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II. Lucretia – Marginalisierung im Zeichen historisch-politischer Programmatik
ОглавлениеDie Lucretia-Geschichte, wie sie die deutsche Kaiserchronik erzählt, ist nach Friedrich ein Paradebeispiel für „die mehrdimensionale Paradigmatik des Exempels“1 und sein Konzept eines situativ-exemplarischen Erzählens.2 An verschiedenen Stellen der Handlung würden ganz heterogene topische Vorstellungen aus den Bereichen Herrschaft, Politik, Moral und Minne narrativ aktualisiert, ohne dass diese in ihren jeweiligen Implikationen konsequent gegeneinander abgewogen würden. So gerate das Erzählen zur kasuistischen Form, die nicht an „Kohärenzforderungen der Logik“3 gebunden in allen genannten Bereichen Paradoxien hervortreibe.4
Schaut man vor diesem Hintergrund auf die Konzeption der Lucretia-Figur, fällt auf, dass sie gegenüber den antiken Prätexten tatsächlich nur schwach profiliert ist.5 Weder die dramatische Racheforderung, die der öffentlichen Selbsttötung bei Livius unmittelbar vorgeschaltet ist,6 noch die anrührende Innensicht Lucretias unter der Vergewaltigung, die ein Zentrum der Bearbeitung Ovids darstellt, aktualisiert der deutsche Text.7 Die Lucretia der Kaiserchronik spricht kaum, eine Innensicht fehlt vollständig, und auch symbolisch verdichtete Handlungsmomente, die in der Erzähltradition fest mit der Figur verbunden sind, wie das nächtliche Spinnen einfacher Wolle in Gemeinschaft mit ihren Mägden spart der deutsche Text aus. Die Selbsttötung schließlich wird nur lakonisch resümierend konstatiert und nicht szenisch inszeniert.8 Jede politische Relevanz ist der Figur schließlich durch die anachronistische Einbindung in den Handlungsverlauf der Chronik genommen: Das Opfer der Lucretia führt keinen revolutionären Umsturz und keine politische Neuordnung herbei, sondern verhallt ohne jede Nachwirkung im staatlichen Gefüge.9
Die Forschung hat in dieser Rücknahme der starken Handlungsrolle eine Anpassung an das mittelalterliche Herrscher- und Ehe-Ideal gesehen, eine Anpassung, die erzählerisch „nicht immer glatt aufgehe“ und bei der ein reflektiertes Verhältnis zur Antike eine sehr nachgeordnete Rolle spiele.10 Sieht man nun noch einmal genauer hin, kann man erkennen, dass die Reduktion der Figur allerdings nicht, wie immer wieder konstatiert, zu ihrer Hybridisierung führt, sondern einem sehr klaren Konstruktionsprinzip folgt, das offensichtlich gezielt bei der gemeinsamen Tektonik der antiken Realisationen des Stoffes ansetzt. Alle antiken Versionen der Lucretia-Geschichte leben von der Parallelisierung des sexuellen Angriffs auf eine keusche römische Bürgerin mit dem Angriff auf die res publica.11 Das „Verbrechen des Sextus Tarquinus“ wird „zum Sinnbild für die Sitten- und Rechtlosigkeit des Königtums als solchen, während der geschändete Körper der keuschen Lucretia als Sinnbild für die geschändete Körperschaft des römischen Volkes erscheint.“12 Diese metaphorische Relation steuert den Übergang eines privaten Ereignisses in einen politischen Umsturz. Und erst durch diese Relation wird aus der Selbsttötung Lucretias zur Wahrung der eigenen, persönlichen Integrität ein Opfer für die Integrität des Staates. Lucretia animiert – sei es durch den Aufruf zur Rache wie bei Livius oder durch anrührende Hilflosigkeit bei Ovid – die Männer, die sie zu schützen nicht in der Lage waren, eine Ordnung zu schaffen, die fortan Schutz gewährt. Deswegen wird auch Collatinus, geprägt von der Erfahrung als Schutzherr versagt zu haben, neben Brutus zum Schöpfer und Garant dieser neuen Ordnung. Ein solcher Umsturz benötigt auf der Handlungsebene eine affektive Dynamik, die nur der tragische Einzelfall aktivieren kann. Im antiken Erzählen wird der Rezipient durch immersive Darstellungstechniken wie Innensichten, innere Monologe, direkte Rede oder Emotionsdarstellungen an eben dieser Dynamik beteiligt.
Genau an diesem Punkt setzt die Umkonzeptualisierung der Kaiserchronik an. Statt von immersiver Dynamik ist Lucretias Handeln von einer auffälligen Statik geprägt. Redundante, fast identische Formulierungen markieren ihr gleichbleibendes Agieren in unterschiedlichen Handlungskonstellationen. Als Conlatinus sie in Begleitung des Königs nachts aus dem Bett ruft, um sich von ihr bewirten zu lassen, heißt es:
Si hiez ir tiske rihten,
si diente dâ mit michelen zuhten:
si scancte in diu goltfaz den wîn,
si bat den gast frô sîn. (Kaiserchronik, V. 4497–4500)
Als er ihr daraufhin ohne jeden äußeren Anlass ein Glas Wein ins Gesicht schüttet, erträgt sie diese Demütigung offensichtlich unbewegt, ohne ihr Verhalten dem Mann und dem Gast gegenüber zu verändern:
si schancte dem wirte den wîn,
si bat den gast frô sîn,
si enphie im das goltfaz;
daz tet diu frowe umbe daz,
daz der wirt frô wære (Kaiserchronik, V. 4511–4515)
Selbst als sie nach der Vergewaltigung durch den König ihrem Leben ein Ende setzt, bewirtet sie noch unmittelbar zuvor die geladenen Gäste in exakt der gleichen Weise:
diu frowe nam ir goltvaz,
si scancte alumbe,
si bat die fursten alle bisunder,
daz si frô wæren (Kaiserchronik, V. 4752–4755)
Diese merkwürdige Unbewegtheit der Figur wird gemeinhin in Zusammenhang mit der besonderen Bedeutung vorbildlicher Haushalts- und Hofführung für ein mittelalterliches Publikum gebracht.13 Indem Lucretia in wirklich jeder Lebenslage die Fähigkeit zur gelungenen höfischen Interaktion zeige, biete sie ein Exempel weiblicher Duldsamkeit und vorbildlicher Lebenspraxis, das die problematischen Implikationen der Selbsttötung zumindest teilweise zu überdecken in der Lage sei.14 Dabei wird jedoch übersehen, dass die drei aufeinander folgenden Handlungskonstellationen, in denen Lucretia ihre Duldsamkeit beweist, nicht einfach ganz unterschiedliche Lebenslagen durchspielen, in der eine mittelalterliche Hausfrau in ihrer Dienstbereitschaft gefordert ist, sondern die klimatische Variation letztlich ein- und derselben Demütigungshandlung darstellen. Eine absolute Neuerung des deutschen Textes gegenüber der lateinischen Erzähltradition ist dabei, dass zwei dieser Demütigungshandlungen nicht vom späteren Vergewaltiger ausgehen, sondern vom Ehemann selbst. Dass Conlatinus seiner Frau in Anwesenheit des Königs ohne jeden Anlass Wein ins Gesicht schüttet, nimmt ganz offensichtlich die spätere Vergewaltigung vorweg. So wie Lucretia ihre Integrität in dieser Situation wiederherstellt, indem sie still das beschmutzte Kleid gegen ein neues abermals reinweißes tauscht,15 tut sie es nach der Vergewaltigung, indem sie sich des geschändeten Körpers entledigt. Die bis auf die Wortebene identische Beschreibung ihrer Bewirtungstätigkeit stellt diese Parallele neben anderen wörtlichen Wiederholungen aus.16 So äußert Lucretia im gleichen Handlungszusammenhang ihre demütige Dienstbeflissenheit gegenüber dem Ehemann in der gleichen Pose wie in der Interaktion mit dem König.17
Blickt man von hier aus auf die gesamte Handlung des Lucretia-Exempels, zeigt sich, dass König und Ehemann immer wieder auf unterschiedlichen Ebenen parallelisiert werden.18 Der metaphorischen Grundstruktur des antiken Exempels folgend, ist Conlatinus nicht nur an der Verletzung der Integrität seiner Frau beteiligt, sondern, anders als in der Stofftradition, auch für die kriegerische Auseinandersetzung verantwortlich, die den Rahmen der Lucretia-Handlung bildet und die bei Livius die anhaltende Versehrung der res publica symbolisiert. Vor diesem Hintergrund ist es nur konsequent, dass Conlatinus in der Kaiserchronik nicht zum Begründer und zum politischen Führer einer neuen demokratischen Ordnung werden kann und am Ende gemeinsam mit dem von ihm getöteten Tarquinius folgenlos aus der Handlung verschwindet.19 So bleibt die Rache in der Kaiserchronik eine private Tat, ohne politische Auswirkungen, wie auch Lucretias Selbsttötung nicht zu einer politisch motivierten Opferhandlung werden kann.
In diesem Zusammenhang erklärt sich auch die irritierende und viel diskutierte anachronistische Einordnung des Lucretia-Exempels in die Kaiserfolge des volkssprachigen Textes.20 Die Lucretia-Geschichte steht nicht an einem politischen Wendepunkt, sondern neben den Geschichten Neros, Galbas und Pisos, also inmitten eines Zyklus immer wiederkehrender Übergriffe auf den Staatskörper und bürgerkriegerischer Auseinandersetzung. Während bei Livius und Ovid an der Lucretia-Geschichte die Voraussetzungen und Bedingungen politischer Umbrüche reflektiert und insbesondere die Reorganisationsfähigkeit des römischen Staatskörpers pointiert werden, zeigt die Kaiserchronik in unmittelbarer Reaktion darauf, welche Umstände eine solche Reorganisation verhindern, und nimmt damit eine reflektiert kritische Distanz zur bei Livius etablierten Geschichtsteleologie und Staatskonzeption ein.
Von entscheidender Bedeutung ist dabei ein weiteres Detail, nämlich, dass Conlatinus in der Kaiserchronik nicht der römischen Führungselite entstammt, sondern Trierer ist. Hier geht es nicht wie immer wieder angenommen darum, dass ein ‚Deutscher‘ in die Handlung integriert wird, um die spätere Translatio des römischen Reichs auf die Deutschen vorausdeutend präsent zu halten. Indem der Trierer zum Mittäter bei der Schändung von Frau und Staat wird und folgerichtig nicht zum Anführer der politischen Neuordnung aufsteigen kann, wird gezeigt, dass zu diesem Zeitpunkt der Geschichte – also vor der Christianisierung – auch die deutschen Fürsten noch nicht über die Kompetenzen verfügen, die gute Herrschaft ermöglichen. Die Tugenden, die gute Herrschaft ausmachen und die entlang der Lucretia-Geschichte entfaltet werden, unterscheiden sich zwischen den antiken und mittelalterlichen Realisationen erstaunlich wenig. In allen Fällen geht es um die Beschützerrolle des Herrschers, die Empathie gegenüber den Nöten der Schutzbefohlenen und uneigennützig sorgende Liebe zum Gemeinwesen voraussetzt. Diese Sorge setzt die Bereitschaft zum Verzicht auf den eigenen Vorteil, die eigenen Interessen und Bedürfnisse voraus.21 Wo die Fähigkeit zur liebenden Fürsorge für das Gemeinwohl insgesamt fehlt, so die entgegengesetzte Diagnose, die der deutsche Text dem römischen Reich ausstellt, bleibt Gesellschaft stets vom Zerfall bedroht. Die antiken Fassungen der Lucretia-Geschichte und die deutsche unterscheiden sich allem voran darin, ab welchem Zeitpunkt der Geschichte sie den Herrschern im römischen Reich eine solche Einsicht und die damit verbundenen Tugenden zugestehen. Die Kaiserchronik tut es erst, mit der tiefen Durchdringung von Herrschaft durch die Grundsätze des christlichen Glaubens. Dem antiken Konzept der Kraft zur Selbstheilung, die den Römern immer schon gegeben ist, wird programmatisch ein Bewusstsein der beständigen Abhängigkeit von göttlicher Gnade und christlicher Lehre entgegengesetzt. Das sinnlose Selbstopfer Lucretias fällt folgerichtig in die vor-constantinische Zeit, in die Zeit vor den ersten Ansätzen zur Christianisierung. Aber auch dort, wo das Christentum bereits Staatsreligion ist, die Herrscher aber zumindest teilweise in alten Denktraditionen verharren, erzählt die Kaiserchronik noch von unschuldig verfolgten Frauen, deren Geschichte mit der Lucretias korrespondiert – ganz ähnlich, wie auch Livius es zum Beispiel mit der Geschichte Virginias tut. Während Livius allerdings an unterschiedlichen Frauengeschichten in unterschiedlichen politischen Krisensituationen stets die gleiche von Frauenopfern aktivierte Kraft zur Selbstheilung und Reorganisation herausstellt, entwirft die Kaiserchronik eine geschichtliche Sukzession. Anders als das Lucretia-Exempel übernimmt der deutsche Autor die Virginia-Geschichte nämlich nicht, um sie im Sinne seines Geschichtsverständnisses umzudeuten, sondern er ersetzt sie durch die Crescentia-Legende ohne lateinische Stofftradition. Und anders als Lucretia und Virginia übersteht Crescentia im tiefen Vertrauen auf die göttliche Gnade die doppelte Schändung ihres Körpers und kann deswegen von Gott im Wortsinn zum Medium der Heilung der Herrschenden und der gesamten Gesellschaft gemacht werden. Ihre Leiden verhallen nicht ohne Konsequenzen, sondern treiben am Ende den langwierigen Prozess der Christianisierung entscheidend voran. Der im Zeichen christlicher Zuversicht, Demut und Leidensbereitschaft stehende Verzicht auf Selbsttötung ermöglicht erst politische Wirksamkeit. Spannend ist auch hier die Figurenkonstellation, in der Herrscher und Peiniger auf zwei Handlungsrollen aufgeteilt sind. In beiden Handlungsteilen ist der Herrscher durchaus positiv gezeichnet. Dietrich liebt seine Frau aufrichtig und versucht sie zu beschützen, versagt aber an den entscheidenden Stellen, weil er die falschen Prioritäten setzt und seine Beschützerrolle nicht konsequent genug verfolgt – vor allem aber, weil er trotz seiner Liebe zu seiner Frau ihr Wesen nicht wirklich erkennt. Wieder versagt der Herrscher als Beschützer, weil seine Liebe am Ende doch zu oberflächlich bleibt. Und wieder spiegelt dieses Defizit des Liebenden das Defizit des Herrschenden. Dietrich ist ein guter Kaiser, aber es reicht nicht, um die sich selbst perpetuierende Verkettung von Krisen im römischen Reich, die am sinn- und folgenlosen Selbstopfer Lucretias exemplifiziert worden war, zu durchbrechen. Zum Katalysator einer politischen und gesellschaftlichen Re-Organisation wird erst Crescentias unerschütterliches Vertrauen in die göttliche Gnade und die Sinnhaftigkeit göttlicher Bestimmung.
Insgesamt erweist sich mit all dem die narrative Faktur des Lucretia-Exempels als deutlich weniger inhomogen und die Sinnstiftung als weniger situativ als gemeinhin angenommen. Veränderungen der Figurendarstellung, die Verschiebung der Figurenkonstellation und die kontextuelle Einbindung begründen ein übergreifendes Darstellungskonzept, das die Sinnbildung innerhalb des Exempels und – das konnte hier im Ausblick auf die Crescentia-Legende lediglich angedeutet werden – auch darüber hinaus entscheidend mitbestimmt. Bedeutung generiert in diesem Zusammenhang nicht nur die erzählte Handlung, sondern auch die Art der Darstellung. Die Marginalisierung der Lucretia-Figur etwa oder die Analogien zwischen den männlichen Handlungsträgern bilden eine eigenständige Ebene der historisch-politischen Auseinandersetzung mit der antiken Geschichtsteleologie und begründen deren logisch-systematischen Geltungsanspruch entschieden mit. Die Polyvalenz des Exempels wird dadurch ein Stück weit eingedämmt und es steht zu erwarten, dass auch die vielfältigen paradigmatischen Bezüge zu anderen Ehe-, Rache-, Opfer- und Liebesgeschichten im Erzählkontinuum der Kaiserchronik eine weniger lose Pluralisierung von Sinn hervorbringen, als von Friedrich angenommen. Greifbar wird damit aber noch deutlich mehr als ein Kohärenzprinzip. Mir scheint die beobachtete Semantisierung der narrativen Faktur eine kategoriale Überschreitung rhetorischer Argumentationsformen und in diesem Sinne ein Indikator für eine spezifisch poetische Qualität vormodernen Erzählens von Vergangenheit. Dabei gilt es aber zu sehen, dass es sich zwar um eine ausgesprochen artifizielle Konfiguration handelt, aber gerade nicht um eine, die eine im ästhetischen Sinne eigenständige Wertqualität beanspruchen und insofern eine veränderte Wissensordnung oder Episteme voraussetzen würde. Entsprechend ließen sich Phänomene der Semantisierung narrativer Techniken, wie sie schon in der Kaiserchronik zu beobachten sind, durchaus in eine aus der Rhetorik abgeleitete Poetik komplexen exemplarischen Erzählens von Geschichte, wie Friedrich und Hübner sie entwickeln, integrieren. Zu überlegen wäre dabei allerdings, ob ein Erzählen, das neben den Inhalten der Handlung auch die Form der Darstellung semantisiert und auf diesem Weg eigenständig Wissen generiert, zumindest im Ansatz ein Konzept von der Konstruktivität historischen Erzählens, also davon, dass erst die Darstellung ‚Geschichte‘ macht, voraussetzt. Spätestens an dieser Stelle hätte man es allerdings mit einem Erzählen auf der Grenze einer Epistemologie des Exemplarischen zu tun.