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DIE REVOLUTION HAT KEIN FEMINISTISCHES GESICHT
ОглавлениеIrina Solomatina
„Wir haben uns zusammengeschlossen, damit sich drei kleine Flüsse zu einem breiten Strom des Volkszorns vereinen.“
Swetlana Tichanowskaja, Juli 2020
„Der Sommer 2020 wird in die neue belarusische Geschichte eingehen, da diese Revolution ein weibliches Gesicht hatte. Denn in dieser Präsidentschaftswahlkampagne sind die Frauen anstelle ihrer Männer angetreten.“
Veronika Zepkalo, Oktober 2020
Die Präsidentschaftswahlen in Belarus wurden seit den Vorgängen nach den Wahlen 2010 mit Repressionen gegen all jene assoziiert, die ihre Unzufriedenheit mit dem Regime zum Ausdruck brachten. Bei den Wahlen 2015 und 2020 gab es jedoch ein neues Topthema: Frauen.
2015 war Tacciana Karatkievič als Kandidatin der vereinten Opposition zur Präsidentschaftswahl angetreten, 2020 kandidierten bereits zwei Frauen: Swetlana Tichanowskaja, Ehefrau des inhaftierten Bloggers Sergej Tichanowski, und Hanna Kanapackaja, ehemalige Parlamentsabgeordnete. Am 16. Juli 2020 gingen ein Foto und die dazugehörige Pressemitteilung des Wahlkampfstabes von Viktor Babariko durch alle Medien, auf die die sozialen Netzwerke mit einer Unzahl an Memes reagierten, von „das Regime kotzt alle so an, dass sogar eine Hausfrau Präsidentin werden kann“ bis „wenn solche Schönheiten gegen die fettgesichtigen Bürokraten antreten, bin ich auch für Feminismus“. Was war geschehen?
Die Wahlkampfstäbe der registrierten Kandidatin Swetlana Tichanowskaja und der nicht registrierten Kandidaten Valeri Zepkalo und Viktor Babariko hatten sich zusammengeschlossen. Die Massenmedien titelten: „Drei Frauen gegen Lukaschenko“, „Zeit der Frauen. Drei Wahlkampfteams gemeinsam gegen Lukaschenko“, „Weiberaufstand – Bringt der vereinte Stab Belarus Geschlechtergerechtigkeit?“.
Maria Kolesnikowa aus dem Wahlkampfteam von Viktor Babariko, die den Zusammenschluss initiiert hatte, berichtete auf tut.by, dass ihr Stab schon vorher eine Strategie besprochen hatte für den Fall, dass Babariko nicht zugelassen werden sollte, nämlich „anderen Kandidaten anzubieten, die Kräfte für das gemeinsame Ziel zu vereinen. Das gemeinsame Ziel ist ein Sieg am 9. August, ein Regimewechsel. Am Donnerstagmorgen (den 16. Juli) trafen sich unsere Teams zum ersten Mal zu gemeinsamen Gesprächen (…) Und nach einer Viertelstunde hatten wir diese fünf Ziele beschlossen, die jede von uns unterschreiben kann …“ Die gemeinsamen Grundsätze der Kampagne der vereinigten Wahlkampfstäbe sind auch nach der Wahl noch aktuell:
1.Am 9. August wählen gehen.
2.Wir befreien die aus politischen und wirtschaftlichen Gründen Inhaftierten, ermöglichen das Recht auf Revision der Urteile und einen fairen Prozess.
3.Wir wiederholen die Wahl nach dem 9. August 2020 unter fairen Bedingungen.
4.Wir informieren die Wähler über die Notwendigkeit, ihre Stimme auf verschiedene Weise zu schützen.
5.Wir rufen zur Beteiligung an Initiativen für faire Wahlen und zum Einsatz als Wahlbeobachter auf.
Die Registrierung Swetlana Tichanowskajas, einer Hausfrau, die stets ihre Erfahrung als Mutter und die Liebe zu ihrem Ehemann unterstrich, sollte zum erschöpfenden Argument werden und ein detaillierteres Programm ersetzen. Die „Natürlichkeit“ der Familienstruktur wurde direkt auf das Modell des Staates als einer großen Familie projiziert.
Die Genderwissenschaftlerin Anne McClintock nennt in Dangerous Liaisons: Gender, Nation, and Postcolonial Perspectives die Angleichung der Struktur des Nationalstaats an die der Familie (mit einem Mann als Oberhaupt, einer Frau und Kindern) das zuverlässigste Mittel, um heteropatriarchale Werte zu verbreiten, die der Frau vorschreiben, für den Mann zu leben. Die Präsidentschaftskandidatinnen erwähnten soziale Probleme ausschließlich in Bezug auf die Fürsorge (für den Ehemann, die Kinder und die Belarusen), und ihre Rhetorik ließ weder eine feministische noch eine genderspezifische Agenda erkennen. Auch der vereinte Wahlkampfstab kam vollkommen ohne frauenbezogene Themen aus wie häusliche Gewalt, Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt, oder die Tatsache, dass 85,6 Prozent der Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen Frauen sind. Sie wären ganz besonders auf Schutzausstattung während der Pandemie angewiesen, die zunächst das Regime und dann auch die Opposition ignorierte.
Nicht nur die Gender-Agenda, auch die Anerkennung der Gleichstellung der Frau wird von denen ignoriert, die hinter den „drei Grazien“ (so bezeichnete sie die Vorsitzende des zentralen Wahlausschusses, Lidzija Jarmošyna) und ihren Männern stehen. Am 22. Juli teilte Veronika Zepkalos Ehemann Valeri mit: „Mit den vereinten Kräften der drei Teams wollen wir zeigen, dass selbst eine Hausfrau in der Lage ist, ihn zu besiegen. Wir schaffen ein Komitee der Nationalen Einheit, als Gegensatz zur Einheitsregierung in unserem Land. Wir teilen die Ansicht, dass wir keinen geltungssüchtigen Machthaber mehr wollen.“
Der öffentliche Diskurs verweiblichte den Protest umgehend und die Wahlkampagne der „drei Grazien“ strotzte von weißer, unschuldiger Symbolik. Die belarusische Presse bezeichnete die vereinten „Grazien“ als „Mädchen“. Gleichzeitig wurde die Teilnahme der Frauen an den Wahlen für „ihre“ Männer mit der Teilnahme von Frauen am Zweiten Weltkrieg verglichen. So sagte der Analyst Siarhiej Čaly am 18. August im Interview mit tut.by: „Die Hälfte der männlichen Bevölkerung ist im Großen Vaterländischen Krieg umgekommen, und die Frauen mussten ihre Plätze einnehmen. Das ist ein Archetyp, gegen den keine Argumentation ankommt. Diese Ereignisse in Belarus werden als erste feministische Revolution in die Geschichte eingehen. Wohlgemerkt, Feminismus im normalen Sinne dieses Wortes.“
Weder patriarchale Mythen noch geschlechtsspezifische Vorurteile, die in Belarus nach wie vor zum gesellschaftlichen Konsens gehören, kamen ins Wanken. Swetlana Tichanowskaja, Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa kämpften im Gegenteil, wie auch Tacciana Karatkievič fünf Jahre zuvor, zugunsten von Männern, die aus verschiedenen Gründen nicht am politischen Wettkampf teilnehmen konnten. Die weißgekleideten Frauen mit Blumen, die barfuß und friedlich Wiegenlieder sangen, Sicherheitskräfte umarmten oder vor ihnen niederknieten – sie waren die zentrale visuelle Begleitung der Anti-Lukaschenko-Kampagne 2020. Das „weibliche Gesicht“ des Protests ist vor allem ein medialer Effekt. Kaum einen Medienvertreter interessiert die Analyse des Wahlkampfes und der Proteste jenseits der konkreten Ereignisse, also die Diskussion über die Probleme der Beteiligung von Frauen an der Politik und die Genderdebatte im Land. Vermutlich, weil diese Aspekte auch den Wahlkampfstab nicht sonderlich interessieren. Denn es gibt nur ein Ziel: den Machtwechsel und eine Wiederholung der Wahlen unter fairen Bedingungen mit alternativen Kandidaten – den Ehemännern und Beratern.
Wie auch die alte Opposition bleibt die neue eine Geisel der Macht, und das Genderthema bleibt eine Geisel der Opposition und der Frauen, die „ihren“ Männern helfen, deren politischen Ambitionen zu verwirklichen. Frauen, die sich selbst für heteropatriarchale Werte opfern und diese für gut befinden, betrügen nicht nur sich selbst, sondern alle Frauen. Lukaschenko transportiert natürlich genau dieselben Wertvorstellungen, wenn er sich als den einzigen „harten Kerl“ geriert, der die Last des Verfassungsgaranten zu schultern in der Lage sei.
Dazu sollte man wissen, dass bereits 2001 eine Frau als starke Gegenkandidatin zu Alexander Lukaschenko gehandelt wurde: Natallia Mašerava, damals Abgeordnete in der Nationalversammlung, Tochter des ehemaligen Vorsitzenden des ZK der Kommunistischen Partei der BSSR Piotr Mašeraŭ. Ihr wurden Chancen auf den zweiten Wahlgang prognostiziert, sie zog ihre Kandidatur jedoch noch während der Unterschriftensammlung für die Zulassung zurück. Ihren Rückzug begründete sie mit der Haltung der Gesellschaft: „Ich bin für einen dritten Weg der Entwicklung unseres Landes bei den Wahlen angetreten und wollte als unabhängige Kandidatin Voraussetzungen für Wahlen schaffen, die nicht auf dem Widerstandsprinzip, sondern im Zeichen der Konsolidierung unserer Gesellschaft stehen. Es zeigte sich aber, dass unsere Gesellschaft dafür noch nicht bereit ist.“ Der Druck, den politische Spekulationen ausübten, war zu groß: „Ich sage offen, dass ohne meine Beteiligung eine Reihe von Szenarien entwickelt wurden, die mit mir überhaupt nichts zu tun haben. Ich möchte nicht in einem Zoo leben und bin weder ein ‚Lockvogel‘, noch ein ‚trojanisches Pferd‘ und auch kein ‚Igelchen im Nebel‘.“
Seit Mašeravas Versuch sind 20 Jahre ins Land gegangen. Diese Geschichte, wie auch viele andere, ist in Vergessenheit geraten. Bis heute fehlen den Aktivistinnen, abgesehen vom Streben nach symbolischen Führungspositionen und der Teilnahme an Wahlen, klare Vorstellungen über ihre eigenen Ziele.
Dennoch erschien am 21. August 2020 auf dem Cover der Wochenausgabe des britischen Guardian die stilisierte Abbildung einer Belarusin, die eine weiße Rose in der Hand hält und den Blick fest nach oben richtet – als Symbol für den friedlichen Protest in Belarus. Die offensichtliche Heroisierung in der visuellen Darstellung wird durch den Titel noch verstärkt: „Flower Power: The women driving Belarus’s movement for change“. Die belarusische Künstlerin Darja Sazanovič, die selbst an den Aktionen in Minsk teilgenommen hatte, stellte in ihrer eigenen Darstellung der Proteste die weiße Rose anders dar: Die Rose hat ihre Farbe fast verloren, von der Hand, die den dornigen Stiel hält, tropft Blut. Die Künstlerin interpretiert ihr Werk folgendermaßen: „An einem Tag der Kundgebungen war ich mit einer solchen weißen Rose unterwegs. Nach mehreren Aktionen in der Stadt war sie immer kürzer und schäbiger geworden. Ganz gleich wie ‚schön‘ diese friedlichen Aktionen mit den Blumen tagsüber waren, nachts fiel es mir schwer zu atmen, als all diese beispiellose Gewalt ins Bewusstsein rückte.“