Читать книгу Geschichte erzählen. Strategien der Narrativierung von Vergangenheit im Mittelalter - Группа авторов - Страница 28
IV. Fazit
ОглавлениеIn beiden betrachteten Beispielen volkssprachiger Geschichtsdichtung erweist sich Bedeutung nicht nur als Dimension erzählter Handlung, sondern auch als Effekt elaborierter Darstellungsverfahren. So wird in beiden Fällen die konzeptionelle erzählerische Marginalisierung einer zentralen Figur in je eigener Weise zum Medium der kritischen Auseinandersetzung mit Geschichte und ihrer poetischen Kommunikation. Indem Lucretia in der Kaiserchronik genau die immersive Dynamik genommen wird, die im antiken Erzählen überhaupt erst ihr Potential begründet, einen politischen Umbruch auslösen zu können, widerspricht der Text Grundüberzeugungen der lateinischen Geschichtsteleologie. Indem Medeas unverhältnismäßige Rache an Jason durch die Habitualisierung seiner eigentlich politisch begründeten Schwäche vordergründig entproblematisiert erscheint, wird der Blick letztlich auf die Perspektivität der Darstellung und Bewertung von Geschichte gerichtet. In diesem Sinne geht der Trojanerkrieg insofern über den Entwurf der Kaiserchronik hinaus, als die schon hier beobachtbare Semantisierung narrativer Verfahren nun in der metapoetischen Spiegelung an die Grenze des Diskursiven getrieben wird. Figuren strahlen nicht nur wie Artefakte, ihre (zum Teil trügerische) Wirkung beruht auch auf strategischer Konzeption. Dennoch erscheint das Arrangement der Kaiserchronik kaum weniger radikal. Schon der programmatische Gegenentwurf des Kaiserchronisten zur antiken Geschichtsteleologie setzt nämlich gleichsam das Bewusstsein voraus, dass Geschichte bereits im antiken Erzählen strategisch konzipiert und literarisch ausgeformt kommuniziert wird. Erst daraus ergibt sich die Möglichkeit, in der Retextualisierung ein Gegenmodell zu entwickeln. Doch auch mit einem Konzept, nach dem Geschichte Ergebnis einer literarischen Modellbildung ist, in der auch das Wie der Darstellung Bedeutung stiftet und Wissen generiert, bleiben der Kaiserchronist und Konrad letztlich einer exemplarischen Wirklichkeitskommunikation verpflichtet. Allerdings überschreitet ein solches poetisches Erzählen von Vergangenheit die Rhetorik des Exempels nicht nur quantitativ in der Vervielfältigung von topischen Referenzen und qualitativ in einer künstlichen Zuspitzung topischer Regularitäten. Es erweitert Exemplarik um eine zusätzliche Ebene der Sinnstiftung, die nicht an Handlungsinhalte gebunden ist und die nicht zuletzt die Paradigmatik des Exempels im Zeichen der Syntagmatik kontrolliert.