Читать книгу Die Meute - Gregg Hurwitz - Страница 9
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ОглавлениеDie rechte Seite des zwei mal ein Meter großen Gesichts war eine einzige Masse aus knotigem Narbengewebe. Abgesehen von dem Verbrecherfoto, das der Beamer an die Wand warf, war es pechschwarz in der Kommandozentrale. Aus der rechten Augenhöhle des Nomads starrte ein flammender Totenschädel, der auf ein ansonsten völlig naturgetreues Glasauge graviert war.
Bear Jowalski stellte sich vor das Bild, so dass der Umriss seines gewaltigen Körpers einen schwarzen Schattenriss bildete. Sein nüchterner Ton traf die Stimmung im Raum. »Meine Herren, Sie sehen Goat Purdue. 2002 hatte er einen Motorradunfall, bei dem er die eine Hälfte seines Gesichts auf dem Asphalt von Malibu ließ.«
Normalerweise hätte der Anblick von Goats Gesicht eine Serie von unanständigen Kommentaren nach sich gezogen, aber heute gab es weder unterdrücktes Gelächter noch witzige Bemerkungen. Obwohl sie ihren Dienst versahen, waren die Deputys nach den grauenvollen Ereignissen noch immer wie benommen. Eine so grimmig entschlossene Stimmung hatte Tim nicht mehr erlebt, seit er als Ranger nach dem 11. September Dienst getan hatte. Auf Frank Paltons Platz neben Jim Denley saß ein Special Agent des FBI, Jeff Malane – ein schlanker Mann mit feinem Haar und traurigen, intelligenten Augen.
Bear beugte sich über den Laptop, und ein neues Foto erschien an der Wand. Das Bild stammte aus einer Überwachungskamera und war aus einiger Entfernung aufgenommen worden. Es zeigte einen Biker mit bleistiftdünn rasiertem Bärtchen. Er konnte kaum größer sein als eins zweiundsechzig. Sein fassartiger Oberkörper sah aus, als wäre ein großer Körper auf kleine Beine transplantiert worden.
»Sein Spitzname ist Chief«, erklärte Bear. »Den hat er daher, weil er statt einer Harley eine Indian fährt.«
Guerrera fuhr sich mit der Hand durchs gegelte Haar. »Chief ist sozusagen der Nachrichtendienst der Sinners. Er verwaltet die Akten über die rivalisierenden Clubs, über die Polizei, alles Mögliche.«
»Eine Indian«, meinte Tim. »Hört sich ganz nach dem Anführer bei unserem Überfall an, stimmt’s, Jim? Jim?«
Denley rutschte auf seinem Stuhl herum. »Ja?«
»Du hast doch gesagt, der kleine Typ fuhr eine Indian, oder?«
»Ja, genau. Eine Indian.«
»Ist das nicht auch der, der vor ein paar Jahren eine Clubmama erstochen hat?«, hörte man Thomas’ Stimme von ganz hinten aus dem Dunkel.
»Nein, das war unser guter alter Den Laurey«, widersprach Bear. »Er ist der Messerstecher. Man erzählt sich, dass er eine der Clubmamas von den Hüften bis zu den Knöcheln aufgeschlitzt hat, wie ein Paar Chaps.«
»Aber Kaner war doch der, der vor ein paar Jahren seine Alte an einen Baum gefesselt hat, oder?«
»So isses, mit Nägeln durch ihre Handflächen, draußen bei Devil’s Bowl.« Guerreras spanischer Akzent drang wieder einmal durch. »Als die Jungs von der California Highway Patrol sie anderthalb Tage später auffanden, lehnte das gute Mädchen jede Hilfe ab. Meinte nur, ihr Alter hätte ihr gesagt, sie solle dort warten, bis er zurückkommt.«
»Klasse Mädel.«
»Den und Kaner sind die übelsten von den Nomads«, stellte Guerrera fest. »Und das will wirklich was heißen.«
Ein Klick, und das nächste Bild erschien auf der Wand. Ein Verbrecherfoto, auf dem ein heimtückisches breites Gesicht unter einem Wischmopp aus gelbweißen Locken hervorspähte. Die Augenbrauen waren so hell, dass man sie kaum erkennen konnte.
»Tom Johannsson, auch Tom-Tom genannt. Sprengstoffspezialist. Und Nomad.«
Weit und breit kein Hals in Sicht: Tom-Toms Kopf saß direkt auf seinen Schultern.
»Ich hab gesehen, dass bei einem von den Harley-Typen weiße Haare unterm Helm rausgeguckt haben.« Jims Stimme mit dem kräftigen Brooklyn-Akzent war immer leicht heiser und angestrengt.
»Kennt der sich denn gut genug mit Sprengstoffen aus, um so eine Bombe zu basteln wie die, die unseren Suburban hochgejagt hat?«, wollte Tim wissen.
»Allerdings«, bestätigte Guerrera. »Es heißt, dass Tom-Tom sein Handwerk bei den Michigan Blood Patriots gelernt hat. Die Typen könnten so manchem Terroristen noch was beibringen, was selbst zusammengebastelte Sprengsätze angeht.«
Freed zog die Gardinen auf, so dass man die bescheidene Aussicht aus dem dritten Stock erblicken konnte, und alle blinzelten ins Licht.
»Kennen wir irgendwelche von den Nomads des Sinner-Clubs?«, fragte Haines.
»Nigger Steve, aber den haben sie vor drei Tagen von seinem Motorrad geschossen«, erklärte Guerrera.
»Ein Schwarzer?«, fragte Thomas überrascht.
»Nein«, gab Guerrera zurück. »Nur sonnengebräunt.«
»Und tot«, ergänzte Bear.
»Das ist der erste Nomad der Sinners, der von einem rivalisierenden Club getötet wurde«, fuhr Guerrera fort. »Die Cholos haben die Gelegenheit genutzt, dass Den und Kaner gerade hinter Gittern saßen, und legten ihn um.«
»Glaubt ihr, dass die Sinners die beiden deswegen befreit haben?«, fragte Thomas.
»Ich würde sagen, ja«, meinte Bear. »Schutz und – demnächst in Ihrem Kino – Vergeltungsmaßnahmen.«
»Ihr wisst doch, wie die Sinners sich rächen, wenn einer aus ihren Reihen umgelegt wurde, oder? Dafür bringen sie fünf von den anderen um die Ecke.« Tim legte seinen Stift aus der Hand und merkte erst jetzt, dass er die Kappe ganz flachgekaut hatte. »Wir werden auf jeden Fall noch mehr Blut sehen.«
»Genau.« Millers Gesichtsausdruck war angespannt. »Und zwar ihres.«
»Thomas und Freed, ihr seht zu, dass ihr euch irgendwie bei den Cholos reinschleust«, befahl Tim. »Seht zu, dass ihr mit dem Oberboss in Kontakt kommt, diesem Typen mit der Frisur – wie hieß er noch mal?«
»El Viejo«, sagte Guerrera.
»Wahrscheinlich ist es sowieso ein aussichtsloses Unterfangen, aber wenn Den und Kaner es darauf abgesehen haben, dann wäre es nachlässig von uns, wenn wir an der naheliegendsten Stelle nichts unternommen hätten und nicht versucht hätten, ein paar von unseren Männern rund ums Clubhaus aufzubauen.«
»Kommt gar nicht in Frage, Rack«, widersprach Guerrera. »Auf so was werden sie sich nie einlassen. Um Biker-Angelegenheiten kümmern sich die Biker selbst, sabes? Außerdem sind die Cholos überall – wir könnten sie gar nicht im Auge behalten, selbst wenn sie uns lassen würden.«
Freed zuckte die Achseln, und die Falten in seinem Versace-Anzug glätteten sich. Er war mit dem Geschäft seiner Familie groß geworden – dieses Geld kam noch zu seinem Gehaltsscheck hinzu – und hatte dabei gelernt, auch Details niemals zu vernachlässigen. »Wir klemmen uns einfach mal dahinter. Kann ja nicht schaden.«
Thomas zeigte auf die Wand, die jetzt wieder leer und weiß war. »Eurer Meinung nach müssen diese drei Schönheitsköniginnen also das Befreiungsteam gebildet haben?«
»Sieht ganz so aus«, meinte Bear. »Sie sind die letzten Nomads – sie müssen das einfach machen. Außerdem haben unsere Informanten es uns auch bestätigt.«
»Haben wir irgendwelche Angaben, wo unsere Nomads zuletzt gesichtet wurden?«, fragte Tim. »Die sind ja ständig woanders unterwegs.«
Jim zupfte mit glasigem Blick an seinem Ohrläppchen. »Cynthia ist gerade erst sechzehn geworden.« Er sprach zu laut. Jeder bemühte sich, seinem Blick auszuweichen.
»Alles klar, Jim?«, fragte Tim.
Jim starrte auf die Tischplatte. »Frankies Tochter.« Als Einziger von den vier verletzten Deputys war er schon wieder in den Dienst zurückgekehrt. Er hatte seine Entlassung aus dem Krankenhaus verlangt und war dann geradewegs an seinen Schreibtisch zurückgekommen. Seine Jacke hatte er weggeworfen, aber auf seinem Hemd waren immer noch Blutspuren zu erkennen – dünne Linien am Kragen, die an Tinte erinnerten. Palton war fast acht Jahre lang sein Partner gewesen. Jim, sonst die Stimmungskanone bei den Einsatzkommandos, zeigte jetzt keinen Funken mehr von seinem respektlosen Humor.
»Die kriegen wir schon«, versicherte Bear schwach. Er rang sich ein Lächeln ab und grinste Jim verlegen an, eine großzügige Geste, die Tim wieder bewusst machte, warum Bear der Erste war, den Dray und er anriefen, wenn es gute oder schlechte Neuigkeiten gab. Und in den letzten paar Jahren ihrer Ehe hatte es von beiden so einige gegeben.
Tim blätterte die vor ihm liegende Akte durch und versuchte, sich wieder zu konzentrieren. »Irgendein Ansatzpunkt im Mother-Chapter?«
»Die Feebs – äh, ich meine natürlich: Das FBI hat versucht, Onkel Pete dranzukriegen, als Den und Kaner gefasst wurden«, erklärte Bear. »Sie haben es auf der Schiene versucht, dass er immer wieder für dieselben Verbrechen angezeigt wird, auf die Art wollten sie es deichseln, dass ihm mal eine härtere Strafe aufgebrummt wird. Erinnerst du dich noch an das Debakel mit den Kreditkartendaten?«
Tim und Dray hatten den Fall – wie fast jeder im Bundesstaat – mit großem Interesse verfolgt. Onkel Pete, der knuffige Hundertfünfzig-Kilo-Mann, Präsident der Sinners, hatte die Staatsanwälte auseinandergenommen, weil sie Kreditkarteninformationen ein wenig zu nonchalant zu ihren Gunsten interpretiert hatten. Beim Versuch, sein verwickeltes Drogenhandelsnetz und seine Geldwäscheoperationen zu entwirren, waren sie auch nicht viel erfolgreicher.
Malane hatte sich den ersten Teil der Information mit einem Gesichtsausdruck angehört, der auf reservierte Überlegenheit schließen ließ – wie Tim mittlerweile wusste, war dies eines der wichtigsten Attribute eines FBI-Agents. Nun räusperte sich der Agent und begann zu sprechen, wobei er seine Augen nicht von dem Kugelschreiber hob, mit dem er auf den leeren Block klopfte, der vor ihm lag. »Onkel Pete achtet genauestens darauf, dass das Mother-Chapter auf keinen Fall mit irgendeinem Verbrechen in Verbindung gebracht werden kann.«
»Und warum hattet ihr auch keinen Erfolg mit der Anklage wegen Drogenhandels?«, wollte Tim wissen.
»Aus demselben Grund, weswegen wir mit den Bikern immer diesen Ärger haben – ihr Netzwerk ist völlig unabhängig und unerschütterlich. Sie selbst bilden das Netzwerk der Dealer, was bedeutet, dass sie die ganze Szene kontrollieren, von ihren Verstecken über die Großhändler bis zum Dealer an der Straßenecke. Sie sitzen in den Spirituosengeschäften, in den Tante-Emma-Läden und den Tankstellen und dealen in kleinem Maßstab. Vertreiben aber letztendlich doch große Mengen. Sie haben viele Mitarbeiter, die kein Geld verlangen, und zwar ihre Frauen und ihre Prospects, also Biker, die in ihren Club aufgenommen werden wollen. Die Fäden dieser ganzen Operationen verlaufen im Verborgenen. Wenn wir einen Treffer landen, haben wir eben einen Treffer gelandet, aber mehr auch nicht. Ein Treffer. Minimale Warenmenge. Außerdem haben sie eine zuverlässige interne Pipeline, durch die sie die Drogen in andere Abteilungen und Städte transportieren – das machen sie auch wieder selbst. Vor allem in der Motorradsaison kann man es völlig vergessen. Da sind die Biker zu Hunderten auf der Straße unterwegs, und selbstverständlich würde man uns niemals genehmigen, Leibesvisitationen vorzunehmen, um ein paar Drogenkuriere genauer untersuchen zu können.« Malanes Gesicht zog sich zusammen, als hätte er in etwas Saures gebissen. Er war wütend, aber auch gedemütigt, denn das FBI war bei seinen Ermittlungen in dieser Sache öffentlich aufs gründlichste vorgeführt und abgestraft worden.
»Warum nehmen wir uns nicht trotzdem Onkel Pete vor und schauen ihn uns genauer an?«, schlug Tim vor.
»Er hat diese Promi-Anwältin«, gab Bear zu bedenken, »Dana Lake, bekannt aus Funk und Fernsehen.«
»Ich würde euch raten, in dieser Sache nur mit Samthandschuhen zu operieren«, meinte Malane.
Tim lehnte sich vor, rieb sich die Schläfen und grübelte über die wenigen Beweise nach, die sie hatten beschaffen können. Die Befreiungsaktion selbst zeigte, dass die Strecke, die das Transportteam am Montag genommen hatte – einen Tag nach dem Mord an Nigger Steve –, sehr sorgfältig überwacht worden war. Die Operation an sich war fehlerlos geplant und durchgeführt worden. Minuten, nachdem der erste Wagen des Transportkonvois die Stelle passiert hatte, war der Fahrer eines gelben Volvo auf die Bremsen gestiegen, hatte zwei Fahrbahnen blockiert und außerdem eine Rauchbombe auf dem Rücksitz hinterlassen, während er selbst zu Fuß floh – er trug dabei einen Helm –, über die Leitplanken setzte, auf eine bereits wartende Harley sprang und davonraste. Das zurückgelassene Auto hatte bis jetzt noch keine weiteren Hinweise geliefert.
Das kriminaltechnische Labor des Sheriffs hatte mittlerweile bestimmen können, dass es sich bei dem Sprengsatz in den Satteltaschen um einen Ammoniumnitrat-Dieselöl-Mix gehandelt hatte, der von einem Detonator gezündet worden war. Solche Bomben setzen sich aus Bestandteilen zusammen, wie man sie in jedem Baumarkt bekommen kann, und jeder hat die Möglichkeit, sie leicht zu Hause zusammenzubasteln, ohne dabei Hinweise für die Forensiker zu hinterlassen oder kleinste Spuren von Taggants, also bei der Produktion beigefügte Mikropartikel, durch die man die Herkunft des Sprengstoffs zurückverfolgen könnte.
Der Befreiungstrupp hatte schweres Geschütz benutzt: AR-15 waren nicht weit weg von den Uzi-artigen MAC-10, Maschinengewehre, wie sie weniger raffinierte Straftäter gerne benutzten. Zivile Ausführungen von M16 und AR-15 waren zu vollautomatischen Waffen umgebaut worden. So etwas dauert ganze zwanzig Minuten, alles was man dazu braucht, kann man sich in einem Versandhaus bestellen. Bei den polizeilichen Ermittlungen würde es sich am ehesten empfehlen, der Herkunft der Munition nachzugehen, aber heutzutage konnte man ja sogar auf Waffenausstellungen Munition kaufen, mit der man durch gepanzerten Stahl schießen konnte. Der Panzerstahl des Dodge-Vans war nur dafür konstruiert, den Insassen ein paar Sekunden Handlungsspielraum zu verschaffen. Obwohl Hank Mancone ein erfahrener Polizist war, hatte er den Transporter nicht rechtzeitig aus der Schusslinie bringen können, als der Kugelhagel auf das Auto niederging, und das hatte ihn und Palton das Leben gekostet.
Tim stand auf und ging ans Kopfende des Tisches, während die anderen ihn erwartungsvoll ansahen. »Tja, die haben uns ganz schön aufgescheucht. Mit Frankie waren hier alle befreundet. Hank kannte ich zwar nicht so gut, aber wenn es einen von uns erwischt, geht es uns allen nahe.«
Malane trug eine gelangweilte Miene zur Schau, und Tim hasste ihn dafür.
»Aber wir werden die Täter nicht erwischen, wenn wir jetzt zu emotional handeln. Der Sheriff befasst sich mit den Morden an Frankie und Hank, also können wir uns in aller Ruhe mit dem beschäftigen, was wir am besten können: entlaufene Gefangene finden. Auf diese Art erweisen wir den Toten Ehre. Bearbeitet eure Informanten. Ehemalige Zellengenossen, uns bekannte Kontakte, ihre bevorzugten Aufenthaltsorte – ihr wisst ja, wie es geht. Redet mit dem Personal an den Tankstellen, die an den klassischen Biker-Routen liegen, sagt ihnen, dass eine Belohnung ausgesetzt wird. Dasselbe in Spezialgeschäften für Motorradausrüstung, an Schrottplätzen, Tauschbörsen. Wir müssen ein besonderes Augenmerk auf Motorraddiebstähle haben, für den Fall, dass sie sich jetzt neue Fahrzeuge besorgen, um uns abzuschütteln.«
»Aber haltet euch nicht mit japanischen Reiskochern auf«, riet Guerrera. »Oder mit Fahrgestellnummern. Kriminelle von diesem Kaliber können so eine Nummer jederzeit abschleifen und eine neue eingravieren. Das ist das Problem mit diesen Motorrädern – man kann ihren Ursprung so gut wie nie zurückverfolgen. Jedes Einzelteil könnte von einem anderen Fahrzeug stammen.«
»Könntest du noch ein bisschen genauer werden, was die Motorräder angeht?«, bat Freed. »Wonach sollen wir konkret Ausschau halten, wenn wir draußen unterwegs sind?«
Guerrera runzelte nachdenklich die Stirn. Sein Gesicht wirkte wie das eines Teenagers, trotz der Bartstoppeln fehlte jede Härte darin. Seine langen Wimpern und vollen Lippen sahen eher italienisch aus, sie waren nicht das, was die Leute im Allgemeinen mit einem Kubaner verbanden. Trotzdem war er von Kopf bis Fuß Little Havanna. »Die Motorräder der Outlaw-Biker sind sehr leicht. Schlecht gefedert, wenn man auf so einem fährt, schüttelt es einem ganz gewaltig die Eingeweide durch. Ein normales Motorrad rollt mit dreihundertfünfzig Kilo vom Fließband, aber die Biker montieren so viel ab, bis nur noch zweihundert übrig sind – Cutaway nennt sich so was. Vielleicht stehlen sie ein nicht so hochwertiges Bike von einem Sonntagsfahrer. Wenn sie es nicht ausschlachten, nehmen sie die Satteltaschen ab, die Verkleidung, jedes Extra aus Chrom, die Federn an der Gabel, die hinteren Stoßdämpfer, die Schutzbleche. Dann verpassen sie dem Sitz eine neue Form, verkleinern die Scheinwerfer und montieren Doppelvergaser.
Die meisten Outlaw-Biker bauen auch die großen Tanks aus, denn die verstecken den Motor und die Pferdestärken. Doch die Sinners, vor allem die Nomads, lassen sie dran, für den Fall, dass sie bei Verfolgungsjagden mit der Polizei mehr Benzin brauchen. Aus demselben Grund haben sie auch nicht so gerne die breiten, geschwungenen Apehanger-Lenker, die man an den meisten Choppern sieht – denn mit denen lässt sich das Motorrad auf der Flucht schlechter lenken. Sie greifen wirklich in jede Trickkiste, um das Fahrzeug schneller zu machen – sie beschneiden die Schwungräder auf der linken Seite, um besser beschleunigen zu können, sie mögen Handschaltung und fette Ventile. Außerdem bohren sie den Motor auf, um mehr Hubraum zu bekommen. Nach diesen blödsinnig nach Chopper-Art ausgestellten Vorderrädern werdet ihr bei den Sinners vergeblich Ausschau halten. Was das angeht, sehen sie die Dinge einfach pragmatisch – bei ihnen geht Geschwindigkeit vor Ästhetik. Hauptsache, sie können die Bullen abhängen. Keiner hat Lust, sich schnappen zu lassen, nur weil das Vorderrad unbedingt anderthalb Meter ausgestellt sein muss. Das dürft ihr bei den Sinners nie vergessen – trotz allem sind sie in erster Linie Kriminelle, und erst in zweiter Linie Biker.«
»Wir müssen jeden möglichen Ansatzpunkt finden«, sagte Tim. »Ich will wissen, ob einer von diesen Idioten vielleicht schon mal geflohen ist, obwohl jemand mit einer Kaution für ihn gebürgt hatte. Ich möchte, dass ihr mit den Leuten im Gefängnis redet – sitzt ihr ehemaliger Sekretär nicht gerade im San Quentins seine zehn Jahre ab?«
»Ja, aber diese Typen packen grundsätzlich nicht aus«, wandte Guerrera ein. »Nicht mal im Knast.«
»Ach ja? Du meinst also, wir sollen ihn einfach weiter in Ruhe Gewichte heben und den Bachelor gucken lassen? Nein, ich will, dass er vernommen wird. Haines?«
»Alles klar.«
»Zimmer, du tust dich mit dem Morddezernat zusammen. Thomas – haben wir irgendwelche laufenden Ermittlungen gegen die Sinners?«
»Da weiß ich kaum, wo ich anfangen soll. Eine Frau in einem babyrosa Cadillac hat letztes Jahr auf dem Pacific Coast Highway einen Sinner angefahren und getötet. Zwei Tage später wurde sie in ihrem Haus in Pasadena ermordet. Im August hatten wir eine Anhalterin, die von den Sinners drei Monate lang gefangen gehalten und immer wieder vergewaltigt wurde. Sie will keine Anklage erheben. Wahrscheinlich haben die Sinners für solchen Scheiß Akten über Familienmitglieder, und auf die Art wissen sie ganz genau, in welche Grundschule deine kleine Nichte geht. Da überlegt man es sich zweimal, ob man reden will. Dann ist da noch eine Wasserleiche angespült worden ...«
»Hol einfach sämtliche Akten wieder raus und schau sie dir noch mal gründlich durch. Wie sieht es mit Informationen über die Mitglieder des Mother-Chapters aus?«
»Überraschend schlecht«, antwortete Bear. »Das Clubhaus ist abgeschlossen, die Helmpflicht sorgt dafür, dass wir sie auf der Straße nicht auseinanderhalten können, und besondere Kennzeichen nützen auch nichts, wenn alle diese Kennzeichen haben. Ob ihr’s glaubt oder nicht, die Nomads sind leichter zu identifizieren, denn die sind alle zur Fahndung ausgeschrieben.«
»Der Sheriff von Fillmore ist am Clubhaus dran, seit kurz nach dem Überfall auf den Gefangenentransport. Jim – fahr du mal mit Maybeck da hoch ...« Auf einmal bemerkte Tim, dass alle am Tisch Jim anstarrten. Im nächsten Moment fiel erneut ein Tropfen Blut aus Jims Ohr auf das Blatt Papier, das vor ihm lag. »Jim. Jim ... du hast da ...«
»Oh.« Jim hielt sich die hohle Hand unters Ohr und fing die Tropfen auf. Dann starrte er ausdruckslos auf das Blut in seiner Handfläche. »Tut mir leid, Leute.«
»Geh doch kurz runter zu den Krankenschwestern.«
»Okay. Ja, genau.«
Die Tür schloss sich hinter ihm. Tim brauchte einen Moment, bis er zu seinem Gedankengang zurückfand, und die Pause dehnte sich unangenehm. Thomas atmete tief aus und blies dabei die Wangen auf. Bear schob den Unterkiefer zur Seite, dass es knackte.
»Okay, Maybeck, setz dich mit den Deputys in Verbindung, die das Clubhaus bewachen. Sag ihnen, dass sie den Sinners wegen allem möglichen Kleinkram Schwierigkeiten machen sollen – wegen fehlender Schalldämpfer, zu hohen Lenkern und Verstößen gegen die Helmpflicht. Und dann stellt ihr ein paar Kilometer weiter auf derselben Straße noch eine Streife hin, die sie für dieselben Bagatellvergehen noch mal aufschreibt. Auf die Art kriegen wir die Gesichter zu den Namen und verschaffen uns einen Überblick, wer sich in und ums Clubhaus bewegt und auf welchen Maschinen. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir einen V-Mann einschleusen können?«
»Geht gegen null«, wandte Malane schnell ein.
Guerrera, der nur ungern einer Meinung mit einem FBI-Agent sein wollte, nickte widerwillig.
»Das ist so gut wie unmöglich. Um in diese Kreise reinzukommen, muss man heutzutage jemanden umlegen, als Beweis quasi, dass man nicht bei der Polizei ist. Und dann muss man noch den Initiationsritus überstehen. Richtig böse Geschichten.«
»Okay, vergessen wir das. Aber wir richten unser Augenmerk auf die Spuren, die in die Nähe des Mother-Chapters führen – die Verstecke sind normalerweise nicht besonders weit entfernt.« Tim wandte sich wieder an Malane. »Wir werden die Akten brauchen, die Sie während des Prozesses benutzt haben, alles, von den Morden bis zu den Anklagen wegen wiederholter Vergehen.«
»Ich werde sehen, was ich tun kann.«
»Versuchen Sie ein bisschen mehr als das, was Sie normalerweise für uns tun können.«
Malane faltete seine Hände über dem Bauch, eine Geste, die an einem robuster gebauten Mann selbstbewusst ausgesehen hätte. »Ich kann Ihnen schon jetzt sagen, dass alles auf die Namen ihrer Frauen eingetragen ist – Immobilien, Portfolios, der ganze Schamott. So arbeiten diese Typen. Da viele von ihnen verurteilte Verbrecher sind, lassen sie sogar die Waffen bei ihren Frauen.«
»Dann müssen wir uns eben diese Tatsache zunutze machen«, meinte Tim. »Vielleicht kommen wir ja über ihre Frauen an sie heran. Ich will wissen, wer sie sind und welche Frau mit wem zusammen ist. Guerrera, wie müssen wir uns das vorstellen?«
»Die Sinners benutzen andere Namen für ihre Frauen als die restlichen Biker-Gangs – das gehört zu ihrem Image als völlig neuartige Organisation. Die Frauen, die sonst ›Mamas‹ heißen, nennen sie ›Schlampen‹, deren ›Alte‹ sind bei ihnen ›Schnitten‹. Die Schlampen gehören der ganzen Gang, das sind die Nutten, die nebenher mitlaufen. Bei denen darf quasi jeder von den Jungs, wenn er mal Lust hat, man kann sie aber auch im Austausch gegen Ersatzteile an andere Clubs weitergeben, ganz nach Belieben. Ab und zu entführt der Club ein Mädchen oder ›rekrutiert‹ eines aus einem Frauenhaus. Aber eine Schnitte gehört nur einem Typen, und daran halten sich auch alle.«
»Eine Schnitte pro Biker?«, vergewisserte sich Tim.
»Außer bei Onkel Pete, der hält sich eine ganze Handvoll. Und er gibt sich nicht damit zufrieden, dass sie eine Jacke tragen, die jedem mitteilt, wem sie gehören – seine Frauen müssen jeweils einen kleinen Finger lassen. Das ist der Preis, den man zahlen muss, wenn man mit papi chulo auf seinem dicken Schlitten fahren will.«
»Okay«, sagte Tim. »Informationen sind die Grundlage für unsere Arbeit. Wir brauchen noch mehr Informationen. Und die holen wir uns jetzt.«
Einer der Sicherheitskräfte sah ins Zimmer. »In Piru ist gerade ein Cholo von seiner Maschine geschossen worden.«
Bear lehnte sich in seinem Stuhl zurück und fing Tims Blick auf. »Die Jagdsaison ist eröffnet.«