Читать книгу Geschichte erzählen. Strategien der Narrativierung von Vergangenheit im Mittelalter - Группа авторов - Страница 22

IV. Fazit

Оглавление

Der Caesar-Abschnitt handelt von der Begründung des Kaisertums in Rom und fungiert damit als fundierender Mythos für die in einer Serie von – überwiegend in sich abgeschlossenen – Einzel-‚Viten‘ der jeweiligen Herrschaftsträger entfaltete Geschichte des Römischen Reiches vom Anbeginn bis in die Gegenwart des 12. Jahrhunderts, wie der Prolog der A-Fassung sie ankündigt (vgl. V. 15–23). Als Fluchtpunkt des Abschnitts lässt sich die Akkumulation von Macht durch Caesar benennen: […] er aine habete den gewalt / der ê was getailet sô manicvalt (V. 522f.), die als Erklärung für die Einführung der als Majestätsplural aufgefassten Ihr-Anrede angeboten wird (vgl. V. 520–525). Das Prozesshafte des Vorgangs entfaltet der Text mittels einer bi-polaren Raumstruktur, bei der sich Gebiete gegenüberstehen, die sich, von Rom aus betrachtet, diesseits und jenseits der Alpen befinden und dementsprechend als ‚römisch‘ und als dûtisc bezeichnet werden. Für die Etablierung des Römischen Reiches sind der Darstellung zufolge Aktionen und Vorgänge erforderlich, die die Gewichte und das Verhältnis zwischen den mit Handlungsmacht ausgestatteten Akteuren – den Römern respektive dem Senat als der Führungselite Roms, dem jungen Krieger aus dem Geschlecht der Julier und den Bewohnern der transalpinen Gebiete – verschieben. Fokussiert man, wie die Erzählung es vorgibt, die Figur des Juliers, erscheint die politische Veränderung als ein von ihm vollzogener Seitenwechsel: Sein kriegerisches Handeln gegen transalpine Feinde im Auftrag des Senats schlägt in ein militärisches Handeln gegen den Senat im Verbund mit den einstigen Gegnern um; beides erfolgt indes letztlich, so die vom Text lancierte Perspektive, im Interesse Roms und der römischen Weltmacht. Entscheidend für die (positiv gewertete) Veränderung der Machtverhältnisse ist dabei, dass ein Bündnis zwischen dem Julier und den zuvor mit äußerster Härte bekämpften Einwohnern der transalpinen Gebiete zustande kommt – nur mit deren Unterstützung lässt sich der Weg zur Alleinherrschaft Caesars überhaupt beschreiten. Diese von dem römischen Feldherrn und Politiker begründete kooperative Ordnung präludiert in gewisser Weise die nachfolgend von Caesar unter maßgeblicher Beteiligung der Dûtisken geleistete Errichtung einer Weltordnung unter der Führung Roms. In diesem Kontext erscheint das Vorhandensein von zwei Bezeichnungsweisen für die Einwohner des transalpinen Gebiets mehr als eine Frage der Perspektive in dem Sinne, dass erst und nur für die Nahsicht Eigenarten und Unterschiede innerhalb einer multiplen Einheit erkennbar würden. Dass die einzelnen gentes der Schwaben, der Baiern, der Sachsen und der Franken in dem Moment in der Erzählung hervortreten, in dem der römische Feldherr die Alpen überquert hat und dass sie einzeln von ihm im Kampf besiegt und/oder mit anderen Mitteln gewonnen werden müssen, unterstreicht die von ihm vollbrachte einigende Leistung. Solange bleibt er […] under in, / unz im alle Dûtiske hêrren / willic wâren ze sînen êren, vermerkt der Erzähler in Vers 452–454. Die für den Sturm auf Rom rekrutierten Truppen, die als scar manige (V. 472) zusammenkommen, ziehen schließlich als ain fluot […] ze Rôme in daz lant (V. 476). Der Vorgang ist freilich nicht voraussetzungslos, sondern er ist in der durch die verschiedenen origo-Erzählungen attestierten (kämpferischen) Vorzüglichkeit der einzelnen gentes und über die Behauptung eines gemeinsamen Ahnherrn der Römer und der Franken grundgelegt.

Was das Gegenüber von römischen Herrschern und ‚deutschen‘ Gegnern angeht, liegt dem Tarquinius-Abschnitt eine andere Konfiguration zugrunde. Ein Fürst aus Trier, „einer, der aus einem anderen lande, einer anderen patria stammt als die Bewohner Roms“1 und als solcher zumindest in zweiter Linie auch den ‚deutschen Landen‘ zugeordnet wird, gelangt als politischer Flüchtling nach Rom, wird zur Stütze des römischen Gemeinwesens und macht Karriere in Nähe zum Herrscher. Das Erzählinteresse liegt hier indes auf der durchaus mit gewissen Ambivalenzen gezeichneten Entstehung einer Störung im Verhältnis zwischen dem römischen König aus dem Geschlecht der Tarquinier und seinem nicht-römischen Fürsten, die im Falle der Herrscherfigur mit einer Negativierung einhergeht; ihre Komponenten sind: Empfänglichkeit für falschen Rat, mangelnde Selbstbeherrschung, Loyalitätsbruch, Missbrauch der Gastfreundschaft, Erpressung und Ausübung mentaler wie körperlicher Gewalt. Die Vergewaltigung Lucretias und die Selbsttötung, die sie heraufbeschwört, markieren eine Grenzüberschreitung, die, sobald sie öffentlich gemacht wird, den König für das römische Gemeinwesen nicht mehr tragbar macht; der Senat fasst den Beschluss,

daz Tarquinjus niemer mêre

newurde ir kunic noh ir rihtære.

er wære von grôzen sculden ûz genomen,

daz er niemer mêr zir râte solte komen (V. 4797–4800).

Tarquinius bleibt nur die Flucht aus der Stadt. Seine Entfernung aus dem Königsamt und sein Ausschluss aus der politischen Führungselite Roms werden als Reaktionen eben dieser Führungselite auf das spektakuläre Selbstopfer Lucretias im Dienste der gesellschaftlichen Ordnung profiliert. Greifbar wird hier ein Verständnis des Politischen, bei dem die Spielräume herrscherlicher Macht durch die Notwendigkeit einer moralischen Legitimation des Herrschers begrenzt werden. Beim Aufweis des Funktionierens dieser Ordnung hätte man es belassen können. Stattdessen verschiebt der Text die Aufmerksamkeit am Ende des Abschnitts ein weiteres Mal hin zu Conlatinus und nun zu dem von ihm verübten Königsmord. Dass auch er eine anmaßende, sich gegen geltendes Recht stellende Grenzüberschreitung darstellt, welche das Gemeinwesen nicht hinnehmen kann, kommt im Ausklang des Abschnitts im Fluchtmotiv zum Ausdruck, in dem der Auftakt des Erzählens, das abbreviaturhafte Hereinzitieren von politischen Vorgängen in Trier, noch einmal nachhallt, sodass die Erzählung zu einer Kreisstruktur findet. Eine Verurteilung von Conlatinus’ Handlungsweise gibt es freilich nicht – der Text akzentuiert, im Gegenteil, dessen übermächtiges Leid angesichts der Zerstörung seines persönlichen Glücks und bringt auf diese Weise eine zusätzliche Motivationsebene zur Geltung. Dass ‚Privates‘ und ‚Politisches‘ dabei trotz der im Text zumindest angedeuteten Problematik des fürstlichen Handelns nicht in Widerspruch geraten, sondern weitgehend parallel geführt werden können, dafür sorgt nicht zuletzt die in der Kaiserchronik praktizierte Engführung von Herrschaftspraxis und Todesart: Tyrannen sterben (in der Regel) auf gewaltsame Weise.2 In dieser Erzähllogik fungiert Conlatinus, der Fürst und ellende man aus Trier, nicht nur als Katalysator von Vorgängen, die eine Fehlbesetzung im Königsamt hervortreiben und die ‚Selbstreinigungskräfte‘ des römischen Gemeinwesens aktivieren – mit seinem Königsmord fällt er darüber hinaus ein Urteil, das der im Prolog ausgestellten Programmatik einer Unterscheidung ‚guter‘ wie ‚böser‘, edler wie verwerflicher Machthaber zuarbeitet.

Geschichte erzählen. Strategien der Narrativierung von Vergangenheit im Mittelalter

Подняться наверх