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Оглавление10 Kapitel Die Grenze schreitet voran
Eulalia und Lord Waxmore bildeten die Vorhut. Die Amerikanerin war wieder zu Kräften gekommen, überzeugt davon, doch noch nicht im Jenseits gelandet zu sein. Obwohl die Nebel an Dichte nichts zu wünschen übrig ließen, kam die Gruppe gut vorwärts. Hinter dem Kapuzenmann und den beiden Jugendlichen bildete Jim, der die amerikanische Nationalhymne in allen Vierteltonlagen sang, zusammen mit dem blinden Vampir die Nachhut. „Wann gehen denn endlich seine Alkoholreserven zu Ende?“, jammerte Pat.
„Leider nie, solange wir im Nichtigen Reich sind!“, antwortete Elester, während er mit den Metallspitzen gegen einen herabhängenden Ast schlug.
„Hier bleibt alles so, wie es war, als wir am ersten Tag in diese Welt geschleudert wurden: es gibt keine wesentliche Veränderung. Habt ihr euch nicht gefragt, warum eure Kleider nicht schmutzig und zerfetzt werden?“
„Aber essen und trinken müssen wir!“, stellte Penny Lo fest.
„Ja, das schon, aber sonst bleibt immer alles gleich!“
Irgendwann würde man hier wahrscheinlich vor Langeweile sterben!“, sinnierte das Mädchen weiter, während Draculetta tief schlafend über ihrem Schulterblatt baumelte, die Krallen im Mantel festgehakt.
„Was passiert mit den Tieren, die wir essen, und dem Wasser, das wir trinken, wenn hier alles gleich bleibt?“, wollte Pat wissen, der gerne länger über ein Problem nachdachte.
„Sie reproduzieren sich, als wäre nichts gewesen“, gab Elester zur Antwort.
„Das heißt, es gibt hier auch keinen Tod?“, wandte Penny Lo ein. Eulalia hielt mitten in ihren Ausführungen inne. Lord Waxmore musste leider darauf verzichten, schnell etwas über den Vorteil von Flachbildschirmen gegenüber herkömmlichen Fernsehgeräten zu erfahren.
„Wir können hier also nicht sterben…?“, fragte die einzig normale Erwachsene nach und fügte schnell hinzu, „aber wir lösen uns doch auf, wenn wir mehr als sieben Stunden an einem Ort verweilen. Das ist doch unlogisch!“
„Nun, auflösen schon, aber dann würden wir als Partikel herumschwirren. Stelle ich mir nicht gerade lustig vor! Tatsache ist, dass wir in dieser Welt keine Verbindung zu den Menschen und zu anderen Wesen haben. Niemand weiß etwas von uns, wir haben keinen Kontakt zur Erde, auf der Pflanzen wachsen und verblühen, hier ist alles so unveränderlich wie in einer Konservendose! In gewisser Hinsicht können wir also nicht sterben. Aber, wie gesagt, leben können wir hier auch nicht! Und irgendwann würden wir in Nichtigkeit vergehen.“
„Aber, Mister Claw...!“, nuschelte Merlot, „dann könnte ich ja alle aussaugen, und sie würden sich wieder regenerieren. Das würde mir die ewige Jagd in der Nacht ersparen!“
„Sie vergessen, lieber Vampir, es würde uns Schmerz bereiten, und Schmerz ist hier nur zu gut zu spüren, da diese Welt in ihrer Eintönigkeit selbst schon fast als schmerzlich bezeichnet werden kann!“, entgegnete Lord Waxmore und war froh, einen Moment lang eine andere Stimme als die von Eulalia zu hören. Die Sicht betrug nur noch ein paar Meter, die Nebel schienen sie einzukreisen.
„Ach, ich finde es hier gar nicht so unbequem, außer dass wir keine Unterkunft haben. Ich meine, so ein kleines grünes Waldhäuschen vielleicht, das sich nicht sofort auflöst, mit einem netten Garten und einem sehr süßen Gartenzwerg, ich liebe Gartenzwerge. Gut, das Klima ist nicht so besonders und ich vermisse ‚Das Liebesnest von Charlie und Ann’ am Dienstag Nachmittag um halb drei, aber man könnte doch… Aua!!“ Eulalia hatte sich während ihren Mitteilungen zu Elester und den Jugendlichen umgedreht. Da auch Lord Waxmore nicht geradeaus, sondern auf den Moosboden geschaut hatte, hatte die Vorhut den Metallmasten nicht gesehen, gegen den Eulalia soeben gerannt war.
„Die Grenze…, sie kommt näher!“, flüsterte Elester beinahe andächtig. Alle starrten den Pfosten hoch, der vom Waldboden aufragte.
„Ahhhh! Wie nah ist denn diese Grenze?“, fragte Eulalia entsetzt. Grenzen waren für sie seit jeher etwas Unbequemes mit all dem Fremden, das dahinter lauern mochte.
„Das weiß nur die Grenze selbst. Sie entscheidet, wann sie sich ganz offenbart. Aber eines ist gewiss: wir müssen achtsam sein!“
„Achtsam, wieso?“, fragte Pat unruhig.
„Je näher die Grenze kommt, desto näher rückt der Sumpf der Banalen Belanglosigkeiten. Das ist die Grenze des Nichtigen Reiches auf unserer Seite. Wenn wir nicht genau überlegen, was wir sagen, dann reden wir, je näher wir dem Sumpf kommen, nur noch Stumpfsinn!“ Der Kapuzenmann fixierte Eulalia, als wollte er sie aufspießen. Einen Moment lang schwiegen alle.
„Und was ist das hier? Ein Grenzpfosten?“ Penny Lo deutete auf den Masten.
Elester zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht…“
Hinter den Sprechenden schnüffelte jemand. Die einzig normale Erwachsene, Lord Waxmore, Elester, die Jugendlichen sowie Sucky drehten sich jäh um.
Der Vampir hatte seine Nase in die Luft gestreckt, saugte die Waldluft ein und witterte. „Irgendetwas bewegt sich auf uns zu, ich rieche es! Etwas Lebendiges…, etwas, das Blut in seinem Köper hat!“, flüsterte Merlot, während Fischa mit großen Augen in den Dunsthimmel über ihnen starrte.
Plötzlich stach ein kleiner Vogel aus der Nebeldecke und landete. Merlot wollte sich schon auf ihn stürzen, doch plötzlich stockte er.
„Posi!“, rief Penny Lo.
„Mist!”, fluchte der Vampir.
Ein völlig atemloser Spatz saß mit hängenden Flügeln im weichen Moos. „Hab’ ich euch endlich erreicht!“, keuchte er.
Penny Lo kniete sich zu Posi und hob ihn behutsam auf. Die Brust des kleinen Vogels hob und senkte sich hastig. Es dauerte eine Weile, bis er sich in der Wärme von Penny Los Händen etwas erholte. Jeder bombardierte ihn natürlich sofort mit Fragen: wie es der restlichen Gruppe gehe und so fort.
„Chaos... komplettes Chaos!“, piepste Posi, nach Atem ringend. „Die Gruppe gibt es nicht mehr, sie hat sich aufgelöst…“
„Was? Heißt das, es sind alle verschwunden?“, fragte Pat erschrocken.
„Nein, nein, die einzelnen gibt es schon noch, aber sie gehen nicht mehr gemeinsam. Professor Draciterius und Dr. Sanguinis Anatomis haben sich nur noch gezankt! Wir haben den Ort nicht mehr gefunden an dem wir hier im Nichtigen Reich gelandet sind, und bald hat sich jeder mit jedem gestritten. Jetzt irren die meisten alleine durch die Wälder!“
„Oh Gott, das heißt, sie sind verloren! Da sie wohl kaum die Grenze erreichen wollen, werden sie ewig so wandern. Wie entsetzlich!“
Elester blickte auf. Diese Kombinationsgabe in der Nähe des Sumpfes der Banalen Belanglosigkeiten hatte er von Eulalia nicht erwartet. Aber offensichtlich handelte es sich hierbei um eine paradoxe Reaktion.
„Und Bel Raven?“, fragte Penny Lo den kleinen Spatz.
„Ach, Bel, die kennt ja die Geschichte. Sie hat einfach ein Lied gesungen, gelächelt und ist ihres Wegs gegangen, nachdem sie mir den Tipp gegeben hat, euch zu suchen!“ Der Spatz lugte nun keck unter Penny Los Handflächen hervor.
„Und jetzt willst du mit uns zur Grenze?“, fragte Elester ernst.
„Nun ja, ich könnte die Grenze überfliegen und jemandem eine Botschaft überbringen! Ich bin ja ein BMS-Spatz, ein: Bird-Message-Service-Spatz!“
„ Hmm… das wusste ich allerdings nicht. Wo ist denn Geier Willy?“, fragte Elester dann unvermittelt.
„Ach, der ist sicher schon drüben. Wir Vögel können ja die Grenze überfliegen. Er meinte, er hätte einen Auftrag, wusste aber nicht welchen. Flog einfach so los!“
„Das heißt, der Geier hat vielleicht schon den Sumpf, die Mauer… Aber vielleicht hat ihn ja auch das Monster verschluckt!“, rief Pat.
„Aber woher! Wir Tiere sind unempfindlich gegenüber der unendlichen Gier. So etwas kennen nur die Menschen!“ Posi zuckte entschuldigend mit den Flügeln.
„Lasst uns doch erst einmal rasten!“, schlug Penny Lo vor, und alle setzten sich auf den weichen Boden. Doch schon bald überkam sie eine seltsame Unruhe.
„Ich weiß nicht warum, aber ich fühle mich hier nicht wohl!“ Pat starrte den Masten empor.
„Vielleicht sollten wir lieber doch wieder unserer Füße in die Hände nehmen und unseren Schritten Folge leisten!“ Lord Waxmore strich seine glatten Haare im Mittelscheitel zurecht, während er sich erhob. Auch die anderen waren bereit weiterzugehen, da alle ein seltsames Gefühl beschlich. Keiner konnte genau sagen wieso, doch es war ihnen unwohl an diesem Ort. Also brachen sie auf.
Nach längerem Schweigen riss Elester die anderen aus ihren Gedanken: „Eines ist klar: Ohne Hilfe von außen können wir nicht über die Grenze!“Niemand widersprach, Penny Lo und Pat Swift wirkten konfus.
„Sag, warum weißt du immer alles so genau? Wir hingegen haben nie einen blassen Schimmer!“
„Ich habe mich mit Bel Raven unterhalten, bevor sich die Gruppe getrennt hat“, gab Elester zu.
„Und dann hat sie dir alles schon im vorhinein erzählt?“
„Nein, sie hat gesagt, dass ich alles, was nötig sei, im gegebenen Moment erfahren würde! Und so ist es auch. Ich meine, ich hoffe, sie hat die Wahrheit gesagt…“, fügte der Kapuzenmann hinzu und machte kurz einen etwas erschrockenen Eindruck.
„Tja, das hoffen wir alle...!“, meinte Penny Lo und blickte verzweifelt auf Pat.
So wanderten sie und wanderten und wanderten…
„Lord Waxmore, es ist wirklich eine originelle Idee, Radieschenpüree mit Ananastortenecken zu spicken, diese dann mit einer durchsichtigen Hochglanzfolie leicht zu umwickeln, sodass sich daraus, mit dem richtigen Farbstoff blanchiert und mit Vitaminen angereichert, eine Masse Nahrungsmittelergänzungssubstanz ergibt, um diese danach zu kleinen Pastillen zu formen und sich so das aufwändige Kochen zu ersparen, schließlich zu tranchieren und Jamie Oliver als Hengsthuffrikadee in Radieschenpüree mit Ananaseckentorten zu servieren!“
„Anhalten!“, brüllte Elester plötzlich wie am Spieß.
„Oh, mein Gott, was ist das?“ Eulalia und Lord Waxmore sahen vom Boden auf und was sie vor sich sahen war – nichts. Dort, wo Waldboden zu vermuten gewesen wäre, stieg dichter Nebel auf. Es roch nach fauligem Schlamm.
„Aber zuerst war da doch Wald. Ich konnte noch Bäume sehen“, stammelte Eulalia.
„Eine Sinnestäuschung: Das Gehirn reproduziert Eindrücke, die es gespeichert hat, weil es erfahrungsgemäß plötzlich Unerwartetes nicht so schnell einordnen kann“, überlegte Pat laut.
„Du olle Tosse, kriegst auch überhaupt nichts mit!“
Wütend wendete sich Eulalia dem Kapuzenmann zu. „Wer war das, Sie etwa?!“
Der Angesprochene murmelte bloß: „Nein…, gar nichts hab ich gesagt!“
Alle stierten wieder in den Abgrund, dann meinte Elester fast feierlich: „Meine Herrschaften, die Grenze ist auf uns zugekommen!“
„Was? Das ist die Grenze? Und der ganze Wald dort vorn ist einfach… verschwunden?“, fragte Penny Lo. Draculetta wachte auf, als das Mädchen seine Schultern hochzog.
„Für die Grenze spielen Zeit und Raum keine Rolle. Sie ist da, wenn es ihr passt!“
„Ah… irgendwie hab ich Bauchweh…, und es stinkt hier immer mehr!“ Angeekelt hielt Pat sich die Nase zu.
„Ja, Leute, das ist kein angenehmer Ort. Aber wir müssen trotzdem warten, bis sich die Nebel etwas lichten.“ Elester deutete in den von milchigem Dunst verschleierten Abgrund.
Das Schlimme am Warten war nicht einmal der Gestank. Viel schlimmer war, dass jeder bald wieder ein unangenehmes Ziehen und Drücken spürte.
Plötzlich horchte Merlot auf. „Was ist das?“
Bald hörten es die anderen auch. Ein Gebrabbel und Gemurmel drang aus der Tiefe des Abgrunds. Suckys dünne Haut dehnte sich erwartungsvoll.
„Stimmen, das sind ja Stimmen von Menschen“, flüsterte Eulalia entsetzt und hielt sich die Hand vor den Mund.
„Na und… Daschchch Leben ischchch ein einzzziger Sumpf... jahhhwolll, meine Herrschaffften, ein Sumpf… Mann, tut mir mein Schchhädel weh heute!“
„Halt doch den Mund, Jim! Wir können gar nicht hören, was da unten gesprochen wird“, fauchte Pat.
„Das wäre auch nicht besonders interessant!“ Elesters Metallklinken wiesen in den Abgrund.
Die Nebel hatten sich zu lichten begonnen. Was sie nun sahen, jagte ihnen einen Schauer über den Rücken. Einen Schauer des Grauens über den Sumpf der banalen Belanglosigkeiten. Wie weit sich der Sumpf erstreckte, konnte keiner sehen, aber er schien riesig.
Gespickt von unzähligen Metallmasten zog sich grauer Schlamm, so weit der Blick reichte. Zuerst konnte man die Figuren kaum erkennen, da sie genauso grau waren wie der Sumpf. Doch als sich die Nebel weiter lichteten, schrie Eulalia: „Das sind Menschen, die ziellos durch den Sumpf waten!“
„Ja, Menschen, die dabei sind, im Sumpf ihres Gebrabbels allmählich zu versinken“, flüsterte Elester.
Alle starrten mit Entsetzen nach unten. Unzählige Menschen wateten durch den Sumpf und redeten. Die Hände waren ihnen an den Rücken gebunden und bald war zu erkennen, dass sie in ein Schnurlostelefon sprachen, das um ihren Hals hing. Mit jedem Wort, das sie brabbelten, tropfte grauer Schleim aus dem Telefon und ließ den Sumpf ansteigen. Manchen stand der Sumpfschleim schon bis zum Hals, aber sie redeten und redeten, bis ihnen der Schleim in den Mund drang. Nur noch Nasen und Augen überragten die Oberfläche der grauen Schlacke. Augenpaare lugten aus der schlammigen Masse und sahen anderen Menschen beim Versinken zu. Eulalia fiel in Ohnmacht. Selbst Sucky schien der Appetit vergangen zu sein, während Fischa von Pats Schulter zurück in den Wald gesprungen war.
„Ah, mir tut alles weh… mein Gott, diese Masten, das sind ja Mobilfunkmasten“, rief Penny Lo.
„Ja, tausende! Dieses Ziehen in unserem Körper, diese Schmerzen – das sind Auswirkungen akustischer Umweltverschmutzung!“
Sucky übergab sich und spie grauen Schleim.
„Wir müssen uns konzentrieren, noch ein paar Minuten. Wo sind die Tiere? Draculetta, Tarantilli, Posi…!“
Elester keuchte. Ein vernünftiges Wort schien ihm an diesem Ort kaum über die Lippen zu kommen. Er war der einzige, der noch nahe am Abgrund stand.
Draculetta flatterte verschlafen auf Elesters Schulter. „Mann, ist das laut hier!“
„Flieg, so schnell du kannst, über den Sumpf, aber pass auf mit den Masten…“
„Unmöglich, Elester, bei dem Lärm verlier ich die Orientierung!“
„Dann nimm Tarantilli mit. Sie wird dich durch den Mastenwald lotsen. Ihr wisst, was ihr zu tun habt! Helft Posi auf seiner Mission. Posi, es…, es ist so weit.“
„Gut, Elester, ich bin bereit!“ „Dann such …diese… Le…, diese Fr… eule! Du weißt schon, wen ich… meine…“ Elester konnte kaum mehr klar denken und brach schließlich zusammen. Pat und Penny Lo zogen ihn rasch vom Abgrund weg und torkelten zurück in den schützenden Wald. „Ach, natürlich, schon wieder diese Halbgöttin! Wäre ja nicht das erste Mal, dass ich nach ihr suche!“, piepste Posi und erhob sich in die Lüfte – gemeinsam mit einer Fledermaus, auf der eine Flohspinne saß. Da es Tag und Draculetta natürlich ganz duselig und unausgeschlafen war, übernahm Tarantilli sofort das Kommando.