Читать книгу Geschichte erzählen. Strategien der Narrativierung von Vergangenheit im Mittelalter - Группа авторов - Страница 31
Am Anfang – der Kuss
ОглавлениеErzählen vom Ereignishaften in der Erlösung
Christina Lechtermann
Geschichte wird, bevor sie in Strukturen beschrieben wird, in Ereignissen erzählt. Auch auf vormoderne volkssprachige Geschichtserzählungen trifft dies, wo sie nicht reine Sukzessionslisten sind, in einem sehr grundsätzlichen Sinne zu. Solche Geschichtserzählungen berichten dabei auch von Geschehnissen, deren Bedeutung, Effekt und Reichweite sie als exzeptionell abhebt. Auf einen entsprechenden Begriff bringen können sie dies jedoch nicht, denn lexikalisch ist das ‚Ereignis‘ als Abstraktum im mittelhochdeutschen Erzählen nicht greifbar: In den einschlägigen Wörterbüchern ist zwar das Verb erougen/eröugen (,vor Augen stellen‘, ,zeigen‘) belegt, ein zugehöriges Substantiv scheint jedoch, anders als im Althochdeutschen (ar-/ir-ougnessi) nicht existiert zu haben. Ein emphatischer Ereignis-Begriff, mit seiner spezifischen Verschränkung von Vorfall, Zäsur, Unerwartbarkeit und Plötzlichkeit, ist nach Ausweis etymologischer Wörterbücher ein Produkt des 18. Jahrhunderts.1 Differenzieren mittelhochdeutsche Texte zwischen dem ‚Gewicht‘ von Geschehensformen, ihrer Reichweite, Geltung, Wirkung, Erwartbarkeit und Plötzlichkeit, finden sie dafür in unterschiedlichen Zusammenhängen und Textsorten je eigene, aber auch gattungsübergreifend verwendete Begriffe (z.B. aventiure, dinc, geschiht, sache, wunder), verbinden diese mit adjektivischen Fügungen oder akzentuieren ihre zeitliche Logik, etwa – wie Klaus Grubmüller gezeigt hat – das dynamische Moment des erzählten Augenblicks durch die in der Volkssprache gegebene etymologische Nähe zum ‚Blitz‘.2 Ich möchte im Folgenden am Beispiel der Erlösung zeigen, wie ein vormoderner Text die Exzeptionalität heilsgeschichtlichen Geschehens thematisiert, wie Ereignisse erzählt werden, bevor ein begrifflich abstrahierbares Konzept das Ereignis konstituiert.