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3. Absehen vom Ganzen

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Mit Bezug auf den Status quo der deutschsprachigen Theaterwissenschaft stellt die bis hier in groben Zügen skizzierte Position einen Einspruch dar, der im Rahmen eines in seinem Umfang begrenzten Aufsatzes in seinem Ausmaß wie seinen Grenzen lediglich angedeutet werden kann: Unstrittig erscheint mir im Einklang mit der von Christopher Balme gegebenen Beschreibung des Faches, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit Theater über eine geschichtliche, eine theoretische und eine analytische Dimension verfügt.1 Alle drei Dimensionen und die aus ihnen folgende Verknüpfung theaterwissenschaftlicher Forschung und Lehre mit Fragestellungen, Methoden und Forschungsansätzen der Nachbardisziplinen – der Geschichtswissenschaft, der Philosophie, der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, der Soziologie, Psychologie, Kunstgeschichte etc. – wären jedoch kritisch daraufhin zu untersuchen, was sich unter der Voraussetzung der beschriebenen Erfahrung, in einer Art von „Archi-Theater“2 bzw. einem Medium zu sein, das wir nicht restlos zu überblicken vermögen, ändert. Die erste Konsequenz wäre in jedem Fall die Einsicht in die Unmöglichkeit, jemals das Ganze oder die Gesamtheit zu erfassen: Unter dem Vorzeichen einer Allgemeinen Theaterwissenschaft wäre also paradoxerweise genau die Grenze jeder Allgemeinheit und jedes Ganzen sowie die notwendig unbegründbar bleibende Überschreitung zu bedenken, die mit jedem Verfahren der Deutung verbunden ist. Mit ihr verbunden wäre also nicht eine allumfassende Metatheorie des Gegenwartstheaters oder gar der theatralen Formen als solcher, sondern genau die irreduzible Grenze aller Bemühungen in diese Richtung. Das Wissenschaftliche der Allgemeinen und Vergleichenden Theaterwissenschaft, ihr Forschen, ist von daher nicht kategorisch von der ihren künstlerischen Gegenständen inhärenten Erkenntnis trennbar: Kann Theater in allen seinen Erscheinungsformen zwar auch selbst bereits als Forschungsarbeit oder mit Derrida gar als Form des Denkens3 begriffen werden, so unterscheidet es sich doch andererseits von wissenschaftlicher Forschung und philosophischem Denken durch die Flüchtigkeit seiner Resultate. Eine Theaterwissenschaft, die nicht zur Normalisierungsinstanz dessen werden soll, was an Theater als Abweichendes, Anstößiges oder, um bei der gewählten Begrifflichkeit zu bleiben: Singuläres mit den Traditionslinien der Entwicklung bricht, hätte dem Flüchtigen, Widerständigen, dem stummen Einspruch der theatralen Formen in ihrer Vielfalt, ein Vetorecht gegen ihre Vereinnahmung durch zu grobschlächtige Oberbegriffe oder Unifikationen einzuräumen. Anders verfehlte sie eben das, was Theater als Einspruchsinstanz gegen jede Totalisierung auszeichnet, die Begrenzung des Ganzen. Sie wäre dann in letzter Instanz keine Theaterwissenschaft mehr.

Damit soll allerdings nicht der berechtigte Anspruch aufgegeben werden, der im Willen zur Großtheorie im besten Fall enthalten ist und den die Formulierung einer „Allgemeinen“ Theaterwissenschaft in Erinnerung hält: Dieser Anspruch könnte mit Benjamin als der bezeichnet werden, dass man ein Kunstwerkes als nicht weniger als „einen integralen, nach keiner Seite gebietsmäßig einzuschränkenden Ausdruck der religiösen, metaphysischen, politischen, wirtschaftlichen Tendenzen einer Epoche“4 begreifen muss. Problematisch wird dieser Anspruch allerdings, wo die inkommensurable einzelne Arbeit einem allgemeinen Begriff unterworfen wird, der Singularität auf das Besondere eines Allgemeinen reduziert. Plastisch führt Benjamin dagegen, was er mit diesem „integralen“ Ausdruck meinen könnte, in seinem Moskauer Tagebuch aus, wo er eine Diskussion zum Thema „Theater und Materialismus“ referiert, die er mit Bernhard Reich geführt hat:

Ich suchte ihm zu entwickeln, welcher Gegensatz zwischen materialistischer und universalistischer Darstellungsweise besteht. Die universalistische sei immer idealistisch, weil undialektisch. Die Dialektik nämlich dringe notwendig in der Richtung vor, daß sie jede Thesis und Antithesis, auf die sie stoße, wieder als Synthese triadischer Struktur darstelle, sie komme auf diesem Wege immer tiefer ins Innere des Gegenstandes hinein und stelle ein Universum nur in ihm selber dar.5

Hier wie im zitierten Anspruch wird mit Blick auf das Kunstwerk ein gewissermaßen monadologisches Verständnis von diesem entworfen: Als „Ausdruck der religiösen, metaphysischen, politischen, wirtschaftlichen Tendenzen einer Epoche“ scheint es genau dort lesbar zu werden, wo nicht danach gefragt wird, wie es sich zu diesen – als äußerlich gedachten, irgendwie hinzutretenden – verhält, sondern vielmehr danach, wie sich diese in ihm manifestieren. Die vielfältigen „Tendenzen einer Epoche“ könnten anders als primordiales Netzwerk oder prägendes Gefüge begriffen werden, als eine Art archi-theatrale in sich zusammen gehaltene unauflösbare Zerklüftung oder Konstellation, die sich, wenn überhaupt, so nur aus dem Gegenstand heraus erschließen lässt, nachträglich und in jeder Lektüre je einmalig. Mit den theater- und tanzwissenschaftlichen Analyse-Katalogen6 sind alle Einzelaspekte einer Aufführung zu erkunden und ist das, was sie als Ganzes ausmacht, in seine Teile zu zerlegen – in einer ihrer Tendenz nach unendlichen Bewegung der Auflösung. Über diese Kataloge hinaus muss in dem Maß, in dem eine Aufführung geprägt ist von dem, was ihr als Rahmen vorausgeht und was sich mit ihr in ihrer späteren Erinnerung verknüpft, die Analyse einer Inszenierung auch aufgreifen, was als Dispositiv die Vorgänge im Rahmen einer künstlerischen Arbeit begründet wie begrenzt. Und schließlich wären über die Analyse dieses voranfänglichen Gefüges hinaus die immer noch kommenden je anderen Adressat*innen7 mitzubedenken, so oder so also das Netzwerk, das jedem ‚Theater des Menschen‘ im klassischen Sinne vorausgeht und es überdauert.

Methoden der Theaterwissenschaft

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