Читать книгу Geschichte erzählen. Strategien der Narrativierung von Vergangenheit im Mittelalter - Группа авторов - Страница 27

III. Jason – habitualisierte Schwäche als narrativer Effekt

Оглавление

Noch ein Stück weitergeführt werden sollen diese Überlegungen aber nicht für die Kaiserchronik, sondern für Konrads Trojanerkrieg, der mit seiner konsequenten metapoetischen Perspektivierung des Erzählens einen besonders günstigen Ausgangspunkt dafür bietet. Im Rahmen dieser metapoetischen Perspektivierung erscheinen Figuren bei Konrad als Artefakte, denen im Erzählen in ganz ähnlicher Weise Präsenz verliehen wird wie den diversen Kunstgegenständen, die im Verlauf der Handlung beschrieben werden, etwa dem Apfel der Discordia, dem künstlichen Vogelbaum im Zentrum des neu erbauten Troja sowie verschiedensten Kleidungs-, Rüstungs- und Ausrüstungsgegenständen.1 Figuren und Artefakte teilen im Trojanerkrieg allem voran ihren opalisierenden Glanz, aber auch Begrifflichkeiten (wie kleinôte oder bilde), mit denen sie bezeichnet werden. Nicht zuletzt werden Figuren wie Kunstwerke immer wieder zum Gegenstand bewundernder Betrachtung und brennenden Begehrens, aber ebenso zum Gegenstand gelingender oder misslingender Interpretation. Diese Analogien werden in der Forschung vor allem auf ihre Konsequenzen für die axiologische Besetzung der Figurenhandlung und deren kulturelle Implikationen befragt.2

Noch im Vorfeld solcher Überlegungen scheint mir die Analogie von Figuren und Artefakten den Blick zunächst einmal auf die Gemachtheit von Figuren zu lenken und hier speziell auf das Verhältnis von artifizieller Faktur und der Wirkung, die diese evoziert. Dieses Verhältnis spielt in nahezu jeder Ekphrase des Trojanerkriegs eine zentrale Rolle. Schon in der Beschreibung des Apfels der discordia kann der Betrachter erst in der Sicht nâhe zuo den ougen (V. 1427) erkennen, dass seine Wahrnehmung bei einer Sicht ferre hin von der gesiht (V. 1431) auf einer Illusion beruht und wie diese durch eine spezielle Herstellungstechnik gesteuert ist.3 Überträgt man eine solche ‚Leseanweisung‘ auf Figuren als Artefakte, würde das bedeuten, dass ein Verständnis darauf angewiesen ist, nicht nur zu sehen, was über eine Figur gesagt wird, sondern wie genau eine Information im Text zustande kommt. In einem solchen Zusammenhang scheint Jason sich zunächst nicht unbedingt als Untersuchungsgegenstand aufzudrängen, da er im Vergleich zu diversen anderen Figuren des Trojanerkriegs eher über eine geringe Strahlkraft verfügt. Gerade deswegen soll aber gezeigt werden, dass und wie sogar ein solcher Eindruck Effekt einer strategischen Kompositionstechnik wird.

In der antiken Stofftradition ist Jason eine Figur mit einem prekären gesellschaftlichen Status. Der Herrschaftsverlust seines Vaters und die damit verbundenen Feindschaften schränken sein Aktionspotential ganz erheblich ein; dies setzt sich in der asymmetrischen Beziehung zur zauberkundigen Medea fort, die allein ihm überhaupt die Hoffnung eröffnet, seine Position stabilisieren und seine Herrschaft restituieren zu können. Der erzählerische Reiz der Geschichte liegt hier im tragischen – weil von vornherein zum Scheitern verurteilten – Aufbegehren Jasons gegen sein Schicksal.4 Indem Konrad den handlungsinitiierenden Statusverlust, der in den antiken Erzählungen die Grundlage der Handlungsmotivation des gesamten Erzählkomplexes bildet, tilgt, nimmt er der Figur im Grunde genau das Profil, das ihr Ereignishaftigkeit und tellability garantiert.5 Im Erzählen entspricht dem eine erstaunlich konsequente Reduktion narrativer Präsenz.

Schon bei seiner Einführung in die Handlung steht nicht Jason im Fokus des Erzählens, sondern sein Cousin Achill, und nur in Relation zu ihm gewinnt er überhaupt ein Profil. Vorgestellt wird der junge Grieche nämlich am Ende der Schyron-Episode, im Zusammenhang mit der sich unaufhaltsam verbreitenden Fama Achills:

ACHILLEN dâ ze lande

nieman irte an sînem lobe,

sîn prîs der fluoc den besten obe

maniges rîches umberinc,

wan daz ein frecher jungelinc

dennoch dâ ze KRIECHEN was,

der ouch mit reiner tugent las

vil hôher werdekeit an sich.

[…]

JÂSON der selbe ritter hiez

und lebte in ganzer wirde alsus. (Trojanerkrieg, V. 6494–6507)

Jason kommt in dieser Relation, das stellt der Erzähler gleich mehrfach heraus, bestenfalls die Position des Zweitbesten zu. Über konjunktivische Formulierungen und konzessive Konstruktionen wird insinuiert, dass Jason nur dann ein exzeptioneller Status zukommen könnte, wenn es Achill nicht gäbe:

geblüemet stuont sîn reiner sin

mit hôhen êren ûzerlesen,

und waere ACHILLES niht gewesen

sô gar ein ûzerwelter knabe,

sô haete im niht gegangen abe

des besten lobes ûf erden:

[…]

hert als ein fester adamas

an triuwen schein sîn wille,

doch brach sîn nefe ACHILLE

an hôher werdekeit vür in,

wan er der êren spiegel hin

ob im gewalteclîche truoc. (Trojanerkrieg, V. 6552–6571)

Aber selbst diese Position wird Jason nicht direkt vom Erzähler zugeschrieben und auktorial begründet, sondern erweist sich bei näherer Betrachtung als Konstruktion seines neidischen und missgünstigen Onkels. Achills Vater Peleus beobachtet das Heranwachsen seines Neffen mit der Sorge, sein Ruhm könnte eines Tages den seines eigenen Sohnes übersteigen. Konkrete Taten oder Verdienste des jungen Griechen, die eine solche Befürchtung einsichtig werden ließen, werden allerdings nicht angeführt, geschweige denn narrativ entfaltet. Während in der gerade abgeschlossenen Passage über Achills Kindheit und Erziehung in eingehenden Darstellungen zu beobachten war, wie der Junge von einer Löwin gesäugt und mit dem Mark aus Tierknochen und wilden Pflanzen ernährt wird, wie er zur körperlichen Abhärtung nur mit Tierfellen bekleidet auf dem nackten Boden einer Höhle schläft und zur emotionalen Abhärtung nicht nur gegen Drachen, Löwen, Bären und Greifen antritt, sondern auch deren Junge raubt und tötet, wie er Körperkraft und Körperkoordination trainiert, indem er zum Beispiel über hauchdünne brechende Eisdecken läuft, abgeschossenen Pfeilen nachjagt und in reißenden Flüssen balanciert und wie er im Verbund mit verschiedenen wilden Völkern kämpft, um sich unterschiedliche Kampftechniken anzueignen,6 werden Jasons Qualitäten und das aus ihnen resultierende lop eher summarisch konstatiert. Noch in dieser summarischen Würdigung bleibt der Blick auf die Figur allerdings verstellt, da die Darstellung des Erzählers immer wieder nahtlos in Innensichten des missgünstigen Peleus oder in dessen affektverhaftete Beobachtung Jasons übergehen.7

Indem so die Stimme des Erzählers mit dem in seiner Affektivität als problematisch markierten Figurenbewusstsein des Peleus synthetisiert wird, erscheint Jasons Exzeptionalität und Ruhm allem voran als eine Projektion seines Onkels. Über Jason erfährt der Rezipient ausschließlich das, was Peleus’ Neid auslöst, oder vielleicht auch nur das, was dieser in seinem Neid imaginiert – diese Alternative ist kaum sicher zu entscheiden. Protagonist der Handlung und Zielpunkt axiologischer Besetzung ist entsprechend nicht Jason, sondern Peleus, und dies ändert sich ebenfalls nicht, nachdem Jason wenig später auch als handelnde Figur in das Erzählen eintritt. Die sich anschließende Intrige-Handlung bleibt nämlich von ausführlichen Innensichten und Redebeiträgen des Peleus dominiert, die das Auseinandertreten von außen und innen dokumentieren. Demgegenüber agiert Jason weniger als er reagiert, er antwortet eher als er spricht und was sein Inneres betrifft, bleibt dem Erzähler lediglich zu konstatieren, dass der Vorschlag des Peleus, sich auf die gefährliche Fahrt nach dem goldenen Vlies zu begeben, bei Jason keinerlei Misstrauen weckt. Jason reflektiert weder die Gefahren der Reise, noch die Absichten seines Onkels, und die bevorstehende Fahrt erfüllt ihn weder mit Schrecken noch mit besonderer Freude über eine Möglichkeit, sich zu beweisen und seinen Ruhm zu vervollkommnen.8 Entsprechend erstaunt es nicht weiter, dass Peleus und nicht Jason Antrieb des baldigen Aufbruchs ist.9 In der sprachlichen Inszenierung dieser Konstellation gerät ganz konsequent Peleus und nicht Jason zum grammatikalischen Subjekt der Aufbruchshandlung:

der künic PÊLEUS, sîn veter,

liez in niht langer beiten,

wan er in dô bereiten

begunde zuo der ferte sîn,

er tete an im dô balde schîn,

daz er sîn âne gerne wart:

swes er bedorfte zuo der fart,

vil drâte er im daz werden liez. (Trojanerkrieg, V. 6832–6839)

Selbst an den wenigen Stellen, an denen Jason anders als hier zumindest zum grammatikalischen Subjekt der Handlung wird, bleibt das Erzählen auf Peleus fokussiert:

JÂSON fuor sîne strâze alsus.

des wart sîn veter PÊLEUS

vil hôhes muotes bî der zît,

daz er niht wider kaeme sît,

des wart von im gewünschet vil. (Trojanerkrieg, V. 6891–6895)

Mit all dem wird in der Handlungsexposition zur Argonautenfahrt ein Modus der Figurendarstellung etabliert, der in der Folge das gesamte weitere Erzählen von Jason prägt.10 Obwohl die Darstellung über weite Teile seiner Bewegung in der erzählten Welt folgt, wird Jason in den verschiedensten aufeinanderfolgenden räumlichen und sozialen Konstellationen, in die ihn sein Weg führt, jedes Mal erneut zum Objekt der Wahrnehmung, Deutung und der Handlungsaktivität anderer Figuren und zwar in weitaus stärkerem Maße, als er selbst handelnd auf seine Umwelt einwirkt. Bei der Zusammenstellung der Besatzung für die Argo etwa wählt nicht Jason Hercules als Begleiter aus, sondern dieser wirft sich seiner heldischen Identität gemäß Jason gleichsam in den Weg;11 bei der Landung vor Troja wird Jason mit den Argonauten zum Opfer der vom Alter bestimmten Mentalität Lamedons;12 im Gegensatz dazu profitiert er bei seiner Aufnahme in Kolkos von der dort herrschenden elaborierten höfischen Kultur, die den Status des gastgebenden Herrschers an den Glanz des Gastes bindet;13 ihre Liebe und damit die dringend benötigte Unterstützung bei der Gewinnung des Goldenen Vlieses trägt Medea Jason an, ohne dass er außer der Erwiderung verliebter Blicke etwas dafür getan hätte. Medea überhaupt eingehend zu betrachten, selbst dazu braucht es nicht nur eine aufwändige Inszenierung ihres Auftritts, sondern Jason muss von Lamedon zusätzlich noch einmal explizit dazu aufgefordert werden, genau hinzusehen.14 Bezeichnend ist, dass der Rezipient ganz anders als etwa bei Paris’ erster Begegnung mit Helena, gerade nicht die Wahrnehmung des Protagonisten teilt, sondern einen anderen, ganz eigenständigen Blick auf Medea gewährt bekommt,15 vielleicht den, den Jason haben sollte. So sind es letztlich der höfisch-merkantile Habitus des Oetas sowie die Liebesbereitsschaft und -fähigkeit Medeas, die Jasons weiteren Erfolg konstituieren.

Insgesamt lässt sich zeigen, dass die Frage, ob Jason zum emporkommenden Rivalen, zum prädestinierten Anführer eines heldischen Kollektivs, zum landfremden Aggressor ohne politische Umsicht, zum ruhmumwobenen Gast oder zum Gegenstand weiblichen Begehrens wird, kaum je aus seinem eigenen Verhalten, seinen Absichten und Motiven resultiert, sondern maßgeblich von den je verschiedenen prästabilen politischen, sozialen und mentalen Bedingungen, unter denen die anderen Figuren der Handlung ihm begegnen, abhängt. Diesen Bedingungen kommt im Erzählen weitaus größere Aufmerksamkeit zu als Jason selbst, der so in jeder einzelnen Episode seiner Geschichte von anderen Figuren überdeckt wird, bevor er mit dem Eintritt Medeas in die Handlung sukzessive auch endgültig als Raumfilter und damit als Protagonist abgelöst wird. Noch sein Treuebruch gegenüber Medea wird nicht etwa über die Attraktivität Greusas motiviert oder, wie in der Erzähltradition, über Jasons Streben nach gesellschaftlichem Aufstieg begründet, sondern allem voran durch Medeas Abwesenheit erklärt. Nachdem diese eigenmächtig Peleus’ Verrat an Jason gerächt hat, überkommt sie die Lust, durch kurzwîle (V. 11195) die Orte ihrer früheren Ausbildung zu besuchen, statt unverzüglich zu Jason zurückzukehren. In einem vierfachen temporalen Anschluss wird diese Verzögerung zur Ursache seines fatalen Betrugs erklärt.16

Wie gesehen variieren zwar die Rollen, in denen Jason im Verlauf der Handlung erscheint, doch ist das Erzählen wie schon in der Kaiserchronik deswegen nicht situativ, sondern ganz im Gegenteil von einem übergreifenden Darstellungskonzept getragen. Wie bereits der Autor der Kaiserchronik setzt dabei auch Konrad am Kernpunkt der antiken Figurenkonzeption an. Die Schwäche Jasons, die dort eine Folge äußerer Umstände ist, wird aber zu einem Effekt der Darstellung. Radikal künstlich und als solches markiert, sind nicht nur – wie Gert Hübner gezeigt hat – einzelne Handlungskonstellationen, sondern die Figur insgesamt. Die Wirkung, die durch die Verlagerung der Schwäche von außen gleichsam ins (konzeptionelle) Innere der Figur erzielt wird, ist die einer habituellen Schwäche. Das hat Konsequenzen für die Axiologie des Geschehens. Wenn Jason für seinen Treuebruch am Ende nicht nur von Medea grausam hingerichtet wird, sondern der Erzähler sich weigert, die Trauer um ihn und die darin ausgedrückte Anerkennung wiederzugeben,17 dürfte das den Rezipienten wenig rühren. Doch treten hier erzählerische Gerechtigkeit und Moral weit auseinander. Greifbar wird das spätestens im paradigmatischen Vergleich mit anderen Rachehandlungen, die den Opfern – anders als es bei Jason der Fall ist – eine Stimme und ein Inneres geben. Ein wichtiges Beispiel wäre die sich im Handlungsverlauf des Trojanerkriegs unmittelbar an die Jason-Geschichte anschließende erste Zerstörung Trojas, bei der der Schrecken der heimtückisch überfallenen Bewohner umliegender Dörfer und der von Vergewaltigung bedrohten Frauen in der Stadt großen Raum im Erzählen einnimmt. Beide Rachehandlungen zeichnen sich durch die gleiche Unverhältnismäßigkeit von Vergehen und Strafe aus, Darstellung und Rezeptionsteuerung dagegen unterscheiden sich gravierend voneinander. All dies lenkt den Blick des aufmerksamen Rezipienten auf die zum Teil trügerische Wirkung, in jedem Fall aber strategische Konstruktion von Geschichte.

Geschichte erzählen. Strategien der Narrativierung von Vergangenheit im Mittelalter

Подняться наверх