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Theaterhistoriographie
ОглавлениеWagners Artikel findet sich im vorliegenden Band unter der Rubrik „Theaterhistoriographie“ und markiert mit seinem praxeologischen Ansatz eine eher untypische Position unter der gegenwärtigen Theatergeschichtsschreibung. Als Gründungsdisziplin der Theaterwissenschaft bestimmten Fragen der Geschichtsschreibung maßgeblich das methodische Gerüst des Fachs bis in die 1970er Jahre, als mit dem Aufkommen der Semiotik und der Videotechnologie theoretische und technologische Innovationen erstmals ermöglichten, das Gegenwartstheater immer stärker in den Mittelpunkt des Fachs zu rücken. In ihrer Einführung in die Theaterhistoriographie (2012) definieren Jan Lazardzig, Viktoria Tkaczyk und Matthias Warstat neun „Perspektiven“ und fünf „Methoden“, die den gegenwärtigen Forschungsstand charakterisieren. Sind die Perspektiven und noch mehr die Gegenstände letztlich unbegrenzt, so sind die verwendeten Methoden doch überschaubar. Die Autor*innen zählen dazu Aufführungs- bzw. Inszenierungsgeschichte, Hermeneutik, Diskursanalyse, Vergleich/Transfer und Quantifizierung.1 Aufführungs- und Inszenierungsgeschichte bilden fachgeschichtlich die Gründungsmethode der Theaterwissenschaft im Zusammenhang mit der Rekonstruktion. Mit dem viel und kontrovers diskutierten Begriff der ‚Rekonstruktion‘ ist die Vorstellung verknüpft, Theaterhistoriker*innen könnten auf der Grundlage ausreichenden Quellenmaterials vergangene Inszenierungen in allen Einzelheiten so weit veranschaulichen, dass eine physische Rekonstruktion der Bühnenform und eine Durchführung von Aufführungen im historischen Stil möglich wären. Die grundsätzliche Frage nach dem Zweck einer solchen theaterhistorischen Rekonstruktion beantwortete Max Herrmann mit der Feststellung: „[D]as Ziel aller solcher Untersuchungen [ist] im wesentlichen die Herstellung verloren gegangener Leistungen, bis sie in der Anschaulichkeit eines unmittelbaren Abbildes vor uns stehen“.2 Auch wenn das Ziel letztlich unerreichbar blieb und die Inszenierungs-Rekonstruktion als Selbstzweck heute kaum mehr praktiziert wird, gilt die daraus entwickelte quellenkritische Methodik als wichtige Grundlage theaterhistorischer Forschung.3
Eine Auswertung der Quellen unterliegt bereits bei Herrmann einer hermeneutischen Vorgehensweise, die sich an etablierte Methoden der Geschichtsschreibung und der Texthermeneutik orientiert. Damit ist vor allem das Bestreben, vergangene Aufführungen, Textgattungen und Bühnenformen vor dem Horizont ihrer Zeit zu ‚verstehen‘ und zu kontextualisieren. Dieser Verstehens- und Interpretationsprozess ist letztlich unabschließbar und kann von jeder neuen Forscher*innengeneration überprüft und wieder in Gang gesetzt werden. Er zielt auf „ein tieferes Verständnis historischer Sinnzusammenhänge.“4 Auch wenn sich die Hermeneutik in den letzten Jahren immer wieder und vor allem ideologisch motivierter Kritik ausgesetzt sah, bilden Verstehens- und Interpretationsprozesse die methodische Grundlage beinahe jeder Form der Theatergeschichtsschreibung.
Dass die hermeneutischen Bemühungen der deutschsprachigen Theaterwissenschaft traditionell den Dramentext außer Acht ließen, kann man teilweise auch auf Max Herrmann zurückführen, der eine folgenreiche Position für das neue Fach definierte: „Das spezifisch Dichterische aber bleibt für uns ganz außer Betracht; das völlig unkünstlerische Theaterstück im engeren Sinne des Wortes ist für unsern Gesichtspunkt unter Umständen wichtiger als das größte dramatische Meisterwerk der Welt.“5 Mit diesem Erbe, das durch die Theatersemiotik noch weiter radikalisiert wurde, setzt sich Peter Marx in seinem Beitrag auseinander, der das Drama im Verhältnis zum Theater als eine „Urszene“ der deutschen Theaterwissenschaft betrachtet: „Lustvoll und doch traumatisch kehrt dieses Verhältnis immer wieder in den Forschungsdiskurs zurück.“ Marx zeigt auch, dass dieses Verhältnis, das als eine weit gefasste, bis heute grundlegende Wechselbeziehung zwischen Text und Aufführung bzw. script und performance aufzufassen sei.
Eine der wohl einflussreichsten und bis heute virulentesten Kritik an einer allzu naiven Annahme der Zugänglichkeit zu vergangenen historischen Epochen kommt von der Diskursanalyse Michel Foucaults. Sie ist sowohl eine Theorie als auch eine Methode. Sie beinhaltet eine radikale Historisierung aller Äußerungsformen, die nach Foucault bestimmen, wie und was wir über die Vergangenheit wissen können. Wenn sich Foucault zufolge Diskurse bündeln, bilden sie Episteme, ganze Wissensformationen, die eine Epoche prägen. Diskurse über ‚Bevölkerung‘, ‚Biologie‘, ‚Sexualität‘, den ‚Orient‘ usw. sind viel mehr als nur Wörter oder überzeitlich gültige Begriffe. Sie sind im Gegenteil im hohen Maße das Resultat historischer Prozesse, üben Macht aus und bestimmen und vor allem selektieren, was wiss- und sagbar ist. Deren Analyse besteht aus einer Kontextualisierung solcher Äußerungen in einer bestimmten Epoche oder über eine Untersuchung, wie sich ein Diskurs epochenübergreifend verändert.6
Während Hermeneutik und Diskursanalyse inzwischen zur methodologischen Grundausstattung der Theaterhistoriographie gehören, sind Vergleich und Transfer weniger prominent, aber dennoch wichtige Methoden, die vor allem länder- und kulturkomparatistische Forschung ermöglichen. Wenn ein Phänomen in verschiedenen historischen und/oder kulturellen Kontexten auftaucht, so ist der Vergleich ein legitimes Verfahren. Ebenso gibt es aber eine große Anzahl ‚illegitimer‘, d.h. willkürlicher Vergleiche (die Äpfel-und-Birnen-Problematik), die bisweilen die Methode des Vergleichs diskreditiert hat.7 Im Gegensatz dazu ermöglichen transfergeschichtliche Ansätze genauere Einblicke in die Prozesse, wie theatrale Praktiken ‚wandern‘ und durch Hybridisierung in anderen kulturellen Kontexten fruchtbar werden. Transfer im wortwörtlichen Sinne liegt dem Beitrag von Berenika Szymanski-Düll zugrunde, allerdings über sehr weite geokulturelle Räume. Ihr Aufsatz lässt sich in dem relativ neuen Feld der transnationalen Theatergeschichtsschreibung verorten.8 Obwohl der Schwerpunkt dieses Ansatzes eindeutig im 19. und frühen 20. Jahrhundert im Zeitalter einer global vernetzten Theaterindustrie vor dem Hintergrund imperialer und transnationaler Expansions-Politik und Modernisierung liegt, wird er auch in früheren Epochen, z.B. zur Erforschung der Wandertheater der Frühen Neuzeit, angewandt,9 wobei in diesem Fall terminologisch besser mit dem Begriff des transkulturellen operiert werden sollte. Grund dafür ist, dass transnationale Geschichte auf die Späte Neuzeit, also die Zeit, in der moderne Nationalstaaten im Denken und Handeln der Akteur*innen zu einem dominanten Faktor wurden, begrenzt ist.10 Während noch bis vor kurzem diese Kategorie der ‚Nation‘ in der Theatergeschichtsschreibung eine zentrale Rolle spielte, steigt aktuell das Interesse der Theaterwissenschaft an Phänomenen, die einen solchen engen nationalen Rahmen übersteigen und nach Verflechtungen, Interaktionen und Übersetzungen fragen. Damit wird auch methodisch eine Aussage getroffen: „Es geht darum, den nationalstaatlich (oder eben imperial) formatierten Untersuchungsrahmen zu überschreiten und das heißt methodisch: über im Kern internalistische Analysen hinauszugehen.“11 Wie untersucht man aber solche Phänomene? Da das Wandern kultureller Praktiken und ihre Hybridisierung in einem engen Zusammenhang zu sehen sind mit der Mobilität von Akteur*innen – denn es sind insbesondere einzelne Individuen, die bestimmte Praktiken und Werke auf Reisen nehmen und so transkulturellen Austausch und transnationale Zirkulation ermöglichen – zeigt Szymanski-Düll in ihrem Artikel den biographischen Zugang anhand von „Theatermigrant*innen“. Hierbei wird deutlich, dass historiographische Ansätze, die transnationalen Biographien auf die Spur gehen, nicht nur die Konsultation eines vielfältigen Quellenkorpus erfordern, sondern die Theaterhistoriker*innen auch vor sprachliche Herausforderungen stellen und in unterschiedliche Archivkulturen eintauchen lassen. Die technischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte erleichtern diesen Arbeitsprozess ungemein und ermöglichen Forscher*innen durch Digitalisierung multilokales Archivmaterial vom ‚heimischen‘ Schreibtisch aufzuspüren. Dass der Digitalisierungsprozess vieler Theaterarchive und -sammlungen jedoch mühsam verläuft, oftmals an Grenzen stößt und auch Tücken mit sich bringt, dies thematisiert der Beitrag von Patrick Primavesi in diesem Band, der sich darüber hinaus mit der Frage nach Umgang und den Methoden des Archivs auseinandersetzt.
Die von Lazardzig, Tkaczyk und Warstat angesprochene Methode der Quantifizierung spielt, wie die Autor*innen konstatieren, eine untergeordnete Rolle in der theaterwissenschaftlichen Forschung, vor allem im Hinblick auf ästhetische Phänomene. Allerdings besteht das Theaterdispositiv zu allen Zeiten nie ausschließlich aus der Herstellung und Rezeption ästhetischer Erfahrungen. Theater organisiert sich in institutionellen Strukturen, die sich durchaus für eine quantifizierbare Erschließung eignen. Rechnungsbücher, Repertoireverzeichnisse, Ticketpreise, Theaterzettel liefern zahlreiche Daten, die sinnvollerweise über quantitative Methoden erfasst und ausgewertet werden können. Im vorliegenden Band wird der empirisch-quantitative Ansatz durch den Beitrag von Thomas Renz vertreten, der sich – vielleicht bezeichnenderweise – hauptsächlich mit dem Gegenwartstheater beschäftigt, da die Theater selbst und eine Reihe anderer Institutionen Daten und Statistiken produzieren, die sich ohne zeitaufwendige Aufbereitung auswerten lassen.12 Das ist in der historischen Theaterforschung anders, wo die Datengewinnung und -aufbereitung viel Zeit beanspruchen kann. Allerdings widmet Renz auch einen kurzen Abschnitt der historischen Forschung, der er eine ‚Sonderrolle‘ zubilligt. Nichtsdestotrotz ist eine solide Theatergeschichtsschreibung, die nicht nur die dramatischen Leuchtturme (Antike, Shakespeare, Französische Klassik, Lessing, Weimar und Avantgarde) beleuchten will, auch auf quantitative Methoden wie z.B. die Spielplanforschung oder die historische Publikumsforschung angewiesen.13