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Solidarität und Selbstorganisation

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Belarus wurde Anfang 2020 für seine „Corona-Dissidenz“ plötzlich weltbekannt: Fußball- und Eishockeymeisterschaften der Profis wurden nicht ausgesetzt, die Staatsgrenzen blieben offen, eine Militärparade sowie ein landesweiter Subbotnik, also breit aufgezogene Arbeitseinsätze, fanden statt wie eh und je. Präsident Lukaschenko nannte das Coronavirus eine „Psychose“; seine Empfehlungen, gegen Covid-19 mit Wodka, Sauna, Eishockey oder Feldarbeit vorzugehen, sorgten weltweit für Schlagzeilen.

Die inkohärente und unzureichende Informationspolitik des Präsidenten, des Gesundheitsministeriums sowie der staatlichen Medien in der Pandemie führten sofort zur Kritik von nichtstaatlichen Medien, Unternehmen, Opposition, Expertenkreisen und überhaupt einem beträchtlichen Teil der Gesellschaft. Es wurde deutlich, die Belarus*innen glaubten nicht an die Fähigkeit des Staates, die Epidemie zu bekämpfen, sie initiierten selbst die sogenannte „Volksquarantäne“. Menschen arbeiteten nach Möglichkeit von zu Hause, beschränkten ihre sozialen Kontakte und machten die anderen auf das Virus aufmerksam. Petitionen für die Einführung einer Quarantäne wurden initiiert, während Fans führender Fußballvereine die Spiele boykottierten. Medizinisches Personal veröffentlichte selbsterstellte Informationsvideos im Internet.

Eine der wohl größten Spendenaktionen in der belarusischen Geschichte – Bycovid19 – versorgte Krankenhäuser mit der notwendigen Ausrüstung, die dank Privat- und Firmenspenden gekauft wurde (250.000 US-Dollar wurden in den ersten eineinhalb Monaten gesammelt). Die Kampagne vereinte Privatpersonen, zivilgesellschaftliche Gruppen, Unternehmen, die Gesundheits- und Außenministerien und sogar die belarusische Diaspora. Diese einzigartige Solidaritätswelle wurde später in die Wahlkampagne „übertragen“. Als ein Notarzt, der die Covid-19-Maßnahmen des Staates kritisierte, entlassen wurde, sammelten Belarus*innen innerhalb von 24 Stunden seinen Jahreslohn (etwa 5.400 US-Dollar) über Crowdfunding. Nach den Wahlen engagierten sich Freiwillige für neue Spendeninitiativen – dieses Mal für Opfer von Polizeigewalt und weiterer Repressionen sowie für Menschen, denen gekündigt wurde, weil sie zur Unterstützung von Protesten in den Streik getreten waren oder aus Protest selbst gekündigt hatten. In nur wenigen Tagen wurden für solche Zwecke online über zwei Millionen US-Dollar gesammelt.

Witz und Ironie wurden zu einem wichtigen Bestandteil der Solidarität und des Widerstands. Als Reaktion auf die Aussagen des Präsidenten über Corona-Opfer („Warum läufst du durch die Straßen, wenn du morgen 80 Jahre alt wirst?“), starteten Belarus*innen einen Flashmob mit dem Titel „Letztes Wort des Präsidenten“ – sie veröffentlichten im Namen des Präsidenten Nachrufe für sich selbst, als wären sie an Covid-19 gestorben.

„Sascha 3%“ wurde zum bekanntesten Slogan gegen Lukaschenko in diesem Frühling und Sommer (Sascha als Kurzform von „Alexander“). So reagierte die Gesellschaft, einschließlich einiger Unternehmen, auf das Verbot von inoffiziellen Online-Umfragen; die hatten ergeben, dass die Unterstützung für den Präsidenten zwischen drei und sechs Prozent lag. Wahrscheinlich spiegelten diese Zahlen die Realität nicht ganz wider – anderen Erhebungen staatlicher Soziologen zufolge lag das Vertrauensniveau gegenüber dem Präsidenten in Minsk im April bei 24 Prozent. Dennoch zerstörte der 3%-Slogan die Idee ungebrochener Legitimität des Präsidenten und zeigte die Respektlosigkeit eines erheblichen Teils der Gesellschaft ihm gegenüber. Ein weiteres Beispiel ist ein Slogan des Bloggers Sergej Tichanowski „Stop Kakerlake!“. Er wurde spontan aus einer emotionalen Rede einer Bürgerin übernommen, die den Präsidenten mit einem Insekt verglich – dieses Video kam schnell auf über eine Million Aufrufe auf Youtube.

Die belarusische Gesellschaft war für ihre paternalistische Einstellung bekannt, also auch für die Erwartung, dass der Staat eine wichtige Rolle in der Wirtschaft und im sozialen Leben übernimmt. Die rasche Zunahme von Formen der Selbstorganisation zeigt ein anderes Bild: Jüngste Umfragen bestätigen, dass bereits über 60 Prozent der Belarus*innen paternalistischen Formen nicht mehr viel abgewinnen können, während eine Mehrheit in Fragen des Welfare, der Bildung, Gesundheitsversorgung und Beschäftigung dazu tendiert, eher auf sich selbst zu vertrauen.

Der Grad der Selbstorganisation war allerdings noch im Jahr 2017 sehr gering: Nur fünf Prozent der Bürger*innen brachten einer Umfrage des Zentrums CET zufolge Erfahrung mit informellen Aktionen und Initiativen mit. Umso mehr überrascht die beispiellose Selbstorganisation der Belarus*innen vor und nach den Wahlen von 2020. Die Solidaritätswelle im Frühjahr schenkte den Menschen offenbar eine Erfahrung von „kleinen Siegen“, die ihr Vertrauen in sich und andere stärkte.

Der Niedergang des Paternalismus im Land geht mit einem geringen Vertrauen in die Behörden einher. Laut einer Umfrage von 2017 – 2018 (durch das Projekt BIPART der School of Young Managers in Public Administration) vertrauten nur etwa 40 Prozent der Menschen der Regierung, nur 34 Prozent den Ministerien und 33 Prozent den lokalen Behörden, während über 64 Prozent Politiker*innen und Beamt*innen generell nicht vertrauten. Aber auch das allgemeine Vertrauensniveau in der Gesellschaft war 2018 noch recht gering – nur leicht über die Hälfte der Befragten zeigten Vertrauen gegenüber den eigenen Mitbürger*innen. Das Jahr 2020 hat das wesentlich verändert.

Auch in anderen postsowjetischen Autokratien haben fehlende wirksame staatliche Maßnahmen gegen die Pandemie zur Aktivierung von Bürgergruppen geführt. In Belarus haben diese Entwicklungen allerdings den Wahlprozess erheblich beeinflusst – diese „ausgeübte“ Solidarität und das neue Vertrauen zu Mitbürger*innen trugen ohne Zweifel zur gegenwärtigen Politisierungswelle in der belarusischen Gesellschaft bei.

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