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II Voraussagbares Erzählen

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Die Erlösung liegt uns heute in acht Textzeugen (Handschriften bzw. Exzerpten und Fragmenten) vor.1 Diese variieren in Versbestand, Reihung und Ausstattung teilweise so stark, dass Fassungen von verschiedener Länge unterscheidbar sind. Ich beziehe mich im Folgenden auf die Erlösung in dem um 1465 und von einer Hand geschriebenen Manuskript der Stadtbibliothek Nürnberg (N).2 Die Papierhandschrift beginnt mit einer deutschen Adaptation von salomonischen Weisheitsbüchern des Alten Testaments (Bl. 1r–77v), dann folgt eine Übertragung von Martins von Braga (Martinus Dumiensis) Formula honestae vitae, einer Abhandlung über die vier Haupttugenden, die zu großen Teilen aus Seneca-Auszügen (teilweise verlorener Schriften) besteht und die hier Seneca selbst zugeschrieben wird (Bl. 79r–96v). Der Erlösung, die als einzig bebilderter und einzig zweispaltiger Text der Handschrift auf Bl. 97v–148v eingetragen ist, schließen sich eine lateinisch-deutsche Aufzählung von Sünden (Bl. 150r–156v) und eine heilsam ertzeny widder weltlich vnd tufelisch anfechtung (Bl. 157r–159v) an.3 Der Text fügt sich so in vor allem didaktisch-katechetisches Material, das seine Inhalte teilweise sogar verdoppelt, tritt jedoch durch seine Gestaltung zugleich daraus hervor.

Durch das Bildprogramm der Handschrift, 53 kolorierte und gerahmte Federzeichnungen, setzen sich in der Erlösung selbst allegorischer Disput, Prophetenreihe und heilsgeschichtlicher Bericht sichtbar gegeneinander ab: Während der ‚Töchterstreit‘ gar nicht bebildert ist, begleiten die Geschichtserzählung rund 30 szenische Darstellungen, wie etwa zum Sündenfall (Bl. 100ra), dem Kindermord (Bl. 126ra), der Kreuzigung (Bl. 135ra) oder der Geburt des Antichrists (Bl. 143ra). Der rund 1200 Verse und 24 Stationen langen Prophetenreihe sind 22 Figuren beigestellt, die mit ihren „lebhaften Gesten und tänzerischen Bewegung[en]“ an Morisken erinnern und die geschwungene Spruchbänder tragen.4 Dieser Abschnitt unterscheidet sich nicht nur durch den Bildtyp, sondern auch durch die Dichte der Bebilderung, sodass auf Bl. 106–116 fast jede Seite ein oder zwei Bilder aufweist.5 Der zugehörige Text betont das Moment göttlicher Planung, Vorsehung und Verheißung, wobei nicht Real- sondern fast immer Wortprophetien präsentiert werden, die oft über eine deutsche Version der lateinischen Zitate der Spruchbänder eingeleitet sind. Selten wird in der Prophetenreihe, die die Verse 1143–2272 (N 106ra–115vb)6 umfasst, von den zugehörigen Offenbarungsereignissen selbst berichtet. Lediglich bei Abraham (N 106va/b, V. 1238–1215), Moses (N 107ra/b, V. 1261–1303), Jonas (N 109vb-110ra, V. 1543–1594), Nebukadnezar (N 112rb-112va, V. 1847–1902) und Simeon (N 115va/b, V. 2235–2272) werden wenige Aspekte ihrer (Offenbarungs-)Geschichten erzählt. Meistens werden die Prophetien jedoch formelhaft mit der Bemerkung eingeleitet: die biblischen Propheten wüssten, hätten lange vorher erkannt, vernommen, geiſteliche gesehen (N 111ra, V. 1699) oder Geprediget vnd vor geſeÿt / Vnd gar mit truwen vßgeleÿt (N 107vb, V. 1330f.), sprächen und schrieben Als vß des vatters munde (N 106vb, V. 1224). Auch die heidnischen Propheten, Sibylla, Nebukadnezar und Vergil, werden vom Erzähler für ihr umfassendes Wissen nicht nur um die Menschwerdung, sondern auch bezüglich des Jüngsten Gerichts gepriesen. Die weiteren alttestamentlichen Propheten, die sich ihnen anschließen (Jesaias, Jeremias, Daniel, Ezechiel), sind besonders ausführlich teilweise in lateinischen Versen zitiert. Sie alle jedoch gelten in der Erlösung als von Gott selbst eingesetzte Boten, die den Menschen den Erlösungsplan, der im vorausgehenden ‚Töchterstreit‘ verhandelt wurde, bis zum Weltende bekannt machen:

Botten ſant er i[nn] die lant

Vnd hieß dem volck thun bekant

Hoffenliche mere

Das ein erloſere

Schier ko[mm]en ſolde

Der vns erloſen wolde (N, Bl. 106ra/b, V. 1147–1152)7

Die Prophetenreihe inszeniert somit, wie zahlreiche andere vormoderne Geschichtserzählungen,8 die Finalität der Welt-Geschichte als gesichertes und verkündetes Wissen. Doch wird dieser Aspekt hier in besonderer Weise akzentuiert, denn auch die auf sie folgende Erzählung über Menschwerdung und Passion weist beständig auf dieses verkündete Wissen zurück: Reht als die p[rop]hetten / Hant in den decreten / Der heilig[en] ſchrifft vor geſaget (N 118vb, V. 2833–2835) geschieht die Empfängnis und gerade so, wie her[re] Ysaÿas / Hie vor i[nn] ſiner ſchrifft laß (N 120rb, V. 3189f.), beten die Stall-Tiere den Heiland an. Gemäß den alttestamentlichen Vorhersagen von Balaam, Yesaia, Michêas und Jeremias vollziehen sich die Anbetung der Könige und Hirten und die Verfolgung durch Herodes; entsprechend Hoseas Prophetie erfolgt die Rückkehr aus Ägypten, entsprechend Davids Voraussage die Befragung im Tempel. Die Propheten des Neuen Testaments setzen diese Logik fort: Simeon kündet vom kommenden Leid Marias, der tote Johannes vermeldet die baldige Ankunft des Erlösers in der Hölle,9 die Kinder Jerusalems preisen Christus bereits als Heiland und weisen dabei zugleich zurück auf Zacharias, der dies auch schon wusste (N 131vb, V. 4678–4682) und mit gleicher Sicherheit weisen Prophetien auf das Jüngste Gericht voraus. Weltgeschichte wird in der Erlösung als Aktualisierung des immer schon Geplanten, Verkündeten, Gewussten und Erwarteten erzählt.10 Entsprechend lautet etwa der Kommentar anlässlich der Verkündigung:

Rehte als die p[rop]hetten

Hant in den decreten

Der heilig[en] ſchrifft vor geſaget

Dieß iſt daz kint daz iſt die maget

Von dem uch iſt kunt getha[nn]

Ob irs verno[mm]en wollent ha[nn] (N 118vb, V. 2836–2838)

Das Zugesicherte, Erwartbare wird in diesem Erzählen ausgestellt und gerade dies erscheint damit als das Wunder, auf das der Prolog verweist.11 Die Wunderketten, die andere Leben-Jesu-Erzählungen oder Marienleben immer wieder einflechten, sind demgegenüber hier auffällig reduziert, und dies gilt nicht nur für die astronomischen und meteorologischen Wunder bei Christi Geburt und Tod, sondern sogar für die von ihm selbst gewirkten Wunder. Immer wieder bricht der Erzähler die Geschichtserzählung ab (Was ſolte langer rede mer, N 117rb, V. 2484)12 und betont diese Brevitas noch, indem er sich ausdrücklich dafür entschuldigt, dass er dieß keyſerlich kint [] / Alſo kurtzlich alſo bar/ Zu geburtt [] geschriben habe (N 122 rb, V. 3417–3423).13 Es bleibt im Folgenden bei dieser Darstellungsform – in rascher Folge werden kleinere Einzelepisoden hintereinander gefügt. Lediglich den Herodes-Episoden sowie den neutestamentlichen Prophetien (des Zacharias, Johannes, Simeon, Jesus), den Cantica (Benedictus, Magnificat, Nunc dimittis, Sanctus) und der Bergpredigt wird etwas mehr Erzählzeit überlassen. Selbst Marias Klagen unter dem Kreuz sind abgebrochen:

Alhie die rede blibe

Doch weſte iz wol Her[re] ſymeon

Da er geſprachen hat hie von

[…]

Hie wart die rede zu der dat (N 135rb-va, V. 5238–5250)

Dieses kurzliche der Erzählung, das das Geschehen immer wieder als Aktualisierung des Prophezeiten ausweist, inszeniert einen spezifischen Ereignischarakter in demjenigen Teil des Textes, der gerade das erzählen soll, was doch im Prolog selbst als größtes Wunder neben der Schöpfung selbst angekündigt ist.14 In anderen Kindheitserzählungen, etwa in der von Bruno Quast untersuchten Kindheit Jesu, ist die wunderbare Geburt als inkommensurables und letztlich undarstellbares Ereignis inszeniert, das lediglich als Leerstelle, durch das Fehlen jeder Spur am jungfräulichen Körper, bezeugt werden kann,15 und das entsprechend vom ganzen Wunderreihen umstellt ist.16 In der Erlösung hingegen erscheint sie reduziert und zum erwartbaren Geschehen nivelliert, auf das es lediglich noch zu verweisen gilt: Dieß iſt daz kint daz iſt die maget.17

Quasts Untersuchung zur jungfräulichen Geburt in der Kindheit Jesu geht von einem Ereignis-Konzept aus, für das „eine Gegenwärtigkeit und eine Einzigartigkeit des Auftretens in Anschlag gebracht werden muss“, hinter der das Erzählen zurückbleibt.18 Abgegrenzt wird es einerseits gegenüber einem „funktional-analytische[n] Verständnis“, entsprechend dem etwa Karlheinz Stierle „das Ereignis als zwingende Voraussetzung für jedwedes Erzählen“ konzeptualisiert hat und das so Grundlage für einen narratologischen Ereignisbegriff ist,19 andererseits gegenüber einem Konzept medial konstituierter Ereignishaftigkeit.20 Für die Kindheit Jesu setzt Quast ein emphatisches, radikales Konzept von Ereignis an: das „als Bekundung erfahrene Einbrechen eines ganz Anderen, eines dissimile, der Augenblick, in dem die horizontale Zeit von einer vertikalen getroffen wird.“21 Dieses an Positionen des Poststrukturalismus orientierte Konzept von Ereignis ist unter anderem „am theologischen Modell der messianischen Ankunft orientiert“, am Augenblickhaften, am Kairos der Parusie (nicht am Kronos).22 Hierbei ist das Ereignis weder durch Sprache noch durch andere Medien zu erreichen, da das Sprechen von ihm notwendig „zu spät kommt“ und sich das Moment der „Singularität in der Generalität“ und Konventionalität sprachlicher Zeichen verliert.23 – In der Erlösung hingegen kündigen die Propheten-Boten die Ankunft (und Wiederkehr) immer schon an und entwerfen damit das Ereignis als Zu-kunft, die ihre Exzeptionalität gerade aus einem zeitkritischen Moment, aus einer Fristsetzung gewinnt. Als der Erzähler mit der Verkündigung an Zacharias die Geschichte der Menschwerdung tatsächlich zu erzählen beginnt, erörtert er in einem Exkurs, dass diese Zeitspanne von genau 5199 Jahren ganz und gar keine beliebige Fristsetzung sei. Ausgangspunkt ist dabei die Frage, warum denn Christus die Menschen nicht bereits deutlich früher (lange ê) erlöst habe, zumal doch Eva, Noa, Abel, Adam, Hiob, Jacob, Isaak, Abraham, David, Salomon, Moses, Aaron, Symeon, Ysâias, Johannes, Zacharias und manig ander Edelma[nn] immer wieder um Erlösung gebeten hätten. Die Begründung ist gleichsam psychologischer Natur:

Es was alles vmb das

Das die lute deſte baß

Zu Got ſetzten jre begire

Wann es iſt wißelich daz wir

Die dinge wir mit lichtigkeit hant

Daz nit gar schone empfahent

Mit ſo gantzer wirdigkeit

Als obe ein ma[nn] mit arbeit

Daz ding erwunnen muſt hann

Durch das die friſt wart gethan (N 116ra/b, V. 2329–2338)

Der Begriff der Arbeit (als Not in waſſer unde fuer [N 116rb, V. 2340] ebenso wie als Mühe auf dem Feld umschrieben) wird erneut aufgegriffen und mit dem beständigen Flehen der Propheten, die so nicht nur als Boten, sondern auch als Bittende ausgewiesen sind, äquivalent gesetzt. Der Bericht über drängendes Begehren, die versprochene Erlösung doch noch in der Lebenszeit des jeweils bittenden Propheten zu senden, führt zur Umkehrung der Frage und es wird ergründet, warum es angesichts dieser Steigerungs-Logik nicht noch viel länger gedauert habe. Auch dies wird von der menschlichen Seele und ihren Anfeindungen her begründet: Das wir von der vberdroß / Iht wurden hoffn[un]g bloß (N 116va, V. 2385f.). Hoffnungslose Verzweiflung als (dann unumkehrbare) Wiederholung des Sündenfalls (So wern wir aber da[nn] verlorn / Were got noch eins durch vns geborn, ebd., V. 2387f.) wird durch die sorgfältige Wahl genau dieser Wartezeit also ebenso vermieden wie die Geringschätzung der Gabe, deren Exzeptionalität gerade durch das Moment der Erwartung konstituiert ist.24 Die Erlösung inszeniert das Ereignis der Menschwerdung damit zunächst weniger als ‚Einbrechen eines ganz Anderen‘, sondern als Ankunft des Ersehnten, dem im Zeitverlauf ein fester, nämlich genau der richtige Moment bereits zugewiesen worden ist. Dies schließt jedoch nicht notwendig aus, dass auch eine emphatische Dimension des Ereignishaften thematisiert wird. Vielmehr entwirft das Erzählen hier, so meine ich, unterschiedliche Ereigniskonzepte, die in den drei Hauptabschnitten des Textes – allegorischem Streitgespräch, Prophetenreihe und Geschichtserzählung – nebeneinander gestellt werden können, ohne eindeutig relationiert sein zu sein müssen.

Kann man – mit Quast – an Leben-Jesu- und Marienleben-Erzählungen die grundsätzliche Frage stellen, wie unter der unhintergehbaren Voraussetzung der Unmöglichkeit, ein (emphatisch konzeptualisiertes) Ereignis medial zu fassen, Texte dennoch von der Ereignishaftigkeit der Menschwerdung zu erzählen versuchen, so lässt sich diese Frage auch im Hinblick auf die Erlösung stellen. Doch wäre sie hier zu erweitern: Es wäre zu fragen, wie Erzählungen, die Welt- und Erlösungsgeschichte als Realisierung eines der Vorsehung unterliegenden und damit narrativ voraussagbaren Plans inszenieren, zugleich noch die emphatischen Aspekte des Ereignishaften der Menschwerdung vermitteln können (also die Selbstopferung Gottes als Gabe, die mögliche Unmöglichkeit der Erlösung): Wie kann es erzähllogisch gelingen, gleichzeitig Erwartetheit und Unerwartbarkeit, vorhersehbare Horizontalität und vertikalen Einschlag zu kommunizieren? Im Rahmen vormoderner Geschichtsentwürfe wäre damit nach der Inszenierung von Ereignis nicht nur sehr grundsätzlich im Hinblick auf dessen mediale (Un-)Anschreibbarkeit zu fragen, sondern ebenso nach einer paradoxen Verschränkung unterschiedlicher Aspekte des Ereignishaften, die mitkommuniziert, überlagert oder gegeneinander abgeblendet werden. Die Erlösung zeigt geradezu exemplarisch, dass die Frage nach einsinnigen Zeitkonzeptionen – und damit eng verbunden auch diejenige noch einsinnigen Ereigniskonzeptionen – für den Bereich vormodernen Erzählens wenig zielführend ist, dass es vielmehr gilt, „heterogene Zeitkonzeptionen zu beleuchten, die Zeitschichtungen, Gleichzeitigkeit der Zeitdimensionen, Zeitfaltungen, parallelisierende und konkurrierende Zeitqualitäten, kollabierende, konzentrische, auslaufende sowie disruptive Zeitenverläufe“ zuzulassen.25 Ebenso überschichten sich in diesem Text verschiedene Aspekte des Ereignishaften:26 Die Reihe der Propheten inszeniert das Ereignishafte der Gottesgeburt aus dem Gestus der Erwartung, als Aufschub und Verzögerung.27 Hier allerdings geschieht dies im Sinne eines Aufschubs, auf den tatsächlich die Aktualisierung des Erwarteten folgt.28 Die Erzählabschnitte über die Lebenszeit Marias und Jesu akzentuieren dabei durchaus eine Ereignishaftigkeit, die als ‚Unterbrechung‘ struktureller Ordnungen verstanden wird insofern sie nicht vollständig aus diesen ableitbar ist. Ihr ‚Überschuss‘ und ‚Neuigkeitsgehalt‘ bleibt jedoch diesen Strukturen verbunden und darin eben auch anschreibbar (Dieß iſt).29 Die spezifische Fügung der beiden Erzählabschnitte – Prophetenreihe und Leben-Jesu bzw. Marienleben – ermöglicht es damit, dass je unterschiedliche Aspekte des Ereignishaften in der Erlösung sukzessive entfaltet und gleichzeitig ihre enge Verflochtenheit hervorgehoben werden. Das Erlösungsereignis wird jedoch in der Erlösung nicht nur in einer historisch-chronologisch Erzählung thematisiert, die ihrerseits durch die Prophetenreihe als voraussagbare Anordnung ausgewiesen und dabei durch die Exponierung des Heilsgeschehens als Erwartung einer Ankunft perspektiviert ist. Vielmehr erscheint das Ereignis der Erlösung zugleich durch die allegorische Gerichtsszene dramatisiert, die es in wiederum eigener Weise inszeniert und ins Überzeitliche doppelt.

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