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II. Zwischen Drama und Erzählung

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Oxford, Bodleian Library, MS e Musaeo 160, eine Sammlung religiöser Texte in der Volkssprache, ist wahrscheinlich das persönliche Andachtsprojekt eines einzelnen englischen Kartäusermönches. Die Handschrift wird auf etwa 1520 datiert, wobei offensichtlich ein langwieriger Herstellungsprozess zu berücksichtigen ist. Die Schreibsprache und mehrere Hinweise auf Lokalheilige lassen vermuten, dass sie in Yorkshire entstand.1

Die Auswahl der Texte zeugt von einem starken Interesse für historisches Erzählen, vorwiegend aber nicht ausschließlich in heilsgeschichtlichem Zusammenhang. Der erste Teil der Handschrift besteht aus einer Verschronik, die die Weltgeschichte von der Schöpfung bis zur Gegenwart des Schreibers, mit Fokus auf heilige Männer und Frauen, erzählt.2 Es folgt ein Teil eines Gedichts über das Treffen auf dem Feld des Güldenen Tuches (der Gipfelkonferenz von 1520 zwischen dem englischen König Heinrich VIII. und König Franz I. von Frankreich). Dieser Teil der Handschrift ist jedoch unstrukturiert und wird durch eine Nacherzählung in Versform einer Episode aus Mandevilles Reisebericht unterbrochen, der selbst wiederum durch den Schlussteil des Feld des Güldenen Tuches unterbrochen wird. Dieser Text kann als eine Fortsetzung der Chronik gelesen werden, die er auf den neuesten Stand bringt. Nach dem Mandeville-Roman kommt eine englische Übersetzung der lateinischen Hundert Betrachtungen Heinrich Seuses. Es folgen drei Blätter mit den Fifteen Articles of the Passion. Die Handschrift wird durch zwei geistliche Spiele bzw. ein geistliches Spiel in zwei Teilen vervollständigt: Christ’s Burial und Resurrection. Mit Ausnahme der Fifteen Articles of the Passion sind alle Texte von der selben Hand geschrieben.

Sowohl die Spiele wie auch die Versmeditationen heben sich von der narrativen Linearität der zusammengewürfelten Weltgeschichte (Verschronik, Güldenes Tuch, Mandeville) ab. Dennoch zeigt die Handschrift schon von Anfang an einen Hang zum Anachronismus und zu nicht-linearen Zeitmodellierungen. Die Verschronik zielt eindeutig darauf ab, die gesamte Menschheitsgeschichte zu christianisieren. Biblische Figuren, die Christus vorausgingen, werden anachronistisch als Heilige dargestellt, z.B. Sanctus Judas machabeus (Bl. 25r) und Sanctus Noe (Bl. 3r). Illustrationen und Versgebete, die an diese Figuren gerichtet sind, bewirken ebenfalls eine Zeitverschiebung, die sie in die meditative Gegenwart bringt. Im vorchristlichen Teil der Chronik wird fast die Hälfte jeder Seite von einem schwarz umrandeten, für eine Illustration vorgesehenen Feld eingenommen, obwohl diese Felder nur auf den ersten beiden Seiten mit Bildern von ‚Heiligen‘ ausgefüllt sind: Adam und Eva (Bl. 1v; Abb. 2) und Kain und Abel (Bl. 2r).3 In der ersten Illustration werden mehrere Zeitpunkte vergegenwärtigt: Adam und Eva sitzen nackt im Garten und – trotz ihrer strategisch platzierten Hände – unterstreicht die Abwesenheit von Feigenblättern die Tatsache, dass sie noch keine Scham kennen. Dennoch wartet links vom Rahmen ein Engel mit einem Schwert in der Hand. Hierauf folgt ein Versgebet, das sich sprunghaft von Paradies und Sündenfall zum Kalvarienberg bewegt, weiter zu oure dethe, unserem Tod, und dann zurück zu Adams Buße vor der Kreuzigung und Auferstehung:

Adame prince of <all> mankind

First indwellerre of paradise

God gave the lordshipe ose we finde

Of erthly creatures in euery wise

By evis worde & the fendes vice

Thou lost that lif & fande our dethe

Unto Ihesu the prince of price

Bought the & us on Calueryes hethe

Holy Fader Adame when oure brethe

Sall passe vs fro thou help vs thane

Os thou was first finder of our dethe

Wiss us to lyfe os thow well can

Becawse thy fall was losse of man

Holy fader thou did fell pennance

To giff all man<kind> ensampill than

To suffer payn for ther grevance (Bl. 1v)

,Adam, Fürst aller Menschheit, erster Bewohner des Paradieses, Gott hat dir die Herrschaft gegeben, so finden wir, über jede Art von irdischem Geschöpf. Durch Evas Wort und des Teufels Bosheit hast du dieses Leben verloren und unseren Tod gefunden, bis Jesus, der lobenswerte Fürst, dich und uns auf dem Feld des Kalvarienbergs [frei]kaufte. Heiliger Vater Adam, wenn unser Atem uns verlässt, dann hilf uns. Da du als erster unseren Tod gefunden hast, führe uns zum Leben, wie du es wohl kannst. Weil dein Fall der Verlust der Menschheit war, Heiliger Vater, du hast schreckliche4 Buße getan, um der Menschheit dann ein Beispiel zu geben, Strafe für ihr Vergehen zu erleiden.‘

Abb. 2:

Oxford, Bodleian Library, MS e Musaeo 160, Bl. 1v: Adam und Eva

Auch wenn man diese meditativen Ansätze im narrativen Teil der Handschrift mit in Betracht zieht, bleibt die Aufnahme der Spiele in die Sammlung auf den ersten Blick überraschend. Die dem Schweigegebot verpflichtete kartäusische Spriritualität ist normalerweise nicht mit der Abfassung oder Aufführung geistlicher Spiele vereinbar. Entsprechend selten kommen Spiele in Kartäuserhandschriften vor.5 Obwohl die zwei hier untersuchten Spiele nur in dieser einen Fassung überliefert worden sind, herrscht Konsens darüber, dass der Schreiber nicht mit dem Autor identisch ist.6 Die Handschrift enthält eine Notiz, die die Spiele liturgisch verankert, jedoch scheint es äußerst unwahrscheinlich, dass sie für eine tatsächliche Aufführung verwendet worden sind:

This is a play to be played on part on gud frid[ay] afternone and þe other part opon Ester day after the resurrection (Bl. 140v).

,Dies ist ein Schauspiel, dessen einer Teil Karfreitag Nachmittag aufgeführt werden soll und der andere Teil Ostersonntag, nach der Auferstehung.‘

Einen Anhaltspunkt zur Funktion der Spiele liefern die Korrekturen in der Handschrift. Hier finden sich Hinweise dafür, dass der Schreiber begonnen hat, ein Spiel zu revidieren, mit dem Ziel, es in die Form einer Meditation zu bringen. Die später durchgestrichenen Korrekturen (z.B. Abb. 3), müssen Ergänzungen sein, denn sie führen zu unregelmäßigen Strophen. Nach Bl. 147r scheint der Schreiber seine experimentelle Revision abgebrochen zu haben: er hat die verbleibenden Teile in ihrem ursprünglichen Format kopiert und die anfänglichen Revisionen (wenn auch nicht konsequent) gestrichen. Im Großen und Ganzen sind die Korrekturen des Schreibers der Art, dass Zeilen, oder Teile von Zeilen, in Rot ausgestrichen worden sind. Es handelt sich hier um Formulierungen, die in einem Schauspiel weniger typisch, in einer Erzählung aber eher zu erwarten wären, meistens in der Form von ‚X sagte Y‘. Gelegentlich werden diese versehentlich stehen gelassen, wie auf Bl. 141r: O gud mawdleyn said Joseph [‚‚O gute [Maria] Magdalena‘, sagte Joseph‘]. Sobald der Schreiber sich dafür entschieden hat, den Text in seiner ursprünglichen Form als Drama zu kopieren, ist er zum Anfang zurückgekehrt und hat versucht Platz für die Rubriken zu finden (oft durch den Eintrag des Sprechernamens in roter Farbe an freien Stellen). Im Kommentar zu Bl. 140v bezüglich geeigneter Tage für die Aufführung heißt es weiter, a[t the] begynnynge ar certen lynes whic[h shuld] not be said if it be plaied [,zu Beginn sind einige Zeilen, die nicht gesprochen werden sollten, wenn es aufgeführt wird‘]. Dies macht deutlich, dass der Schreiber seine früheren Ergänzungen als unvereinbar mit dem dramatischen Modus betrachtet hat. Laut Daniel Wakelin ist dies auch ein Indiz dafür, dass das Spiel nicht aufgeführt worden ist und einen anderen Zweck hatte.7

Abb. 3:

Oxford, Bodleian Library, MS e Musaeo 160, Bl. 141r: Beispiel der Ausradierung eines narrativen Textstückes

Donald Baker, John Murphy und Louis Hall sind der Auffassung, die Spiele seien ursprünglich in der Form erweiterter Meditationen konzipiert worden, der Schreiber habe dann die Idee gehabt, sie in Spiele zu verwandeln.8 Rosemary Woolf und James Hogg meinen dagegen, dass die Texte ursprünglich als Spiele kopiert wurden;9 und Jessica Brantley lässt die Frage offen.10 Obwohl der meditative Zweck dieser Texte sicherlich außer Frage steht, ist der Ansatz von Woolf und Hogg überzeugender als der von Baker, Murphy und Hall: Der Schreiber scheint anfangs die Spieltexte in eine erzählende Meditation umschreiben zu wollen – vielleicht auch um die narrative Einheitlichkeit der ganzen Handschrift zu verstärken. Kurz nach Beginn seiner Arbeit hat er sich dann aber wohl entschieden, dass die ursprungliche, dramatische Form sich doch besser zur Meditation eigne. Diese Entscheidung mag damit zusammenhängen, dass der anfängliche Versuch, die Spiele zu narrativieren, zu einem Tempuswechsel geführt hat, wobei die Vergangenheit (z.B. saide) auf Kosten der Gegenwart privilegiert worden ist. Zwar finden wir gelegentliche Kompromissformulierungen, die das Präsens verwenden, aber dennoch einen historischen Ereignisverlauf zum Ausdruck bringen, zum Beispiel Bl. 147v: Joseph redy to tak crist down sais [] [,Joseph, der bereit ist, Christus herunterzutragen, sagt‘]. Darauf folgen jedoch keine weitere Beschreibungen. Der Schreiber scheint endgültig zu der Schlussfolgerung gelangt zu sein, dass die in einer Meditation erzielte Vergegenwärtigung im dramatischen Modus (mit den damit verbundenen Visualisierungsstrategien) doch am besten zu erreichen sei.

Die Gebete und Illustrationen in der Verschronik legen bereits einige kleine meditative Pausen in der Erzählung der Weltgeschichte ein. Dennoch scheint der Schreiber sich einen größeren Umfang an solchem Material gewünscht zu haben – wie etwa die vielen kurzen Exkurse anzeigen, die kunstvoll in die deutsche Bibelepik eingebaut sind. Sie leiten den Leser zu einem ‚performative reading‘ an, indem sie ihm Anweisungen geben, wie er die Höhepunkte der Heilsgeschichte mittels aktiven Einsetzens der imaginatio vergegenwärtigen und sinnlich erleben mag. Der Kartäusermönch, der diese Handschrift verfertigt hat, ist als Schreiber bzw. Kompilator und nicht als Autor zu betrachten. Wie sich erkennen lässt, neigt er offensichtlich nicht dazu, die narrativen Texte, die er sich ausgesucht hat, so zu bearbeiten, dass meditative ‚Pausen‘ nahtlos in die Narrativierung eingesetzt werden; wie bereits erwähnt ist die Handschrift schon in der Kombination von Textblöcken nicht konsequent. Der Mönch scheint aber einen Sinn für das Vergegenwärtigungspotenzial von geistlichen Spielen gehabt zu haben. Während die Autoren der im ersten Teil besprochenen Texte analoge Strategien entwickelt und diese an ihre narrativen Texte angepasst haben, hat dieser Schreiber sich mit dem Anheften nicht-narrativer Texte außerhalb der Reihe, also nach dem eigentlichen Ende der Weltgeschichte, begnügt. Seine Korrekturen zeugen von einem anfänglichen Unbehagen beim Wechsel der modi und von der Annahme, der Gebrauch von der grammatischen Vergangenheit passe besser zum übergreifend historischen Unternehmen. Schließlich scheint er aber akzeptiert zu haben, dass das Spiel als Spiel seinen meditativen Bedürfnissen durchaus entsprochen und die vorausgehenden Textblöcken auf produktive Weise ergänzt hat.

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