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Imaginatio, Anachronismus und Heilsgeschichte

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Mary Boyle und Annette Volfing

Für die mittelalterliche religiöse Andacht – und die damit verbundenen Literaturformen – stehen Geburt und Passion Christi in einer grundsätzlichen Spannung. Einerseits teilen sie als einmalige historische Ereignisse die Zeit in ein absolutes Vorher und Nachher, und sind damit dem unmittelbaren Zugriff der Gläubigen entzogen. Andererseits durchkreuzt das zyklische Schema des Kirchenjahres die unnachgiebige Linearität dieses zeitlichen Modells ebenso wie die Vorstellung, die Zeit sei immer in der Ewigkeit enthalten und werde nach dem Jüngsten Gericht ihre Relevanz verlieren. Um es mit Hildegard Keller zu formulieren: „Der Christ lebt in einer Spannung zwischen einem ‚Schon‘ und einem ‚Noch-Nicht‘, was eine Art ‚Zeitstreß‘ impliziert.“1

Spannungen dieser Art spiegeln sich typischerweise in Strategien des performativen Gedenkens und der imaginierten Vergegenwärtigung wider, die es den Gläubigen ermöglichen, die wichtigsten biblischen Ereignisse in ihr eigenes Leben oder ihren persönlichen Chronotopos zu assimilieren:2

Das Sich-Vertiefen in eine Passionsszene mittels der imaginatio wird oft auch mit dem Ausdruck ante oculos cordis ponere (vor das innere Auge des Herzens stellen) bezeichnet […]. Zunächst soll sich der Meditierende nach der Lesung des Textes (lectio) die Szene mittels seiner Einbildungskraft (imaginatio) ins Gedächtnis rufen, indem er sich die Geschehnisse mitsamt den beteiligten Personen und dem jeweiligen Ort intensiv vorstellt und verlebendigt.3

In diesem Aufsatz bezieht sich der Begriff ‚Anachronismus‘auf die literarische Gestaltung solcher Vergegenwärtigungsansätze – und nicht etwa auf narrativen Anachronien im Allgemeinen. Das Bedürfnis, sich die biblischen Szenen ins Gedächtnis zu rufen und mittels der imaginatio an ihnen teilzunehmen, kommt in mehreren literarischen Gattungen zum Ausdruck. Henrike Lähnemann hat die Rolle des inneren Auges bei imaginären Pilgerreisen betont.4 Die imaginatio spielt auch bei realen Reisen ins Heilige Land eine entscheidende Rolle. Solche Reisen bieten reichlich Gelegenheit, die Grenzen zwischen biblischer Vergangenheit und mittelalterlicher Gegenwart auszuloten, indem der Reisende einen Zeit-Raum einnimmt, der weder ganz zur einen noch ganz zur anderen gehört. Die Illustrationen zum Reisebericht Arnolds von Harff, dessen Pilgerfahrt zwischen 1496 und 1499 stattgefunden hat, sind zum Teil Darstellungen der Tiere und Menschen der zeitgenössischen Welt und teilweise der heiligen Orte, die auf der Pilgerfahrt besucht worden sind.5 Sieben von den Bildern aus der letzteren Gruppe zeigen Harff selbst in dem historischen Augenblick dargestellt, der dem jeweiligen Ort seine ursprüngliche Bedeutung gab.6 Wenn z.B. Harff und seine Begleiter die Kirche des Heiligen Grabes besuchen, zeigt das Bild, wie er – in der Kleidung des 15. Jahrhunderts – mit den zwei Dieben, die zu beiden Seiten Jesu gekreuzigt worden sind, am Fuße des Kreuzes Christi kniet (Abb. 1). Harff fügt also sein zeitgenössisches Selbst in den Augenblick der Kreuzigung ein und zeigt dadurch, dass er nicht nur die tatsächliche Reise durch den Raum, sondern auch eine imaginäre Reise durch die Zeit gemacht hat. Eine solche Entscheidung, die Passion in der mittelalterlichen Gegenwart darzustellen, bietet auch eine implizite Einladung an den zeitgenössischen Leser oder Betrachter, sich selbst aktiv in diese Szene einzuleben.

Abb. 1:

Oxford, Bodleian Library, MS Bodley 972, Bl. 111v: Arnold von Harff bei der Kreuzigung

Mystische Offenbarungstexte lassen ebenfalls das religiöse Subjekt als anachronistischen Mitspieler bei den Ereignissen der Evangelien hervortreten. Die Offenbarungen der Christine Ebner beginnen damit, dass sie zu Ostern im raptus nach Jerusalem gebracht wird, wo sie die drei Marien unterwegs zum Grab sieht – und sich ihnen alz ir eine anschließt.7 Auf einer zweiten Reise nach Jerusalem, wieder an einem Ostersonntag, besucht sie mit zahlreichen Mitgliedern ihres Klosters das Haus, in dem gerade das Abendmahl stattfindet.8 Keller behauptet, die religiöse visio biete „eine Art Guckloch in eine andere Zeitperspektive“ an;9 Christines aktive Teilnahme an den Ereignissen geht aber weit über das reine Beobachten der Vergangenheit hinaus. Die visio wird zu einem Mittel, die Vergangenheit zu beeinflussen und neu zu gestalten. Dies wird durch die Logik des liturgischen Zyklus unterstrichen, die implizit die Auffassung unterstüzt, biblische Ereignisse seien nicht nur unendlich wiederholbar, sondern auch bis zu einem gewissen Grad verhandelbar oder veränderlich.

Beim Einsatz der mit der imaginatio verbundenen Meditationstechniken kommt man fast so weit wie im eigentlichen raptus. In einer Predigt fordert Tauler seine Zuhörer dazu auf, nach Jerusalem zu ‚reisen‘, um das Leiden Christi zu bezeugen.10 Solche anachronistischen Phantasien werden auch bildlich reflektiert: Beispielsweise zeigt eine Initiale aus einem Antiphonar aus dem Dominikanerinnenkonvent Paradies bei Soest (Anfang 14. Jh.)11 wie eine Dominikanerin der realen Hebamme bei der Geburt des Evangelisten Johannes zur Hand geht. Auch diese Nonne leistet ihren eigenen Beitrag zur Heilsgeschichte.

Mittelalterliche Erzähltexte, die die Ereignisse der Heilsgeschichte weitervermitteln, sind auch komplex in ihrem Umgang mit Zeitlichkeit.12 Im ersten Teil dieses Aufsatzes soll die Frage gestellt werden, inwieweit die Bibelepik die eben skizzierten Strategien nutzt, um das Interesse und die affektive Teilnahme des Publikums zu fördern. Analysiert werden vier biblische Erzählungen aus dem 14. Jahrhundert: Die Erlösung, die das gesamte zeitliche Spektrum zwischen der Schöpfung und dem Jüngsten Gericht abdeckt;13 Der Saelden Hort, der mit der Schöpfung beginnt, sich dann aber auf das Leben Christi, Johannes’ des Täufers und der Maria Magdalena konzentriert;14 Heinrichs von Neustadt Gottes Zukunft, ein Text, der die Zeit von der Inkarnation bis zum Jüngsten Gericht abdeckt15 und das Marienleben des Priesters Wernher, welches das Leben der Jungfrau zum Inhalt hat.16 Diese Texte, wie auch andere aus diesem Bereich17 erzeugen ein Gefühl von Jederzeitlichkeit in der Art und Weise, wie sie die affektive Vorstellungskraft der Rezipienten in den Erzählerkommentaren und kurzen Exkursen ansprechen. Es soll weiter gezeigt werden, dass es hier um gattungsüberkreuzende Strategien der Vergegenwärtigung geht: Trotz der grundsätzlichen Unterschiede zwischen Erzählung und Drama lassen sich Ähnlichkeiten zwischen dem imaginierten Engagement des Lesers oder Zuhörers der Bibelepik und der Beteiligung des Publikums beim geistlichen Spiel beobachten. Im zweiten Teil soll die andachtsbezogene Annäherung bzw. Überschneidung der zwei literarischen modi (Erzählung und Drama) mit einem Fallbeispiel aus einer englischen Kartäuserhandschrift weiter erprobt werden: Oxford, Bodleian Library, MS e Musaeo 160 enthält zwei geistliche Spiele, die ansatzweise als Erzähltexte umgeschrieben worden sind.18

Geschichte erzählen. Strategien der Narrativierung von Vergangenheit im Mittelalter

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