Читать книгу Geschichte erzählen. Strategien der Narrativierung von Vergangenheit im Mittelalter - Группа авторов - Страница 32
I Erzählen und Ereignis
ОглавлениеZu Beginn des 14. Jahrhunderts entsteht, vermutlich im rheinfränkischen Raum, ein verspaariger Text, der seit seiner ersten Ausgabe durch Karl Bartsch im Jahr 1858 den Titel Die Erlösung trägt.1 Auf dem alten Einband einer seiner Handschriften ist er als Geschichte der Welt ausgewiesen: Von der beschaffung diser werlt bis auf das jungst gericht gereymt.2 Der Text erzählt nach einem strophischen Prolog sehr knapp von der Erschaffung des Menschen und dem Sündenfall, ehe sich mit dem sogenannten ‚Streit der Töchter Gottes‘ eine ausführlichere allegorische Gerichtsszene über die Erlösungsfähigkeit des gefallenen Menschen anschließt. Dem Urteilsspruch folgt eine Prophetenreihe, die einzelne Prophezeiungen, z. T. unter Einbezug kurzer lateinischer Zitate, präsentiert. Mit der Verkündigung an Zacharias und Elisabeth beginnt der dritte und längste Abschnitt. Er bietet ein Leben-Jesu/Marienleben, das sich über ausgewählte Stationen bis zur Himmelfahrt Marias erstreckt. Im letzten Abschnitt wird – wieder deutlich gerafft – von der Geburt des Antichrists, von Enoch und Elias, den Prophetien und Vorzeichen sowie dem Vollzug des Weltgerichts berichtet. Sünden- und Gnadenkataloge sowie ein Gebet schließen den Text ab.
Die Erlösung wird von der Forschung wie folgt charakterisiert: Ursula Henning spricht von einem „(h)eilsgeschichtliche(n) Epos“ und liest den Text als Überschau von der Schöpfung bis zum jüngsten Gericht.3 Ferdinand Urbanek bezeichnet ihn als heilsgeschichtliches „Bibelepos“.4 Elke Ukena-Best beschreibt ihn in Synthese vorausgehender Zuordnungsversuche als „Heilsgeschichte und Christus-‚Biographie‘ in der Tradition höfischer Bibelepik“ und liest ihn als dreigeteilt, wobei einer ‚Epoche der Vorausdeutung‘, die ‚Epoche der Erfüllung‘ und die ‚Epoche der Zukunft‘ folge.5 Jens Haustein betont die „theologische Denkform“ der Typologie. Diese sei vom Verfasser der Erlösung literarisch gestaltet worden und der Text sei insgesamt konstituiert „als Abfolge von Ereignissen, die mit anderen, vor- oder zurückliegenden, im Verhältnis von Verheißung und Erfüllung stehen“, wobei das Geschehen immer wieder „nur in seiner Prophezeiung“ präsent gehalten wird, ohne als solches auch erzählt zu werden.6 Aleksandra Prica untersucht die Erlösung vor allem mit Blick auf den „Konflikt zwischen Anpassung und Verselbständigung, der angesichts jeder Thematisierung der Heilsgeschichte“ in (abgrenzender) Bezugnahme auf höfische Dichtung und als „Konflikt zwischen Poetik und Exegese“ zu beobachten sei.7 Dieser sei hier derart komplex inszeniert, „dass sich in ihm die Dialektik poetischer und exegetischer Dynamiken ebenso ausdrückt wie ein neuartiges dichterisches Selbstbewusstsein“.8 Ausgangspunkte dieser Lektüre sind einerseits der Prolog (V. 1–104), andererseits der erzählerische Exkurs (V. 853–951), der am Ende der allegorischen Gerichtsszene inseriert wird.9 Beide Stellen werden dazu nicht primär auf das erzählte Heilsereignis, sondern auf das Erzählen selbst hin gedeutet: „Das eigentliche Wunder, dem in der Vorrede buchstäblich das Wort geredet wird, wären dann nicht etwa die von Maurer nachdrücklich als Hauptinteressen des Dichters hervorgehobenen Ereignisse um Inkarnation und Erlösung, sondern vielmehr das Ereignis der Werkgenese.“10 Diese Lektüre stellt sich – wenngleich aus anderem Blickwinkel – ebenso wie Hausteins Beitrag dem Diktum Haugs entgegen, die Erlösung rekurriere lediglich formal auf den höfischen Roman, ginge dabei jedoch hinter seine Errungenschaften zurück, indem sie „die Verbindlichkeit des epischen Geschehens […] letztlich jenseits der ästhetischen Sphäre und ihres spezifischen Risikos“ im Rückgang auf eine „Objektivität der Heilsgeschichte“ suche.11 Angeschlossen wird dazu an ein Konzept von Ereignis, das sich auf die Erscheinungsform des Mediums bezieht und es erlaubt, Ereignis „in Kategorien der Verwiesenheit und des Medialisiertseins zu begreifen“, um so den Ereignisbegriff für die Analyse von heilsgeschichtlichem Erzählen „von der Fixierung auf die Inkarnation“ und damit auf eine unerreichbare Einzigartigkeit zu entlasten.12 Die so ermöglichte Lektüre trägt den Text selbst als Zeugnis einer Wahrheit in die Heilsgeschichte ein, das den abwesenden Inkarnierten überdauert und „an seine Stelle“ tritt. Sie verschiebt damit das Moment der Ereignishaftigkeit auf den Text bzw. auf seine Überlieferung.13
Vor dem Hintergrund des hier abgesteckten Themas (Erzählen von Geschichte) soll jedoch komplementär dazu nach Inszenierungen des exzeptionellen Geschehens, nach der Verhandlung von Ereignishaftigkeit im Blick auf das Erzählte gefragt werden. Es wird zu zeigen sein, inwiefern die drei Großabschnitte der Erzählung je eigene Modi finden, um das besondere Ereignis der Erlösung zu thematisieren und dabei unterschiedliche Aspekte des Ereignishaften in den Vordergrund zu rücken. In einem ersten Schritt werden dazu die Prophetenreihe und das Leben-Jesu/Marienleben in den Blick genommen (II), abschließend ist auf den diese beiden Teile einleitenden sog. ‚Streit der Töchter Gottes‘ einzugehen (III).