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Als Tim endlich nach Hause kam, fand er Dray auf dem Sofa ausgestreckt. Ihre Uniformhose – das Spezialmodell für schwangere Deputys – hatte sie aufgeknöpft, um Platz für ihren Achtmonatsbauch zu schaffen. Sie blickte auf, als er durch die Küche hereinkam, und er sah, dass ihre Wangen nass waren. Er warf die mitgebrachten Akten auf den Tisch, stieg von hinten über die Sofalehne und blieb dort sitzen, so dass er sie von oben in die Arme schließen konnte.

»Verdammt, ich hab Frankie so gerngehabt. Wie geht’s Janice?«

»Nicht gut, sagt Jim.«

»Das ist das Risiko, mit dem wir leben müssen.« Sie versuchte, ihre Gesichtszüge wieder unter Kontrolle zu kriegen und die toughe Frau rauszukehren, wie sie es als Schwester von vier älteren Brüdern und in ihren acht Jahren als einziger weiblicher Deputy in Moorpark Station gelernt hatte. Aber ihre Lippen zitterten trotzdem, und als sie weitersprach, war ihre Stimme ganz heiser. »Ich würde so gerne ihm die Schuld geben. Ich will wissen, dass Frankie einen Fehler gemacht hat. Dass er in diesem Moment das Falsche getan hat. Dass es nicht so einfach sein kann, uns fertigzumachen. Ich muss mir ständig vorstellen, wie Janice den Anruf bekommen hat ...«

Sie lehnte den Kopf an seinen Oberschenkel, und er streichelte ihr eine ganze Weile über das Haar. Melissa Yueh, die dauerspritzige Nachrichtenfrau von KCOM, moderierte mit stummem Eifer weiter, während Bilder und Ticker ziemlich ungenaue Angaben zu der Befreiungsaktion machten. Wie immer hatten Tim und Dray auch heute mehrmals am Tag miteinander gesprochen, daher wusste sie, was wirklich passiert war.

Stöhnend zog Dray den Reißverschluss an ihrer Hose weiter auf und fuhr sich mit der Hand über den gewölbten Bauch wie Al Bundy. Mit ihrem muskulösen Körperbau hatte sie keine allzu großen Probleme, das Baby in ihrem Bauch zu tragen. Zugenommen hatte sie vor allem in der Mitte, obwohl im Laufe des letzten Monats auch ihre durchtrainierten Arme und Beine angeschwollen waren und weichere Konturen angenommen hatten. Das war schon bei ihrer letzten Schwangerschaft so gewesen, und Tim liebte diesen Anblick. Dray selbst fand es fürchterlich.

»Hast du schon gegessen?«, fragte er.

»Jede Menge. Und du?«

»Seit dem Frühstück nichts mehr.«

Er sah, wie sie die Stirn runzelte, und folgte ihrem Blick zum Fernseher. Dana Lake, die zur bizarren Halbprominenz der Staranwälte von Los Angeles gehörte, saß auf einem Drehstuhl und beantwortete die Fragen, die Yueh ihr zu ihren zwei entflohenen Mandanten stellte. Dana war in den Medien ständig präsent. Sie vertrat jeden, vom Vergewaltiger aus Westwood bis zum Dschihad-Attentäter, der mit einer Bombe im Schuh im Flughafen von L.A. festgenommen worden war. Mit ihrem Porzellanteint, den klaren Gesichtszügen und dem vollen kastanienbraunen Haar sah sie einfach umwerfend aus. Man hätte sie als echte Schönheit bezeichnen können, aber wenn man die einzelnen Züge addierte, verlor sie plötzlich wieder. Trotz ihrer überwältigend weiblichen Erscheinung war irgendetwas Abstoßendes an ihr. Ein zu harter Unterkiefer vielleicht oder ein allzu strenger Zug um den Mund. Ihr Gesicht war wie eine schöne Maske, die wider ihren Willen verhärtet war. Sie stützte sich mit den Unterarmen auf dem Tisch ab, straffte die Schultern und zeigte die Konturen ihres perfekt maßgeschneiderten Kostüms.

»Ich hasse diese Tusse«, sagte Dray. »Die ist schon wieder den ganzen Abend in allen Nachrichtensendungen. Als Larry King sie ankündigte, nannte er sie die ›schillernde Anwältin, die nie zweimal dasselbe Kostüm anziehen würde‹. Als wäre das irgendwie toll. Und was macht sie eigentlich mit ihren abgelegten Kostümen? Gibt’s da irgendein Austauschprogramm für Magersüchtige?«

»Sie spendet sie den Bedürftigen.«

Dray kicherte, während sie sich die Wangen abtrocknete. »Ja. Ich bin sicher, die Obdachlosen schützen sich mit Seidenanzügen von DKNY vor der weihnachtlichen Kälte.« Sie warf einen Blick auf die Akten, die sich auf dem Küchentisch stapelten, und stupste dann Tims Marshal-Stern an, der von dem Lederflecken an seinem Gürtel baumelte. »Klar, jetzt wollen sie dich natürlich wieder zurückhaben in ihrer Truppe.«

»Ich bin der Troubleshooter.«

»Ja, genau, beinah hätt ich’s vergessen.« Sie schob die kurzen blonden Haare aus dem geröteten Gesicht, fasste ihr olivgrünes Deputy-Hemd mit Daumen und Zeigefinger und fächelte sich Luft zu. »Mir ist den ganzen Tag schon so heiß. Ich schwitze echt wie ein Schwein. Manchmal hab ich das Gefühl, ich schmelze gleich. Außer, wenn mir kalt wird. Dann erfrier ich fast.«

»Vielleicht solltest du jetzt schon in Mutterschutz gehen?«

»Und mir den Spaß entgehen lassen, diese Biker-Arschlöcher zu triezen? Mac und ich haben heute wieder drei rausgezogen. Da brauchst du gar nicht so verdutzt zu schauen. Wir können zwar nicht in die Höhle des Löwen spazieren wie ein gewisser VIP, aber auch wir im Hosenscheißerkaff Moorpark tragen unser Scherflein bei. Mein Chef meinte, die Datenbank macht gute Fortschritte.«

»Stimmt.« Er ließ sich von der Lehne rutschen, bis er neben ihr saß. Sie hob ihr Bein, und er zog ihr den Stiefel aus und rieb ihren Fuß. Sie stöhnte vor Wohlbehagen und machte einen Katzenbuckel. »Mein Besuch bei Onkel Pete hat mich inspiriert«, erklärte Tim. »Ich habe beschlossen, dass du ab jetzt eine Lederjacke tragen sollst, auf der jeder lesen kann, wem du gehörst. Außerdem hätte ich gern, dass du dir ein Tattoo machen lässt. Und zwar genau ... hier. EIGENTUM VON TIM RACKLEY.«

»Und dann darf ich mit dir auf deinem dicken Schlitten fahren?«

»Dann darfst du mit mir auf meinem dicken Schlitten fahren.«

»Hol die Tinte zum Tätowieren, Big Daddy.« In diesem Moment begann sein Nextel zu zirpen, und Dray musste lachen. »Da haben wir’s schon wieder. Kümmer dich nicht um mich. Ich bleib einfach hier auf der Couch sitzen, verschwitzt und k.o., wie ich bin.«

Tim klappte sein Handy auf, ging zurück in die Küche und drückte auf den Gesprächsknopf.

»Hallo Rack, hier ist Freed.«

»Wie ist es gelaufen mit den Cholos?«

»Wie klingt Chíngate, pinche cabrón für dich? Ich bin nicht ganz sicher, wie ich das interpretieren soll.«

»Na ja, so hatten wir uns das doch vorgestellt, oder?«

»Die haben mich nicht mal zu El Viejo vorgelassen – die schirmen ihren Boss total ab. Ich habe eine Einheit für das Clubhaus abkommandiert. Viel mehr können wir nicht tun. Die Cholos kommen da rausgeschwirrt wie die Mücken. Wenn die Sinners wirklich einen abfangen wollen, dann schaffen sie das auch.«

»Was machst du jetzt?«

»Ich fahr jetzt nach Hause zu meinem Kind.«

»Kann ich dir nicht verübeln.«

Tim legte auf und wählte dann die Einsatzzentrale an.

»Ich hab dir doch gesagt, wenn irgendwas passiert, melden wir uns«, sagte Haines.

»Egal was es ist, ruft mich an. Mein Telefon bleibt angeschaltet.«

»Das erwähntest du bereits.«

Tim brütete über den Akten, während Dray sich ganz auf den Fernseher konzentrierte und ab und zu ein verächtliches »Pah!« oder ein höhnisches Schnauben von sich gab. Das Einzige, was Dray besser gefiel als Fernsehen, waren Schmähtiraden aufs Fernsehen.

Tim breitete die Fotos vor sich aus und bestaunte Goats Gesicht, Kaners breite Gestalt, Dens dunkle, bösartige Augen. Er blätterte den Bericht der Kriminaltechniker durch und spürte die Kälte der wissenschaftlich unbeteiligten Sprache. Seine Augen blieben am Namen seines Freundes hängen.

Sechs sichtbare Einschusswunden am Torso von Deputy Frank Palton, zwei im Kopf. Fragmente von Gewebe und Schädelknochen in der Trennwand und im hinteren Bereich des Transporters.

Er dachte zurück an seinen ersten Arbeitstag nach Ginnys Tod. Frankie hatte mit Jim über das »Commie Sutra«-Buch geblödelt, das seine Frau ihm untergeschoben hatte. Tim erinnerte sich so lebhaft daran, weil es der erste unbeschwerte Moment seit drei Tagen gewesen war, der erste Hoffnungsschimmer, dass man in dieser Welt vielleicht doch noch weiterleben konnte. Und als Tim vermisst wurde, war Palton der Erste gewesen, der die Blutspuren in der Nähe des Pick-ups entdeckt hatte, den Tim in der Nähe des Sektenhauptquartiers geparkt hatte. Tim rief sich die Bilder ins Gedächtnis, die Frankie immer hartnäckig an die ganze Abteilung mailte, damit alle seine entzückende Tochter bei der Siegerehrung des Schwimmvereins, der Mottogeburtstagsparty ihrer Freundin und im Halloween-Kostüm bewundern konnten.

Dray sah zu Tim hinüber. Nach zehn Ehejahren nahm sie unfehlbar jede Stimmungsschwankung bei ihm wahr. Sie fing seinen Blick auf, und ihr Gesicht nahm einen weichen, mitfühlenden Ausdruck an

»Er hinterlässt zwei Kinder«, hörte Tim sich sagen, als wäre Dray und ihm diese Tatsache nicht längst bekannt.

»Nicht von da drüben«, erwiderte Dray sanft. »Wenn du über Frankies Kinder reden willst, dann komm hierher zu mir aufs Sofa. Aber nicht, wenn du da in deiner Funktion als Deputy über den Akten sitzt.« Sie sah ihn an, während das gelbe Licht eines Werbespots für Allergikertabletten sich in ihren durchsichtigen eisgrünen Augen spiegelte. »Du darfst es nur persönlich nehmen, wenn du nicht mehr im Dienst bist. Wenn du arbeitest, dann tu einfach deinen Job, auf die Art ehrst du Frankies Andenken am besten. Und Hank Mancones. Und Fernando Perez’.«

»Wessen?«

»Der illegale Einwanderer, der ein Auto weiter hinten durch die Explosion getötet wurde. Und das will ich damit auch sagen: Wenn dieser Mann nicht wichtig ist, dann ist gar nichts wichtig. Jeder zählt. Und jeder zählt gleich viel. Wenn du die Dinge persönlich nimmst, dann legst du dir Scheuklappen an. Es hindert dich daran, alle Details gleich gründlich zu untersuchen, und das hindert dich wiederum daran, allen Spuren gleich gründlich nachzugehen.«

»Willst du damit sagen, dass ich mich in der Vergangenheit emotional zu sehr engagiert habe?«

Sie lachte. »Niemals. Ich will nur sagen, dass hier ein Freund von dir gestorben ist. Nimm dir eine kleine Auszeit, wenn dir das hilft. Außerdem – hast du für heute nicht langsam genug von Goat Purdues gewinnendem Lächeln?«

Tim blickte auf die Akten und Bilder herab, die über den ganzen Tisch verstreut lagen, atmete tief aus und straffte die Schultern, die während der letzten Stunde für Verspannungen in seinem ganzen Oberkörper gesorgt hatten, wie er jetzt erst bemerkte. »Und, was soll ich tun?«

»Du sollst mir was zu essen machen.« Eine lange Pause trat ein, während sie einander musterten und sich ein leichtes Lächeln auf ihre Lippen schlich.

»Und dir auch.«

Er stand auf und warf einen Blick in den Kühlschrank. Abgesehen von den Gewürzdosen lagen nur noch ein brauner Apfel und die Beine eines Schoko-Weihnachtsmannes darin. »Ich dachte, du hebst dir den Weihnachtsmann bis Weihnachten auf?«

»Bis dahin sind’s noch vier Tage.«

»Ich glaub, ich muss das Essen hier bald verstecken.«

»Im Schrank sind noch Sonnenblumenkerne.«

»Mir schwebte eigentlich was Herzhafteres vor.«

»Du«, sagte Dray, »du bist ein gieriges schwarzes Loch.«

Er machte die Kühlschranktür wieder zu.

»Wenn du schon unterwegs bist«, bat Dray, »bringst du mir dann bitte noch eine Erdbeerlimo mit? Und Cracker mit Aufschnitt?«

»Cracker mit Aufschnitt?«

»Genau. Pute.«

»Okay.«

Er steuerte seinen neuen Explorer zu Albertsons und fuhr mit dem Einkaufswagen die Gänge auf und ab. Während er immer wieder einen prüfenden Blick auf sein Telefon warf – immer noch nichts –, kaufte er einfach alles, was Dray seines Wissens nach in den letzten acht Monaten gern gegessen hatte. Was durchaus eine beträchtliche Leistung war. Als er nach Hause kam, war das Wohnzimmer leer, aber er konnte den Fernseher aus dem Schlafzimmer hören. Er machte die abgepackten Cracker mit Putenaufschnitt auf, öffnete eine Flasche Erdbeerlimo und arrangierte das Abendessen auf einem Silbertablett, das sie zur Hochzeit von irgendjemandem bekommen hatten, an den sie sich heute nicht mehr erinnerten. Über die gefaltete Serviette legte er eine Supermarkt-Schwertlilie – Drays Lieblingsblume, eine der wenigen mädchenhaften Schwächen, die sie sich gestattete.

Sie lag flach auf dem Bett wie eine Tote. Ihr Bauch wölbte sich zwischen ihren Boxershorts und dem hochgeschobenen T-Shirt von der Polizeiakademie. Als er eintrat, drehte sie ihm den Kopf zu, dann überzog ein spontanes Lächeln ihr Gesicht, und er musste an das erste Mal denken, als er ihr Lächeln gesehen hatte, auf dem Parkplatz einer Wohlfahrtsveranstaltung der Feuerwehr. »Timothy Rackley.«

Er stellte das Tablett auf die Matratze und küsste ihre verschwitzten Ponyfransen. Nachdem sie das Essen gemustert hatte, setzte sie – neben ihrem Grinsen – ihre patentierte Dray-Grimasse auf. »Das sieht ja widerlich aus. Putenaufschnitt auf Crackern und Erdbeerlimo? Wer ist denn auf die bescheuerte Idee gekommen?«

Er gab ihr die Lilie, zog das Tablett auf seinen Schoß und begann zu essen.

Die Meute

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