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Geschichte als Netz in der Severus-und-Adelger-Erzählung der Kaiserchronik

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Bettina Bildhauer

Die Kaiserchronik, verfasst vermutlich in Regensburg um 1150 und eine der frühesten Geschichtserzählungen in deutscher Sprache, thematisiert explizit, wie Erzählen über die Vergangenheit funktionieren sollte – und wie nicht. Dies geschieht, ganz im Sinne eines interaktiven Literatur- und Geschichtsverständnisses, nicht so sehr durch metanarrative Erzählerkommentare im knappen Prolog, sondern performativ in einer einzelnen Episode in der langen Geschichte römischer Kaiser, die diese Chronik aufzeichnet. Es handelt sich, wie schon Ludger Lieb und Stefan Müller zeigten, um die Severus-und-Adelger-Episode mit ihrer vierfach eingebetteten Erzählung vom gegessenen Hirschherzen.1 Diese im Mittelalter in vielen Varianten weit verbreitete Geschichte berichtet hier von einem Gärtner, der einen Hirschen in seinem Gemüsegarten erwischt, und ihm ein Ohr und den halben Schwanz abschneidet, bevor das Tier fliehen kann. Der Gärtner glaubt, den Hirschen endgültig verjagt zu haben. Als der Hirsch trotzdem wiederkommt, sobald seine Wunden verheilt sind, umstellt der Gärtner seinen Garten geistesgegenwärtig mit Netzen: mit vil guoten sinnen / îlt er mit nezzen / den garten allumbe sezzen.2 Er fängt den Hirsch, sticht ihn durch den Bauch und weidet ihn aus. Eine Füchsin stiehlt währenddessen unbemerkt vom Gärtner das entnommene Herz des Hirschen. Der verblüffte Gärtner berichtet seiner Frau das grôze maere, er habe einen Hirschen ohne Herz erlegt, aber diese ist nicht überrascht: hätte der Hirsch ein Herz gehabt, so ihre Pointe, wäre er nach seiner ersten Verletzung erst gar nicht in den Garten zurückgekehrt.

Die Gärtnersfrau setzt mit ihrer Interpretation der von ihrem Mann berichteten Ereignisse beim fehlenden Hirschherzen ein, und findet dafür eine faktisch falsche, aber dennoch lehrreiche Erklärung. Diese beruht auf einer Konzeption des materiellen Herzens als Sitz der weder sichtbaren noch greifbaren Fähigkeiten von Gedächtnis, Lernvermögen oder Vernunft (heute würden wir diese im Gehirn lokalisieren). Wichtig in unserem Zusammenhang der Modellbildung für Erzählen über die Vergangenheit ist, dass die Geschichte noch ein weiteres Mal eingebettet ist, nämlich in die Rahmenerzählung über den römischen Kaiser Severus, der in einen Machtkampf mit dem bayerischen Fürsten Adelger verwickelt ist. Severus demütigt seinen Gast Adelger bei einem Rombesuch, indem er dessen Haare und Kleidung abschneiden lässt. Adelgers Berater rettet die Situation, indem er erfolgreich anregt, dass alle Bayern in Solidarität mit ihrem Herrscher ebenfalls ihre Ponys und Gewänder kurz schneiden. Severus ist von diesem geschickten Berater so beeindruckt, dass er ihn zwingt, in Rom zu bleiben und von nun an den Kaiser selbst zu beraten. Als Severus später eine weitere hinterhältige Einladung an den bayerischen Fürsten nach Rom ausspricht, schickt Adelger einen Boten nach Rom, der herausfinden soll, was der dort gebliebene Ratgeber von dieser Einladung hält. Weil der Ratgeber inzwischen dem römischen Kaiser Treue schuldet, kann er Adelger nur indirekt warnen. Er inszeniert eine Situation, in der der Bote mithören kann, wie der Ratgeber dem Kaiser eben die Geschichte vom gegessenen Hirschherzen erzählt, die sich, wie er von seinem Vater gehört habe, in der Vergangenheit zugetragen habe. Der Bote kehrt wütend nach Bayern zurück, weil er glaubt, der Ratgeber habe ihn mit einer nutzlosen Erzählung abgespeist. Als aber Adelger die Geschichte hört, versteht er sofort, was gemeint ist. Er ruft seine Gefolgsleute zusammen und erklärt: ‚ich wil iu besceiden diz spel: / Romaere wellent mit nezzen / mir mînen lîp versezzen‘.3 Aber anders als der Hirsch, so sagt Adelger seinen Getreuen weiter, besitze er ein Herz. Statt wie der Hirsch denselben Fehler zweimal zu machen, verweigert Adelger die Einladung, und droht, dass stattdessen die Römer bei einem Angriff mit durchlöchertem Bauch enden würden. Tatsächlich greift Severus an und wird vernichtend geschlagen und getötet.

Adelgers Interpretation setzt hier beim Netz an, das er als Metapher für die Falle der Römer stehen lässt und das für ihn lebensgefährlich ist. Seine Interpretationsstrategie, im Gegensatz zu der des Boten, ist durch die Merkmale (a) Situationsgebundenheit, (b) Lückenhaftigkeit und (c) Oszillieren zwischen wörtlicher und übertragener Interpretation geprägt, wie wir im Folgenden sehen werden. Genau genommen gibt es hier vier verschiedene konzentrische Erzählebenen, die erfolgreiche und mangelhafte Interpretationsstrategien illustrieren. (1) Die Gärtnersfrau interpretiert die Geschichte ihres Mannes vom Hirschen ohne Herz; (2) der Bote interpretiert die Geschichte des Ratgebers über den Gärtner und seine Frau inklusive der des Hirschen; (3) Adelger interpretiert die Geschichte des Boten über das Verhalten des Ratgebers in Rom inklusive der eingebetteten Geschichte des Gärtnerpaars und der doppelt eingebetteten Geschichte des Hirschen; und (4) schließlich müssen die impliziten Rezipierenden die gesamte Erzählung der heterodiegetischen Erzählinstanz der Kaiserchronik verstehen.4

Auf der ersten und dritten Erzählebene sind die Interpretationen der Gärtnersfrau und Adelgers erfolgreich, weil sie (a) die eingebettete Erzählung jeweils situationsspezifisch verstehen: die Frau erklärt das fehlende Herz im Zusammenhang mit der Wiederholungstat des Hirschen als fehlendes Gedächtnis; und Adelger das Netz im Zusammenhang mit der hinterhältigen Einladung der Römer als Falle. Der Bote hingegen scheitert bei der Interpretation, weil er die Geschichte vom Hirschen nicht auf die Erzählsituation in Rom bezieht. Die Rezipierenden, in erster Instanz wohl selber am bayrischen Hof angesiedelt, sollen offenbar dem Modell Adelgers und der Frau folgen und die Geschichte auf ihre jeweilige Situation hin individuell auslegen und zum Beispiel bayerisches Selbstbewusstsein daraus beziehen oder ideales Herrscherverhalten lernen. Dem Erfolg, dem Unterhaltungs- und Lehrwert der Interpretation der Gärtnersfrau und der weitergehenden Übertragung Adelgers tut es hingegen keinen Abbruch, dass sie fiktional im Sinne von kontrafaktisch sind, insofern der Hirsch sehr wohl ein Herz hatte und Adelger und die Rezipierenden das auch wissen.

Diese Situationsspezifizität des Erzählens in dieser Episode der Kaiserchronik wurde bereits von Lieb und Müller beobachtet.5 Die beiden übrigen genannten Merkmale der vorgeführten Interpretationsstrategie – Lückenhaftigkeit und Oszillieren zwischen wörtlicher und übertragener Interpretation –sind hingegen in der Forschung bisher unkommentiert geblieben. Dies liegt unter anderem daran, dass die gesamte Forschung seit Friedrich Ohlys bahnbrechendem Band Sage und Legende in der Kaiserchronik (1940) diese Episode ausschließlich im Kontext der lateinischen Chronistik betrachtet hat, in der die Geschichte von gegessenen Hirschherzen seit dem siebten Jahrhundert mit einem frühmittelalterlichen bayrischen Herrscher verbunden ist. Eine breitere Perspektive ergibt sich, wenn man die Geschichte von gegessenen Hirschherzen im Kontext der antiken und nicht-europäischen Tierfabelsammlungen sieht, in denen sie ebenfalls weit verbreitet ist. In seiner großen History of the Graeco-Latin Fable postuliert Francisco Adrados, dass die Erzählung auf mesopotamische Quellen zurückgehe und sich in der Antike sowohl eine griechisch-römische als auch eine indische Tradition herausgebildet habe.6 Dokumentiert ist die Geschichte vom gegessenen Hirschherzen als eine der eingebetteten Tierfabeln in der mehrfach gerahmten Erzählsammlung Panschatantra, verfasst im dritten oder vierten Jahrhundert auf Sanskrit. Das Panschatantra wurde im achten Jahrhundert unter dem Titel Kalila wa Dimna ins Arabische übersetzt, von dort im dreizehnten Jahrhundert als Directorium vitae humanae ins Lateinische und aus dem Lateinischen im fünfzehnten Jahrhundert unter anderem als Buch der Beispiele ins Deutsche. Aber sowohl die indische als auch die griechisch-römische Tradition müssen laut Adrados das ganze Mittelalter hindurch die verschiedenen europäischen Versionen immer wieder neu beeinflusst haben, wie sich durch das Auftauchen neuer Details aus der indischen Tradition in späteren europäischen Fassungen ergibt.7

Die altgermanistische Forschung hat diesem postulierten wiederholten Austausch mit der indischen Literatur sowohl im Hinblick auf die Kaiserchronik als auch allgemein wenig Beachtung geschenkt. Heute geschieht dies wohl aus einer engen Definition von Germanistik oder aus Vorsicht bei fehlenden Sprachkenntnissen heraus, ursprünglich aber aus explizit nationalistischen Gründen. Schon Ernst Ludwig Rochholz bemüht sich 1869 in der ersten Ausgabe der erhabenen Zeitschrift für deutsche Philologie mit klar nationalistischer Motivation, die westliche Tradition der Fabel vom gegessenen Hirschherzen als überlegen darzustellen, und kritisiert Jacob Grimm dafür, durch das Anerkennen des indischen Einflusses auf „unser germanisches thiermärchen“ „uns gerade denjenigen theil der nationalen tradition, den wir den ursprünglichsten zu halten bereits so gute Gründe hatten, am meisten [zu] bestreiten“ und „den altgesicherten einheimischen besitz und wohlstand in fremde hände zu spielen“.8 Transnationales Erzählmaterial wird hier als Eigentum einer Nation reklamiert, das einen bestimmbaren nationalen Ursprung habe, der den rechtmäßigen Besitzer identifiziere. Ohly holt die Adelgerepisode in seiner fundamentalen Studie ganz in diesen „einheimischen Besitz“ zurück, indem er seinen Horizont komplett auf lateinische Versionen aus dem heute als europäisch verstandenen Raum beschränkt. Darüber hinaus erklärt er die „Adelgersage“ in völkischem Ton zu „einem strahlenden Ausdruck bairischen Stolzes und kräftigen Selbstgefühls“, in der „das Bewußtsein stammlicher Eigenart und in Freiheit gewachsener Größe erhöht [wird] durch die Synthese mit der übervolklichen Idee der Verwirklichung des wahren Reiches gegen seinen kaiserlichen Verfälscher […] in einer Situation, wo deutsches Eingreifen für Idee und Bestand des Reiches von entscheidender Bedeutung ist“.9 Ohly beschreibt die Episode hier als Ausdruck einer primären nationalen deutschen Identität, die außerdem über den deutschen Sprachraum hinaus das „wahre“ Römische Reich sichere. Der historische Kontext des Zweiten Weltkriegs, währenddessen die Studie veröffentlicht wurde, zeigt die nationalistische Motivation noch deutlicher, die die Menschenverachtung der Nicht-Deutschen im Nationalsozialismus legitimiert. Uta Goerlitz hat die haltlose Fehlinterpretation dieser Passage – die sich mit Bayern und nicht mit dem anachronistischen Konzept einer deutschen Nation beschäftigt – in der Forschung des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts wie hier bei Ohly bereits 2007 treffend analysiert, aber geändert hat dies an der Forschungsorientierung auf den ‚westlichen‘ Kontext wenig.10

Für Rochholz war der Unterschied zwischen den von ihm so genannten ‚germanischen‘ und ‚orientalischen‘ Versionen gerade der zwischen allegorischer Interpretation und dem sogenannten Apolog (Erzählung ohne angehängte Auslegung), der verschiedene Interpretationspotentiale offen lässt, wobei er natürlich die ‚germanische‘ Allegorie höher bewertet: „das orientalische [thiermärchen] begnügt sich ein apolog zu werden […] Das abendländische, d.h. germanische, macht jedoch seine apologische Form nur zum dienenden gleichnisse und beiwerke einer daran gebauten epischen erzählung.“11 Beim genaueren Hinsehen zeigt sich allerdings, dass (b) die Kaiserchronik doch dem hier als ‚orientalisch‘ charakterisierten Modell folgt, und nämlich keine Allegorie anbietet, die 1:1 gleichnishaft übersetzt werden kann, sondern einen offeneren Apolog. Sabine Obermaier hat für die globale Buch der Beispiele-Tradition von Fabelsammlungen eine Erzählweise beobachtet, die nicht nur situationsbezogen ist, sondern auch bewusst Lücken lässt: „Doch sind die Fabeln so angelegt, daß sie in der Deutung durch den jeweiligen Erzähler nicht immer ganz aufgehen, die Moral, die der jeweilige Erzähler der Fabel gibt, ist nicht die einzige Moral, die die Fabel […] enthält“.12 In der dominanten ‚westlichen‘ Tradition hingegen geht es bei Fabeln laut Walter Haug gerade um eine Reduktion von Erzählinhalt, der sich dann in seiner Ganzheit auf eine Moral hin interpretieren lassen könne: „Bei der Fabel kann man so gut wie jeden narrativen Überschuß vermeiden. Fügt man gar noch ein Epimythion dazu, wird auch ein Schwanken aus Unverstand ausgeschlossen.“13 Dabei müsse man „freilich den Boden der historischen und pseudo-historischen Wirklichkeit verlassen und sich in den Bereich der Fiktion begeben“, in der „Figuren zu bloßen Trägern einsinniger Eigenschaften und Verhaltensformen“ werden könnten.14 Erst Boccaccios Dekameron mache nach Haug die bewusste Lückenhaftigkeit der Interpretation und den gewollten Erzählüberschuss im Panschatantra–Stil für die ‚europäische‘ Literatur wirklich fruchtbar. Allerdings zeigt durchaus auch schon die Severus-und-Adelger-Episode eine frühe Adaption der nicht auf vollständige Interpretation zielenden Anlage der Panschatantra-Tradition. Dies wird klargemacht dadurch, dass auffallend viele Elemente der Geschichte ohne Auslegung bleiben – in der Interpretation Adelgers zum Beispiel die Rolle des Fuchses oder der Gärtnersfrau selbst –, während eine ideale Fabel 1:1 in ihrer Interpretation aufginge. Vor allem aber zeigt der Kontrast zwischen den beiden Interpretationen der Gärtnersfrau und der Adelgers, dass dasselbe Geschehen ganz verschiedenen, aber gleich erfolgreich ausgelegt werden kann.

Als eng verwandtes drittes Merkmal des Erzählstils der Fabelsammlung neben situationsspezifischen und offenen Interpretationsoptionen beobachtet Obermaier, dass (c) die Interpretation hier teilweise allegorisch, teilweise wörtlich vorgehen sollte: „Falsch lesen […] heißt also nicht einfach nur das Geschriebene wörtlich zu nehmen, sondern auch: nicht zu erkennen, wann ein Text wörtlich und wann ein Text im übertragenen Sinne zu verstehen ist.“15 Obwohl Obermaier sich auf ganze Episoden bezieht, gilt dies auch für einzelne Elemente in der Severus-und-Adelger-Episode der Kaiserchronik, besonders für das Netz und das fehlende Herz, an denen in die Auslegungen ansetzen und an denen sich das Problem der Bedeutungsherstellung und -übertragung kristallisiert. In der Interpretation der Gärtnersfrau steht das fehlende Herz implizit abstrahierend für fehlendes Lernvermögen, aber alle anderen Elemente der Erzählung – Hirsch, Gärtner, Garten, Netze – bleiben wörtlich unübertragen. Adelger benutzt hingegen eine primär figurative Lesart: er bezieht explizit den Hirschen auf sich, den Gärtner auf Severus, den Garten mit seinen Stiegen auf Rom mit seinen Toren, und implizit den abgeschnittenen Schwanz und die Ohren des Hirschs auf seine eigenen von Severus abgeschnittenen Kleider und Haare. Das Netz und das fehlende Herz bleiben jedoch in seiner Interpretation unaufgelöste, aber leicht verständliche tote Metaphern für eine Falle bzw. für fehlendes Lernvermögen; man könnte sogar von Metonymien sprechen, vom Materiellen als pars-pro-toto für das Abstrakte: vom Herzen als pars-pro-toto für das Erinnerungsvermögen, und vom Netz als pars-pro-toto für Fallen. Im Falle des durchlöcherten Bauchs des Hirschs werden ebenfalls unaufgelöste und übertragene Interpretation kombiniert: der durchlöcherte Bauch bleibt eine nicht weiter erklärte tote Metapher oder Metonymie für den Tod; der Hirsch selber aber wird figurativ gelesen, diesmal nicht für Adelger, sondern für die Römer stehend. Der Bote kann mit der Geschichte hingegen nichts anfangen, da er alles nur wörtlich nimmt.

Diese Erzählstrategie – situationsspezifisch; Leerstellen lassend, teilweise wörtlich, teilweise metaphorisch interpretierbar – ist zusammengefasst mit Obermaier „eine Erziehung zum kritischen, situationsbezogenen Denken, eine ‚Einübung in Flexibilität‘“.16 Dabei zitiert Obermaier wieder Haug, der diese „Einübung in Flexibilität“ Exempelsammlungen wie dem Panschatantra zuschreibt und mit der Funktionsweise der im Mittelhochdeutschen verbreiteten Fabeln kontrastiert.17 Der Widerspruch, dem sich exemplarisches Erzählen laut Haug zu stellen hat, ist, dass eine Erzählung nur dann exemplarischen Charakter beanspruchen kann, wenn sie uneindeutig auf eine Lehre reduzierbar ist, dass sie aber dadurch ihren Charakter als historisch-faktischen Einzelfall aufgeben muss und damit die „Autorität des Historisch-Faktischen“ verliert.

Die Geschichte vom Hirschherzen in der Severus-und-Adelger-Episode besteht aber gerade darauf, sowohl historisches Geschehen wiederzugeben als auch exemplarisch verwendbar zu sein, und sich somit eben nicht auf ein eindeutiges Exemplum reduzieren zu lassen. Dieses narrative Modell funktioniert wohl nicht für die gesamte Kaiserchronik, mit ihrer von Mathias Herweg überzeugend beschriebenen Experimentierfreudigkeit mit verschiedenen Gattungs- und Erzählvorbildern.18 Dennoch könnte man alle anderen Erzählstrategien wie Typologie (Ohly), Topologie (Udo Friedrich) oder Struktur als Bedeutungsträger (Markus Stock, Karl Stackmann, Tibor Pésza) letztlich als Teil dieser Offenheit des Panschatantra-Modells interpretieren, der verschiedene Erzähl- und Interpretationsstrategien nebeneinander vorführt.19

Es ist wohl kein Zufall, dass die lückenhaften Interpretationen sowohl Adelgers als auch der Gärtnersfrau beim Netz mit seinen vielen leeren Maschen beziehungsweise der Leerstelle des fehlenden Herzens ansetzen (der durchlöcherte Bauch mag auch zu diesen Leerstellen gehören). Netze werden in der mittelhochdeutschen Literatur, wie Christina Lechtermann gezeigt hat, überraschend oft als unsichtbar oder durchsichtig dargestellt, was ihren Maschencharakter betont, obschon sie gleichzeitig für den Tastsinn überdimensional präsent sein können, zumal für die in ihnen gefangenen Tiere oder Menschen.20 Hartmut Böhme hat diese Kombination von festen Strängen, die die Beute halten können, und von als weniger materiell verstandenen Zwischenräumen zwischen den Stegen, die das Netz für die Beute unsichtbar machen, als wesentlich für das Funktionieren von Jagd- und Fangnetzen beschrieben.21 Die lückenhafte, nicht alles erklärende Interpretation wird somit hier durch als lückenhaft verstandene Gegenstände angeregt. Netze erscheinen in der Panschatantra-Tradition noch öfter in Passagen, die sich für eine ähnlich situationsspezifische, lückenhafte und teilweise wörtliche, teilweise übertragene Lesart anbieten.22 In einigen Versionen von Kalila und Dimna wird der Interpretationsprozess sogar explizit mit dem Auswerfen von Netzen verglichen. In einem dem arabischen Übersetzer aus dem Sanskrit, Ibn Al-Moqafa, zugeschriebenem Vorwort der Sammlung heißt es:

Ein ähnliches Maß an nüchterner Reflektion ist für den Leser dieses Buches unerlässlich, wenn er es nicht dem Fischer gleichtun möchte, der eines Tages beim Fischfang in einem Fluss eine Muschel auf dem Grund erblickte und sein Netz ins Wasser warf, um sie herauszuholen, darin aber scheiterte und statt dessen einen Fisch fing. Obwohl der Fisch groß genug war, um ihn an diesem Tag zu ernähren, hielt er ihn nicht für bewahrenswert, und sprang in den Fluss, um die Muschel zu erlangen, und als er sie herausgeholt hatte, fand er sie leer und bedauerte, dass er durch seine Gier einen sicheren Vorteil verloren hatte. Am nächsten Tag kehrte er zum selben Fluss zurück, warf sein Netz hinein und fing einen kleinen Fisch. Gleichzeitig bemerkte er eine andere Muschel, beachtete sie aber nicht, da er fürchtete, genauso enttäuscht zu werden wie am vorhergehenden Tag. Aber ein Fischer kam zufällig vorbei und holte die Muschel, von ihrer Schönheit beeindruckt, aus dem Wasser und fand darin eine Perle von großem Wert. Genauso belohnt ein ebenso großer Schatz die Bemühungen desjenigen, deren Erkenntnis tiefer geht als die des Lesers, der sich mit der oberflächlichen Durchsicht dieses Buches begnügt.23

Trotz der Ansage, dass hier ein Vergleich zum Leseprozess geboten werden soll, wird nur ein Element dieser vielteiligen Geschichte tatsächlich in dieser Weise ausgelegt, nämlich die Tatsache, dass am zweiten Tag der erste Fischer eine perlenhaltige Muschel ignoriert. Dies wird so gelesen, dass man sich mit den Erzählungen intensiv beschäftigen und nicht nach einem einzigen vergeblichen Interpretationsversuch aufgeben soll. Die Lehre des ersten Tages, an dem der Fischer den kleinen Fisch wegen einer leeren Muschel verliert, wird hingegen formuliert als Verlust eines sicheren Vorteils durch Gier, das heißt, „lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach“. Wenn man das auf die Rezeption bezöge, im Sinne eines Sich-Begnügens mit einer geringen Erkenntnis, widerspräche dies aber gerade der soeben explizit ausgesprochenen Anregung zum intensiven Auseinandersetzen mit dem Text. Auch die nicht weiter ausgelegte Erfahrung des zweiten Fischers am zweiten Tag, der sofort eine Perle findet, widerspräche der Auslegung, dass immer viel Mühe beim Fischen oder Lesen nötig sei. Es bleibt also viel Raum für kontrastierende individuelle Lesarten, wie es der situationsspezifischen und bewusst lückenhaften Interpretationsmethode dieser Tradition entspricht. Wieder wird dies wie beim fehlenden Herzen und dem Netz mit dem Bild einer doppelten Leerstelle ausgedrückt: mit der leeren Muschel und dem Netz mit seinen leeren Maschen.

Ohne dass dies der Forschung bisher aufgefallen wäre, verknüpfen neben der Kaiserchronik und Kalila und Dimna eine ganze Reihe von mittelalterlichen Erzählungen das Auslegen von Netzen mit dem Auslegen von Geschichten, oder aber das Herstellen von Netzen mit dem Erzählen von Geschichten, und verbinden dies teilweise mit der antiken lateinischen Text-als-Textil-Metaphorik. Meist geschieht dies wie in der Kaiserchronik implizit, zum Beispiel durch Verbinden des Netzmotivs mit Erzählerkommentaren und/oder auf der Handlungsebene mit Erzähl- und Schreibprozessen. Im Mittelhochdeutschen bietet der Jüngere Titurel ein explizites Beispiel für solch einen Vergleich zwischen Narrativ und Netz. In einem metanarrativen Kommentar vergleicht die Autorfigur sowohl die Interpretation seiner Dichtung als auch die glänzenden Rüstungen und Waffen eines Turniers mit Netzen:

Der niwen schilte blicke und der zimier wunder waehe,

netze, kloben, stricke, ich wen, ie man uf erde so vil gesehe,

da mit diu herzen vreude kunnen vahen.

swer da niht vreuden ruochte, der wolt ouch vreude nimmer me genahen.

Seil, reifen, borten, riemen, strick, netz, ich wilz verburgen,

die maht darumbe niemen, daz di liut sich selben dran erwurgen,

noch sper, noch swert. niht wan der werlt ze guote

mit lieden Titurelles ich, Wolfram, niht wan ouch des selben muote. 24

(‚Der Anblick der neuen Schilde und des wunderbar glänzenden Helmschmucks: Netze, Fesseln, Stricke. Ich glaube, wenn man auf Erden soviel davon sieht, können die Herzen damit Freude fangen. Wer da nicht an Freude dachte, der kam der Freude auch später nicht näher.

Seile, Stricke, Bänder, Riemen, Fesseln, Netze – ich bezeuge es: die stellt niemand her, damit sich die Leute selber damit erwürgen – auch Speer und Schwert nicht. Nichts als zum Wohl der Welt auch ich Wolfram, mit dem Lied Titurels, nichts als in derselben Absicht.‘)

Netze fungieren hier als Fangwerkzeuge, die dreifach metaphorisch übertragen werden, ohne dabei eindeutig festgelegt zu werden: zunächst auf die visuelle Faszination der Schilde und Helme als Blick-fang (der Anblick und Glanz der Schilde und Helme ist ein Netz, vermutlich für die Augen oder für Blicke), dann auf das „Einfangen“ von Freude, d.h. das Genießen der Hochstimmung beim Turnier (Herzen könnten mit den Netzen der glanzvollen Ausstattung Freude einfangen), dann auf die Attraktivität von Fiktion (das Lied ist genau wie ein Netz dazu gemacht, die Rezipierenden einzufangen, aber sie nicht zu erwürgen). Hier wird nicht so sehr die Lückenhaftigkeit des Netzes betont (obschon Sichtbarkeit eine Rolle spielt), sondern seine Gefährlichkeit. Wie viele Netze in der mittelhochdeutschen Literatur sind die Netze im Jüngeren Titurel Fallen, die für das eingefangene Tier, den eingefangenen Menschen oder Gott oft lebensgefährlich oder gar tödlich sind, und die Machtkämpfe eindeutig entscheiden, wobei unsere Sympathien auf Seite des Fängers oder des Gefangenen liegen können. Dies wirft ein interessantes Zwielicht auf den Erzähl- und Rezeptionsprozess, der hier als extrem machtvoll und potentiell gefährlich erscheint.

Auch die Beschreibung des Netzes als löchriges Maschenwerk, als Kombination von Öffnung und Steg, von Loch und Seil, von unsichtbarem und nicht-greifbarem Zwischenraum, und sicht- und greifbarer Faser, die in der Kaiserchronik anklingt, wird als Metaphern für den Erzählprozess fruchtbar gemacht. Vulkanus’ aus Silber und Stahl geschmiedetes Netz, in dem er seine Frau Venus zusammen mit ihrem Geliebten Mars im Bett fängt, ist zum Beispiel in Heinrichs von Veldecke Eneasroman fast unsichtbar:

Dô meisterde Volcân

ein netze sô getân,

als ich û sagen mach,

daz manz kûme gesach,

sô cleine wârn die drâte. 25

Gleichzeitig wird die Festigkeit und Materialität seiner metallenen Stege dadurch betont, dass sich selbst die Götter Mars und Venus bei aller Anstrengung nicht daraus befreien können. Der Einschub des Erzählerkommentars „wie ich euch sagen kann“ an genau der Stelle, an der die Gemachtheit des Netzes erwähnt wird, weist vielleicht darauf hin, dass dieses Netz letztlich aus Worten hergestellt ist.

In Strickers Daniel von dem blühenden Tal werden die Merkmale eingeschränkte Sichtbarkeit und übertriebene Greifbarkeit in einem Zaubernetz ins Extrem getrieben, in dem Sandinose Daniel beim Eintreten in das Bergreich von der Grünen Aue fängt, was in der Forschung als Metapher für den Erzählprozess verstanden wurde:

Dâ stuont ein kleinez netze vor,

daz was mit listen sô gemacht,

ez waere tac oder naht,

daz ez nieman ensach. […]

Daniel quam an die stat:

dô er in daz netze getrat,

owê! Wie sere er dô erschrac!

er viel nider unde lac

und was in kurzen stunden

sô sêre mite gebunden

daz er niht triuwete genesen.

er wolde vil gewis wesen

daz in der tîfel hebete.

mit der hant er strebete,

und wolde sich gesegnet hân.

daz muoste er under wegen lân.

er mochte einen vinger nicht geregen,

er mohte niht mê gewegen

wan diu ougen und die zungen,

dô er sô wart betwungen. 26

Dieses Netz ist vollständig unsichtbar, während seine materielle Greifbarkeit durch Daniels totale Verwickelung und Lähmung überbetont wird. Beides ist nicht nur rhetorische Übertreibung, sondern magisch erzeugte Wirklichkeit. Nachdem Daniel Sandinose seine Hilfe zugesichert hat, befreit sie ihn aus dem Netz und erzählt ihm die Vorgeschichte des Netzes, das jedes Tier fangen und von keinem Schwert zerschnitten werden kann: Eine Meerjungfrau schenkte es ihrem Vater, dem König von der Grünen Aue, zusammen mit einer Salbe, mit deren Hilfe man im Dunkeln sehen und neben feinsten Haaren auch das unsichtbare Netz sehen kann. Das scheinbar unsichtbare Netz stellt sich somit zumindest in der eingebetteten Erzählung doch wieder als tragbarer, schenkbarer und für Sandinose sichtbarer Gegenstand heraus. Die Betonung zunächst von Unsichtbarkeit, dann Widerstand gegen Entkommensversuche von innen und schließlich von Trag- und Tauschbarkeit des Netzes wiederholt sich im weiteren Handlungsverlauf noch einmal, als der Zwerg, der Artus und Parzival entführt hat, im Netz gefangen wird und wieder dessen Unsichtbarkeit und das Einschnüren des Gefangenen, der wie ein Fisch zappelt, eindrücklich dargestellt wird, bevor Sandinose und Daniel den Zwerg befreien und ihm das Netz im Tausch gegen Artus und Parzival übergeben.

Sowohl Matthias Meyer als auch Hartmut Bleumer interpretieren das Netz im Daniel – in Zusammenhang mit Strickers Namen und der Tatsache, dass Daniel dem gefangenen Zwerg eine neue Version der vorhergehenden Ereignisse erzählt – als ein Modell für Erzählung.27 Das Netz, das Daniel gefangen nimmt, stehe dabei metaphorisch für den einnehmenden Text. Bleumer bringt darüber hinaus die Unsichtbarkeit des Netzes mit der des Textes zusammen, der gehört statt gesehen werden sollte, um die Einbildungskraft anzuregen.28 In diesem Zusammenhang könnte die Stille, die Daniels an den im Netz gefangenen Zwerg gerichtete Wiedererzählung der vorhergehenden Ereignisse vorhergeht, und die Bleumer als notwendigen „Freiraum“ betont, mit den freien Stellen im Netz in Verbindung gebracht werden.29 Wie das Netz feste Stricke und Lücken benötigt, so benötigt gesprochene Sprache Stille zwischen den Lauten, um zu funktionieren. Damit greift Bleumer zwei verschiedene Merkmale des Netzes auf, um sie auf den Erzählprozess zu beziehen: seine fesselnde, bannende Natur und seine Unsichtbarkeit. Wie die anderen leeren Dinge in der Severus-und-Adelger-Episode und in Kalila und Dimna könnte Daniels Netz darüber hinaus auch allgemein für den Mut zur Lücke in der Interpretation stehen. Ganz im Sinne des offenen Erzähl- und Interpretationsmodells der Panschatantra-Tradition ist das Netz also auch im Daniel ein fruchtbares und vielschichtiges Bild für den Erzählprozess. Weitere Aufmerksamkeit für Netze in der mittelalterlichen Literatur aller Sprachen würde sicher noch viele andere Verwendungsmöglichkeiten aufdecken.

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