft wunderte sie sich über ihre eigenen Sätze, denn das Spannende an ihrem Buch war, dass sie selbst überhaupt keine Ahnung hatte, wohin die Geschichte führen würde. Doch zu ihrer großen Überraschung verwoben sich die Erzählstränge wie von Zauberhand geführt.
Schon standen die beiden Jungs ganz in ihrer Nähe. Neugierig beobachtete sie Lisa unter ihrem breitkrempigen Sonnenhut.
„... tja, und ich bin riesig froh, die Ferien nicht in England zu verbringen!“ Lerry blickte zu Boden, dann war es wieder Zeit, seine Haare über der Stirn glatt zu streifen. Er unterhielt sich mit Kat, ohne Lisa zu beachten. „Außerdem werde ich mir diesen Sommer von niemandem etwas vorschreiben lassen!“, meinte er bestimmt.
Lisa schmunzelte, setzte sich auf und beschloss, zur Hütte zurück zu gehen.