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Politisierung der Gesellschaft

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Die während der Pandemie wachsende Politisierung breiter Bevölkerungsschichten wurde mit der Wahlkampagne ab Mai intensiviert. Man konnte plötzlich einen Aktivitätsschub bei den Bürger*innen beobachten, und die Wahlkampagne wurde überraschend sowohl für Belarus*innen als auch für internationale Betrachter zu einer Art „Reality-Show“.

Eine Rekordzahl von 55 Initiativgruppen reichte Anträge ein, um Kandidat*innen für die Präsidentschaftswahl zu nominieren. Der frühere Chef der Belgazprombank, Viktor Babariko, konnte in nur einer Woche fast 9.000 Freiwillige für seine Initiativgruppe online rekrutieren. Zum Vergleich: Präsident Lukaschenko konnte mit seinen enormen Ressourcen rund 11.000 Personen registrieren. In einem Monat (21. Mai – 19. Juni) waren landesweit über 127.000 Menschen an der Sammlung von Unterschriften für potenzielle Kandidat*innen beteiligt; ein großer Teil davon, wenn nicht die Mehrheit, war vorher nie politisch aktiv gewesen.

Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten und Altersgruppen standen landesweit in endlosen Warteschlangen, um ihre Unterschriften für alternative Kandidat*innen abzugeben. So kam die damals unbekannte Swetlana Tichanowskaja, die an Stelle ihres verhafteten Mannes, des bekannten Youtube-Bloggers Sergej Tichanowski kandidieren wollte, auf über 100.000 Unterschriften. Viele wussten nicht einmal, wie sie hieß oder wo sie arbeitete – Menschen unterzeichneten aus Solidarität und aus Protest gegen Lukaschenko.

Aus diesen Warteschlangen wurden nach der Inhaftierung von Viktor Babariko, dem bis dahin wichtigsten Konkurrenten für Lukaschenko, die spontanen Solidaritätsketten von Menschen im ganzen Land. Als am 15. Juli keiner der populären Alternativkandidaten für die Wahlen registriert wurde, rief das Wahlteam von Babariko Belarus*innen dazu auf, Beschwerden bei der Zentralen Wahlkommission einzureichen – am nächsten Tag bildete sich vor dem Gebäude der Wahlkommission in Minsk eine mehrere Kilometer lange Schlange. Es wurden über 5.000 Beschwerden eingereicht – ein für Belarus einzigartiger Grad politischer Aktivität.

Das spontan und aus Not gebildete, aber sofort populär gewordene „Frauentrio“ Tichanowskaja, Kolesnikowa und Zepkalo besuchte innerhalb von drei Wochen 13 Städte und zog bei ihren Kundgebungen in den Regionen bis zu fünf Prozent der Bevölkerung an – eine unerhörte Zahl für die traditionell passiven belarusischen Wähler*innen. In Minsk fand am 30. Juli die größte Wahlkundgebung in der belarusischen Geschichte statt, die von 60.000 bis 70.000 Menschen besucht wurde. Die drei Frauen wurden wie Rockstars behandelt: Menschen fragten sie nach Autogrammen und Bildern, zeichneten Gemälde mit ihnen, trugen Kleidung mit den Triosymbolen und sangen mit ihnen die Oppositionshymne Mury (Mauern).

Auch zur Wahlbeobachtung wurden Belarus*innen mobilisiert wie nie zuvor: In den ersten fünf Tagen nach der Ankündigung der Wahlbeobachtungsinitiative des Teams Babariko bewarben sich rund 5.000 Menschen, und bis zu den Wahlen stieg diese Zahl auf fast 10.000. Dazu kamen Kampagnen der Menschenrechtsorganisationen. So kam es letztendlich zu den schon zur „Tradition“ gewordenen Warteschlangen auch am Wahltag – sowohl in Belarus als auch im Ausland vor den Botschaften. Eine derart hohe Wahlbeteiligung hatte Belarus noch nie erlebt.

Damit sind Solidaritätsketten und Warteschlangen in gewisser Weise zum Symbol der Präsidentschaftswahlen 2020 geworden. Und diese Tradition fand auch nach den Wahlen eine Art Fortsetzung: Frauen, Studierende, Ärzte, einfache Bürger*innen sammelten sich in Solidaritätsketten gegen staatliche Gewalt, während sich Schlangen von Käufer*innen vor Geschäften bildeten, die in der einen oder anderen Form Solidarität mit der Protestbewegung zeigten – so wollten die Belarus*innen sie zumindest finanziell unterstützen.

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