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DIE KRAFT DES UNWISSENS

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Iryna Herasimovich

Für Ute Siebert

„… es ist diese Offenheit, oder dieses noch nicht Geschlossene,

was das Bild so lebendig macht …“

Karl Ove Knausgård: So viel Sehnsucht auf so kleiner Fläche. Edvard Munch und seine Bilder

Immer wieder lege ich diesen Essay beiseite und schreibe einen anderen Text, ein Tagebuch, in dem ich mir alles erlaube. Da bin ich mal böse, mal erfreut, mal enttäuscht, mal neidisch oder begeistert. Einiges aus dem Tagebuch sickert auch in diesem Text durch, allerdings nicht alles, die Selbstzensur ist in den letzten Monaten enorm. Nicht wegen des staatlichen Systems. Dass man da nie weiß, welche Regeln gelten und wann man sie bricht, daran habe ich mich schon längst gewöhnt. Die Selbstzensur ist vielmehr mit der Vorsicht verbunden, etwas falsch gesehen und interpretiert zu haben, jemandem zu nahe zu treten, etwas unvorsichtigerweise zu zerbrechen, das womöglich noch gar nicht so gefestigt, aber sehr wertvoll ist.

Eigentlich ist es für mich noch zu früh zum Schreiben, ich würde gerne Feldforschungen betreiben, beobachten und fixieren, was ich sehe und fühle. Im Moment ist es gar nicht so selbstverständlich festzuhalten, was man wirklich fühlt. Immer wieder bekommt man tolle Bilder und Videos zu sehen, in denen alles so klar ist: da die Bösen, die Dunklen, die Verkörperung der Gewalt und Dummheit, hier die Reinen und Guten, alles entweder schwarz oder weiß-rot-weiß, „keine Schattierungen dazwischen“, wie es in einem der Protestlieder heißt. Und man atmet erleichtert durch, in den ersten Sekunden zumindest, dann kommen Fragen und Zweifel hoch, gleich von der Scham begleitet, wie kann ich es nur wagen, das Gute und Schöne zu hinterfragen. Es ist doch so klar: da die maskierten Männer, hier die weißen, barfüßigen Frauen mit Blumen, die „für ihre Männer“ auf die Straße gehen. Darf man denn überhaupt hinterfragen, welches Frauenbild dadurch vermittelt wird, ob dieses Bild nicht die bereits bestehenden patriarchalen Strukturen festigt? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht erst später. Vielleicht aber gerade jetzt. Ich weiß es nicht.

Ist es okay, wenn man die weiß-rot-weiße Fahne zwar ästhetisch schön findet und als sichtbaren Ausdruck des Protests sehr anziehend, aber sie nicht gerade überall um sich herum haben will? Fahnen lassen mich nämlich grundsätzlich ziemlich kalt. Ich kann mir nicht vorstellen, irgendeine Fahne um die Schultern zu tragen. Gehöre ich dann immer noch zu den erwachten Belarusen? Gehöre ich dann zu diesem Wir, das siegen soll? Ich wünsche mir im Moment nichts sehnlicher, als dass wir siegen, komme aber nicht umhin, daran zu denken, wer denn genau dieses Wir ist und was „siegen“ bedeutet.

Ich kenne in Bewegung geratene Räume aus meiner Arbeit als Übersetzerin und weiß, wie gefährlich es sein kann, das scheinbar Offensichtliche nicht gründlich nach Bedeutungen und Konnotationen abgeklopft zu haben. Es kann sein, dass das Offensichtliche viel mehr Sinnschichten aufweist, als auf den ersten Blick sichtbar waren. Dann muss man zurück und von neuem im ganzen Text überprüfen, ob man alle Bedeutungen eingefangen hat. Und selbst dann ist man unsicher, ob man alles weiß.

Im Übersetzerberuf gehört das Zulassen des Unwissens, die Bereitschaft zu Wissenslücken zur Professionalität. Es fördert die Hellhörigkeit. Unwissen bedeutet nicht, dass man nicht handelt, das tut man durchaus, aber eben stets mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass jede Lösung überprüft werden muss. Man hält den entstehenden Text die ganze Zeit offen und tastet ihn in viele Richtungen ab. Das wünsche ich mir auch für den Neuanfang der belarusischen Gesellschaft. Derzeit fürchte ich mich vor Menschen, die genau zu wissen scheinen, was in Belarus passiert, wie gehandelt werden soll und was weiter kommt. Solche Menschen verteidigen ihre Ansichten oft ziemlich hart. Das gesicherte Wissen scheint nur in einem von jedem Hinterfragen gereinigten Raum überlebensfähig zu sein. Das vermeintliche Wissen, wer wie ist, führt dazu, dass es inzwischen gar nicht viel braucht, um das Label „Lukaschist“ oder „Lukaschistin“ angehängt zu bekommen. Es reicht schon, irgendwelche Aussagen oder Handlungen der Führerinnen oder Führer der Opposition in Frage zu stellen. Das ist mir auch schon passiert, als ich zum Beispiel kritisierte, dass Swetlana Tichanowskaja von dem „weisen Moskau“ spricht und nicht mit Fragen über die Krim gequält werden möchte. Ja, ich habe ihr meine Stimme als Protestkandidatin gegeben, die nichts als Freilassung der Gefangenen und Neuwahlen forderte. Dies unterstütze ich voll und ganz, aber darf ich mich jetzt etwa von keiner ihrer Äußerungen irritieren lassen?

Wenn man nichts hinterfragt, landet man doch ganz schnell auf dem gefährlichen Feld der einfachen und eindeutigen Antworten, die auch Lukaschenko seinerzeit der Gesellschaft angeboten hatte. Der Gesellschaft, die von der Wende und der auf sie eingestürzten Freiheit geplagt worden war, von der Offenheit eben und dem Unwissen, was richtig ist und was nicht. Da kam der vermeintlich starke Mann, einer aus dem Volk, der genau wusste, wer schuldig ist und bestraft werden sollte. Das scheint er bis heute zu wissen, nur dass die Gesellschaft aus dem Prokrustesbett seiner „väterlichen“ Sorge dermaßen herausgewachsen ist, dass es nicht mal ausreicht, die überstehenden Gliedmaßen abzuhacken, wie das der attische Räuber Prokrustes mit den Reisenden zu tun pflegte, denen er das Bett anbot. Die Gesellschaft ist aufgewacht und versucht jetzt mit aller Kraft, das Bett zu verlassen. Ich hoffe sehr, dass sie sich nicht mehr in ein wie auch immer geartetes neues Prokrustesbett zwingen lässt.

Es ist nicht leicht, bringt aber viel weiter, wenn man das Unwissen, die Koexistenz von mehreren Wahrheiten aushält, statt sich in eindeutige Antworten zu stürzen. Eindeutige und einfache Antworten erweisen sich ja allzu oft im besten Fall als realitätsferne Konstrukte, im schlimmsten als Täuschungen oder gar Lügen. Was aber wiederum nicht heißt, dass Eindeutigkeit ganz zu vermeiden ist. Wenn es zum Beispiel um die Unantastbarkeit der menschlichen Würde und des menschlichen Lebens geht, sind Eindeutigkeit und Stringenz geboten. Und zwar in allen Fällen. Ja, wirklich in allen, auch in Bezug auf den OMON. Neulich habe ich mit einem Freund darüber diskutiert, ob es gut ist, dass es in Belarus immer noch die Todesstrafe gibt, ob sie auf die OMON-Leute angewandt werden müsste. Ich bin dagegen, unter anderem, weil ich nicht mehr in einer Gesellschaft leben will, wo es jemandes Beruf ist, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen. Wie soll man mit OMON und Lukaschenko verfahren, was soll die gerechte Strafe sein für all das Leid, das sie den Menschen zufügen? Das weiß ich nicht. Und ich bleibe erst einmal in diesem Unwissen, in alle Richtungen, auch in mein eigenes Inneres, nach Antworten tastend, in die Vergangenheit wie in die Zukunft. In der Vergangenheit finde ich beispielsweise eine Episode, die sich mir eingeprägt hat: Anfang der 2000er Jahre. Potsdam. Jugendbegegnung zum Thema Vergangenheitsbewältigung. Ein rumänischer Jugendlicher, etwa 18 Jahre alt, erzählt von der Hinrichtung Nicolae Ceauşescus. Er spricht mit großer Begeisterung darüber, wie froh und glücklich er über diese Hinrichtung ist. Mir wird unheimlich: Ich sehe einen Menschen, der nicht nur den Tod eines anderen wünscht, sondern darüber glücklich und froh ist. Wie sehr die Hinrichtung auch diesen Jugendlichen entstellt hat! Was bringt ihn in diese Stimmung? Ist das seine eigene Freude oder die des Kollektivs? Wie und wo werden individuelle Gefühle zu kollektiven und umgekehrt? Vielleicht dort, wo die Reproduktion von Symbolen, Gesten und Bildern einsetzt? Vielleicht bin ich deswegen so unsicher, wenn ich zum zigsten Mal das gleiche Lied höre oder den gleichen Satz, ich weiß dann nicht, wessen Aussage das genau ist. Wer die Verantwortung für diese Aussage trägt. Wem soll mein Vertrauen oder Misstrauen gelten? Wo ist die Grenze zwischen Solidarität und Gruppendruck? All das weiß ich auch nicht, zumindest nicht für alle Situationen. Jede Situation erkunde ich diesbezüglich neu. Daran bin ich auch dank meines Berufs als Übersetzerin gewöhnt: jeden Text neu zu erkunden, unabhängig davon, wie viele ich bislang übersetzt habe und was ich schon alles weiß.

Ob in politischen Krisen oder in der Pandemie – die Bereitschaft, die Unbestimmtheit auszuhalten und sich von den gewohnten Ansichten zu lösen, kann lebensrettend sein. Das Unwissen zuzulassen bedeutet nicht, dass man stehen bleibt, es bedeutet nur, dass man sich in kleinen Schritten bewegt, bis das echte Wissen sich einstellt, das zumindest für eine gewisse Zeit der Realität standhalten kann.

Das Unwissen hilft, die Realität, sich selbst und das Gegenüber wirklich kennenzulernen. David Bohm schreibt in seinem Buch Der Dialog. Das offene Gespräch am Ende der Diskussionen wie wichtig es für einen Dialog ist, alle Annahmen erst einmal in der Schwebe zu halten, um sie gründlich zu betrachten und dadurch einander kennenlernen zu können. Die Bereitschaft zum Nicht-Wissen ist außerdem eine wichtige Grundlage für einen unhierarchischen Austausch auf Augenhöhe. Diese Bereitschaft fehlt so häufig den Vertretern der belarusischen Macht. Die Machthabenden versagen auf allen Ebenen, wenn sie mit dem eigenen Un-Wissen konfrontiert werden. Ein Professor weiß, wie es in der Universität laufen soll, wie man Studentinnen und Studenten einschüchtert, aber wenn die Studenten sich nicht mehr einschüchtern lassen, fällt der Professor mit all seinem „Wissen“ in ein tiefes Loch und ist hilflos. Das belarusische System war jahrzehntelang in sich geschlossen, kaum für Veränderungen zugänglich. Die ganze Bewegung brodelte unter der Oberfläche, die nun aufplatzt. Die Gesellschaft ist jetzt geteilt: Ein Teil verschließt sich noch mehr, der andere ist offen, manchmal wie eine klaffende Wunde.

Schauen, beobachten, die Realität neu kennenlernen, ist harte Arbeit. Groß ist die Versuchung, die Realität zu erfinden statt sie kennenzulernen, im letzten Fall wird es oft wieder ambivalent. Wenn man diese Ambivalenzen wahrnimmt, kann man schwer in einem Atemzug hoch erhobenen Hauptes durch die Revolution marschieren, immer wieder ist man gezwungen, stehen zu bleiben, inne zu halten, die eigene Angst zu versorgen, zu überprüfen, was man sieht, und inwieweit es einem entspricht.

Der Prozess des Kennenlernens fängt jetzt in Belarus auf der gesellschaftlichen Ebene erst an. Die faszinierenden Hof-Communities, die zu wichtigen Plattformen der Selbstorganisation geworden sind, sind Aushängeschilder dafür. Da ist das neue Belarus, von dem so oft die Rede ist, zum Greifen nah: Zwischenmenschliche Begegnungen und Interesse an Kultur, Auftritte von Musiker*innen und Dichter*innen – das hält die Gesellschaft in Schwung, wie auch der Anblick von älteren Menschen und Menschen mit Behinderung, von denen manche zum ersten Mal so offen mit ihren Forderungen auf die Straße gehen. Das ist so atemberaubend, dass ich ab und zu gerne übersehe, dass es auch Menschen gibt, die mit der Revolution im Hintergrund nach einem hundertprozentig legitimen Hype für sich suchen. Ich schiebe erst einmal die Erkenntnis beiseite, dass Menschen in Chats von einigen Hof-Communities wegen „pessimistischer Haltung“ blockiert werden. Man weiß schon, dass Optimismus für eine Revolution unentbehrlich ist. Aber weiß man denn auch, wohin mit dem Pessimismus? Wohin sollen die blockierten Chat-Teilnehmenden denn mit ihren Zweifeln? Und wir dürfen nicht vergessen, dass gar nicht alle Mitbürger*innen in diesen Chats sind. Was ist mit den anderen? Gehören sie dann auch zu der neuen belarusischen Gesellschaft, oder bleiben sie außen vor? Was ist mit denen, die die Seiten wechseln und dies so selbstverständlich tun, als wären sie nie Teil des Systems gewesen? Was ist mit denen, die im Moment orientierungslos sind und einsam? Gehören sie zu diesem Wir, das siegen soll? Wie wird die Kommunikation mit ihnen aufgebaut? Das weiß ich auch nicht. Und ich möchte, dass die freudigen Optimisten das auch einmal nicht wissen und sich danach fragen, statt zu der schnellen Lösung der Blockade im Chat oder wozu auch immer zu greifen.

„Belarusen, ihr seid unglaublich!“ – den Satz aus der Wahlkampagne hört man immer noch oft. Man spricht davon, dass er eine psychotherapeutische Wirkung auf die Belarusen habe. Das bringt mich immer wieder aus der Fassung, denn Psychotherapie ist Arbeit, mit Tiefen und Höhen, wo das Fortkommen eher einer Bewegung im Kreis ähnelt: Immer wieder stolpert man über denselben Problemknoten, bis man ihn auflöst, um ein paar Schritte weiter am nächsten stehen zu bleiben. Mir ist deswegen ein Optimismus, der die Blockade braucht, höchst suspekt, auch in Zeiten der Revolution. Wir brauchen unbedingt Räume, in denen auch Zweifel zugelassen sind, Trauer, Wut, Enttäuschung und Angst, in denen Menschen nachholen können, was sie emotional in all den Jahren womöglich versäumt haben: nah an sich selbst und an den eigenen Bedürfnissen zu sein. Das sich-Ducken, Biegen und Bücken hat hierzulande eine lange Tradition. Das schüttelt man nicht in ein paar Monaten ab.

Fürst Myschkin wird bei Dostojewski von den „doppelten Gedanken“ geplagt, wenn einander ausschließende Dinge gleichzeitig zutreffend sind. Dadurch wird er am Handeln gehindert. Handeln dagegen kann Rogoschin, der nur von einem einzigen Gedanken besessen ist: Nastassja Filippowna zu bekommen. Muss man auf „doppelte Gedanken“ verzichten, um handeln zu können? Oder kann man sich sowohl die „doppelten Gedanken“ als auch die Fähigkeit zum Handeln bewahren? Beim Schreiben geht das ganz gut, so ist dieser und sind andere Texte für mich ein Einüben im Handeln ohne Verzicht auf „doppelte Gedanken“. In der Psychotherapie spricht man von der Verengung des Wahrnehmungshorizonts in Krisensituationen. Einer der möglichen Behandlungswege wäre, den Wahrnehmungshorizont zu erweitern, vielleicht auch durch das Zulassen der eigenen „doppelten Gedanken“. Aus diesem Grund scheint mir die Rolle der Kunst und Literatur so wichtig. Nicht nur der direkten Protestkunst, die die Stimmung schafft, sondern auch der Kunst und Literatur als ein Labor, in dem das tiefe Erkunden des Menschlichen legitim ist.

Eine enge Freundin von mir ist gerade schwer krank. Die Medikamente wirken nicht, die Ärzte suchen seit Monaten nach Lösungen, es bleibt aber ungewiss, wie viel Zeit sie noch hat. Neulich telefonierten wir lange, es war ein sehr lebendiges Gespräch mit Weinen und Lachen. Irgendwann sagte sie, dass sie gar nicht weiß, wie sie sich auf den Tod vorbereiten, was sie denken und tun soll. Sie hätte immer gedacht, man könne das Leben abschließen und jetzt sehe sie, dass das gar nicht geht. Ist denn nicht jedes Unwissen mit diesem letzten Unwissen verknüpft? Ist das womöglich der Grund, warum wir das Unwissen so oft mit Annahmen und Interpretationen zupflastern? Die Freundin sagt, wie wohltuend es ist, dass sie mir das sagen kann und ich ihr keine Ratschläge gebe. Im gemeinsamen Aushalten des Unwissens kommen wir uns sehr nahe.

Genau diese Erfahrung mache ich auch mit meinen Mitmenschen in Belarus. Die Gesellschaft in Belarus hat etwas ganz Wichtiges gewagt: eine Bewegung, ohne genau zu wissen, wohin sie führt. Eine Bewegung, die von der so wertvollen Erkenntnis über die Unzulässigkeit von Gewalt und Fälschungen getragen wird. Ich wünsche mir, dass diese Bewegung und somit die Offenheit möglichst lange anhalten, dass sie uns an Ikonen, Anführer*innen und Gruppendruck vorbeiführen, zu uns selbst und zu den in uns selbst gefundenen oder gewachsenen Werten, an denen wir uns orientieren können. Dann werde ich bestimmt zu dem Wir gehören, das gesiegt hat. Dann kann ich womöglich auch den Tagebuchtext veröffentlichen, ohne jemanden in seinem Optimismus zu stören.

BELARUS!

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