Читать книгу Die Meute - Gregg Hurwitz - Страница 15
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ОглавлениеTim kauerte zwischen den teilweise verkohlten Leichen und begutachtete die Todesszenerie, die sich gut und gerne einen halben Kilometer über die Straße erstreckte. Die schwelenden Hüllen der Streitwagen waren geblieben und atmeten schwarzen Rauch aus. Am Rande seines Blickfeldes lag ein umgestürztes Motorrad, dessen Vorderrad sich träge drehte wie ein Windrädchen in einem leichten Luftzug. Tim schloss die Augen und versuchte, das durchdringende Gesumme der Fliegen auszublenden, doch bei diesem Geruch stürzten unerbittlich die Bilder auf ihn ein – kreisende Geier, aufwirbelnder Wüstensand, Akten, die Abdrücke von mit Tarnfarbe verschmierten Daumen aufwiesen. Seine Kriegserinnerungen unterstrichen nur, was ihm bereits vorher klar gewesen war: Hier ging es nicht um Macho-Biker, die in Kampfstellung gingen, weil jemand ihre Clubmamas ein wenig zu keck angeschaut hatte, dies war vielmehr ein taktischer Schlag, der gekonnt geplant und ausgeführt worden war.
Ein Deputy lachte und zeigte auf die münzgroßen Löcher, die die Munition in den Streitwagen in den Stahl geschlagen hatte, als sie explodierte. »Sieht ganz so aus, als hätten sie zum Abschied ihre zwanzig Salutschüsse gekriegt.«
»Finden Sie das irgendwie komisch?«, fragte Tim.
»Reicht euer Budget nicht für ein bisschen Humor?« Der Mann fuhr fort, auf seinen Block zu kritzeln.
Tim stand auf und ging zu einer Gruppe von Forensikern bei ihrem CSI-Wagen. Vor der erfolgreichen Fernsehserie hatte man sie »das Labor« genannt, aber wenn einen die Fernsehzuschauer erst mal landesweit auf den ersten Platz gewählt haben, ändern sich die Dinge gerne. Guerrera stand ein paar Meter von der Gruppe entfernt, hielt sich einen Finger ins eine Ohr und presste ein Telefon ans andere. Er nickte Tim kurz zu.
Aaronson betrachtete blinzelnd eine Kugel, die er sich mit einer Pinzette vor die Augen hielt. Er war ein schlanker Mann, der gerne tadellos gebügelte, hauchdünne Hemden mit angeknöpftem Kragen trug, durch die die Umrisse seines Unterhemds durchschimmerten. Seine Spurensicherungsberichte waren grundsätzlich mit einer Handschrift ausgefüllt, die aussah wie gedruckt.
»Und, stimmen die Sprengstoffe überein?«, fragte Tim.
»Mit dem vom Gefangenentransport? Jaja.«
»Wieder AR-15?«
»Jo. Die heißen nicht umsonst Straßenfeger.«
Bear stieg vorsichtig über die Trümmer hinweg und winkte gleichzeitig Tim und Guerrera heran. Als sie bei ihm waren, presste er sich ein Taschentuch vor Mund und Nase.
»Hört euch das mal an. Ich habe rausgefunden, wo Onkel Pete nach der Beerdigung war.« Bear verdarb den Effekt seiner dramatischen Pause mit einem Niesen. »In der Kirche. Er und seine ganze Abteilung sind in die First Baptist Church gerollt und haben die alten Herrschaften zu Tode erschreckt. Den Pfarrer allerdings nicht so sehr, der dachte eher, er hat den Fischzug seines Lebens gemacht.«
»Ist das auf den Zeitplan abgestimmt?«, wollte Tim wissen.
»Perfekt. Davor hat das gesamte Mother-Chapter unter unserer Überwachung friedlich getrauert. Ausgeschlossen, dass sie in der Zwischenzeit hier hätten rausfahren können. Das war auf jeden Fall ein Job für die Nomads.«
»Sie waren bestens informiert. Sie kannten die Route und wussten genau, welche Fahrzeuge sie in die Luft sprengen mussten.«
»Vielleicht hatten sie einen Informanten innerhalb der Cholos.«
»Bei der Rivalität? Das bezweifle ich.«
»Sie könnten einen Cholo erpresst haben.«
»Tja, befragen können wir die jetzt nicht mehr.« Tim betrachtete die qualmende Szenerie, inmitten der hölzerne Sarg, der die ganze Verwüstung unbeschadet überstanden hatte. Eine trauernde Clubmama, die sich trotz ihres gebrochenen Beins noch nicht abtransportieren lassen wollte, hatte ihnen die geheime Liste mit den Namen des Cholo Mother-Chapters übergeben. Bei einem Schnelldurchgang ließ sich bereits jeder Leiche ein Name zuordnen.
»Deswegen haben sie auch Chooch Millan erschossen«, sagte Guerrera plötzlich. Er sah sie erwartungsvoll an, bis ihm klarwurde, dass sie eine weitere Erklärung von ihm erwarteten. »Was ist das Einzige, was einen ganzen Club an einem Ort zusammenbringt?«
Tim nickte – natürlich. »Eine Begräbnisprozession.«
»Genau. Wenn du ein respektiertes Clubmitglied erschießt, hast du innerhalb weniger Tage den ganzen Verein vor deiner Nase versammelt.«
Bear musterte die Szene mit wässrigen Augen. »Krasse Rache für Nigger Steve.«
»Das ist keine Rache mehr«, meinte Tim. »Das ist ein Vernichtungsschlag.«
Er betrachtete das durchgebackene Tableau. »Und damit wollen sie den Weg für etwas ganz Großes frei machen.«
Bear unterdrückte ein Geräusch in der Kehle, und Tim machte sich auf den Weg zu seinem Auto. Bevor er losfuhr, blieb er noch ein paar Minuten sitzen und starrte das Lenkrad an. Schweigend fuhr er Richtung Stadt. In Forest Lawn hielt er an.
Sein Handy klingelte, als er aus dem Auto stieg.
»Hallo, Schatz. Heftig, oder?«
»Ja.«
Im Hintergrund hörte er Mac irgendetwas rufen, dann sagte Dray: »Hey, ich muss los. Glaubst du, dass du heute Abend zu Hause bist?«
Er lachte.
»Okay. Mein Chef braucht noch ein paar Leute, die Überstunden machen können. Bei uns ist die Personaldecke momentan nämlich auch etwas ausgedünnt. Ich kann mich ja für ein paar Überstunden eintragen, wenn es bei dir später wird.«
»Es wird später.«
»Also, dann bis irgendwann, ja? Wenn du es noch vor Sonnenuntergang schaffen solltest, bring was von Yakitoriya mit, okay?«
»Yakitoriya?«
»Frag nicht lang. Ich hab schreckliche Gelüste auf Hühnerhals.« Stimmen in der Ferne. »Okay. Ich muss jetzt wirklich. Pass auf dich auf.«
Tim klappte sein Handy zu, stieg aus und ging zwischen den Grabsteinen hindurch. Es war nicht schwierig, Paltons frischen Grasteppich zu finden. Ein Vorhang aus Lilien ergoss sich über einen Tisch, der mit Kerzen und Sträußen überladen war. Frankies jahrzehntealtes Ausweisfoto vom Federal Law Enforcement Training Center war vergrößert und in einen goldenen Rahmen gesteckt worden. Es sah aus wie ein Autogrammfoto, das bei der Reinigung um die Ecke an der Wand hängt. Die robuste und angespannte Haltung, die er auf dem Bild zeigte, wurde seinem Humor nicht gerecht. Er trug einen Anzug und lächelte nicht, toughe vierundzwanzig Jahre alt, auf dem Adamsapfel ein kleiner Schnitt vom Rasieren. Janice und er waren bereits in der Highschool ein Paar gewesen; als dieses Foto aufgenommen worden war, waren sie wohl schon sechs Jahre verheiratet. Und jetzt lag er zwei Meter unter der Erde, Kollateralschaden eines Krieges zwischen zwei rivalisierenden Biker-Banden.
Tims Gedanken wanderten zu dem Zivilisten, der bei der Explosion ums Leben gekommen war, der illegale Einwanderer im Pontiac, doch der Name wollte ihm nicht mehr einfallen. Er dachte an die Worte, mit denen Dray ihn ermahnt hatte, als er die Akten am Küchentisch studierte. Obwohl er drei Jahre älter war als seine Frau, hatte sie ihm an Lebensklugheit einiges voraus.
Er ging zwischen den Gräberreihen auf und ab und hielt Ausschau nach Hank Mancones Grab. Hank war alt, geschieden, hatte keine Kinder gehabt und hätte in fünf Jahren in Rente gehen sollen. Tims Eindruck von Mancone stammte von den wenigen Gelegenheiten, bei denen sie sich im Fahrstuhl zugenickt oder auf dem Flur aneinander vorbeigegangen waren. Er konnte sich nur daran erinnern, dass der Deputy verschroben war, Hängebacken hatte und immer nach abgestandenem Kaffee roch. In der großen Hysterie nach dem Befreiungsschlag der Sinners war er für die Kameras der Nachrichtensender und die tränenselige Öffentlichkeit nicht attraktiv genug gewesen. Es war wie bei den beiden aus irakischer Gefangenschaft befreiten US-Soldatinnen – er war eine Art Shoshana Johnson, Palton entsprach eher einer Jessica Lynch. Tim starrte auf die Reihen der grauen Grabsteine und suchte vergeblich nach einem bunten Rahmen, wie es die Blumen und Kränze rings um Frankies Grab gebildet hatten. Er rief sich die Fotos von Hanks angeschnallter Leiche ins Gedächtnis. War das Verbrechen gegen Frankie denn schlimmer? Machten die hübsche Ehefrau, die zwei Kinder, die kantigen Kiefer und die Spezialausbildung seinen Tod zu einer größeren Tragödie?
Tim trat zwischen zwei hohe Grabsteine und fand eine ältere Frau, die an einem Grab kniete. Ein paar Blumensträuße lagen auf der frischen Erde. Er folgte ihrem Blick auf den eingravierten Namen.
»Ich bin einer von Hanks Kollegen«, sagte er sanft. »Sind Sie seine Ex-Frau?«
»Seine Schwester.« Sie hob den Blick. Ihre Augen waren müde und traurig, obwohl Tim gewettet hätte, dass sie auch außerhalb von Friedhöfen so blickten. »Waren Sie ein Freund von ihm?«
»Ein Kollege«, wiederholte er. »Tut mir leid. Ich kannte ihn nicht besonders gut.«
»Niemand kannte ihn besonders gut.«
Tim ließ diese Worte unbeantwortet in der Stille des Friedhofes verwehen.
»Hank sollte letztes Jahr schon in Ruhestand gehen. Und das Jahr davor auch schon. Aber er wollte einfach nicht. Ich hab doch nichts anderes zu tun, sagte er immer.« Sie wischte sich die Nase. »Ich schätze, man erntet eben das, was man gesät hat. Wenn Sie abgeschieden leben, haben Sie auch weniger Blumen an Ihrem Grab. Und wissen Sie was? Das wäre Hank ziemlich egal gewesen. Er hätte sich nicht beklagt. Er wollte einfach mit seinem Polizeitransporter rumfahren und dabei sein.«
Tim verspürte das dringende Bedürfnis, ihr irgendetwas zu geben, seinen eigenen Verlust mit ihr zu teilen, aber er entlarvte diesen Impuls als selbstsüchtig. Sein Handy vibrierte an seinem Gürtel. »Entschuldigen Sie mich.« Er wollte noch ein paar abschließende Worte anfügen, aber sie winkte ab. Ihre Stimme klang eher bedauernd als traurig, als sie sagte: »Ich weiß. Ich weiß. Ich auch.«
Als er den Rand des Friedhofs erreicht hatte und Bear ihm ohne Punkt und Komma die neuesten Erkenntnisse herunterratterte, blickte Tim zurück. Mancones namenlose Schwester kniete immer noch vor dem Grabstein, die Hände ruhig im Schoß gefaltet.