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I. Poetik exemplarischen Erzählens in volkssprachiger Geschichtsdichtung – Perspektiven der Forschung
ОглавлениеIn mehreren aktuellen Beiträgen insbesondere zur Kaiserchronik1 und zum Trojanerkrieg2 begegnen Udo Friedrich und Gert Hübner der für das Thema des vorliegenden Bandes zentralen Frage nach dem spezifischen Wahrheitskonzept, Geltungsanspruch und Sinnpotential eines dezidiert poetischen Erzählens von Vergangenheit in einer providentiellen Wissensordnung unabhängig voneinander mit einem theoretisch geschärften Konzept exemplarischen Erzählens.3 Beiden geht es darum, die poetische Qualität der Texte im Anschluss an die Rhetorik als entscheidende zeitgenössisch verfügbare Reflexionstradition für Prozesse der Textgenese zu beschreiben und nicht im Rekurs auf anderen epistemologischen Bedingungen aufruhende Kategorien der Ästhetik. Und von hier aus lenken beide den Blick auf topische Organisationsformen des volkssprachigen Erzählens von Geschichte, die beispielhafte Einzelszenen und Handlungskonstellationen je neu aus dem breit gefächerten Fundus des eigenen kulturellen Wissens heraus modellieren und jenseits logischer Schlussverfahren verknüpfen. Die in der Forschung immer wieder identifizierten Brüche, Inkonsistenzen und Spannungen im Sinngefüge der Texte erklären sich in einem solchen Verständnisrahmen weder als inkonsequente höfisch-christliche Überformungen kulturell entfernter Stofftraditionen noch als Kulminationspunkte von Antagonismen im kollektiven Imaginären der adeligen Trägerschicht volkssprachiger Literatur, sondern aus der generischen A-Systematik topischen Wissens und der situationsspezifischen Aktualisierung dieses Wissens in exemplarischen Wirklichkeitskonstruktionen.
Für die Kaiserchronik arbeitet Friedrich gegenüber den in der Forschung immer wieder beschriebenen typologisch-heilsgeschichtlichen Sinnlinien4 die Virulenz eines dazu in Spannung stehenden situativ-exemplarischen Erzählens heraus. Zentrale, aber nicht diskursiv behandelte Problemzusammenhänge des Textes würden narrativ an konkreten historischen oder als historisch konstruierten Situationen so entfaltet, dass sie auf kulturspezifische Grundüberzeugungen der eigenen Zeit beziehbar würden. Komplexität gewinne dieses Erzählen demnach, weil das Exempel als grundsätzlich polyvalente Erkenntnisform5 jenseits logischer Schlussverfahren keine eindimensionalen ‚Regel-Fall-Mechanismen‘6 entwerfe, sondern vielschichtige Bezüge zwischen den erzählten Situationen und einem breit gefächerten Archiv kollektiv geteilten Erfahrungswissens nahelege. Im vervielfältigten paradigmatischen Bezug der Einzelgeschichten modelliere die Kaiserchronik neben der heilsgeschichtlichen Zielgerichtetheit historischer Ereignisse gleichzeitig „die Vielfalt und Variabilität von Erfahrung“7, ohne dabei die gegenläufigen Sinndimensionen gegeneinander abzugrenzen. Greifbar würde in solchen Spezifika des Erzählens die poetische Überschreitung rhetorischer Funktionen des Exempels8 in der volkssprachigen Geschichtsdichtung. Was der Forschung bislang als Störungen oder Brüchigkeit übergreifender Sinnlinien und Deutungsmuster erscheinen musste, fasst Friedrich so als eigenständige Ebene der Sinnstiftung, die auf je selbstgewählten Lektürewegen erfahrbar werden lasse, dass Wirklichkeit nicht in Wahrheit aufgehe, Geltungsansprüche immer nur kontextbezogen und relativ sein könnten und die Frage nach Kausalitäten stets eine uneindeutige bleibe.9
Vergleichbare Organisationsformen und Dynamiken beobachtet Friedrich im Trojanerkrieg; auch Konrad systematisiere sein heterogenes Material nicht in einer kohärenten Erzähllogik oder übergreifenden Morallehre, sondern integriere es „über flexible rhetorische Techniken.“10 Dabei inseriere er dem historischen Stoff eine Axiologie von Werten, die ganz nach topischen Prinzipien Koexistenzen und Interferenzen ohne übergeordnete Hierarchien nicht nur zulasse sondern gleichsam hervortreibe.11 Die Komplexität, die sich im Erzählen durch die paradigmatische Vervielfältigung der ohnehin schon polyvalenten oder semantisch ambivalenten rhetorischen Formen ergebe, unterscheide sich allerdings insofern vom modernen Erzählen, als poetische Desorganisation nicht programmatisch ausgestellt die Kontingenz einer nicht mehr geordneten Welt demonstriere, sondern „in einer reflektierten Methode“12 die gleichwohl unüberschaubare Bandbreite von Erfahrung innerhalb einer providentiellen Ordnung modelliere.
Einige Zeit vor Friedrich hatte bereits Hübner für Konrads Trojanerkrieg in durchaus vergleichbarerer Weise die erkenntnisstiftende Funktion einer Vielfalt nach zeitgenössischen Maßstäben topischer Wahrscheinlichkeit präparierter konkreter situativer Umstände des Scheiterns und ihrer paradigmatischen Verknüpfungen gegenüber der übergreifenden providentiellen Begründung des Untergangs betont.13 Wie Friedrich lenkt damit auch Hübner den Blick von den in der Forschung als problematisch empfundenen Makrokohärenzen, auf situationsspezifische Mikrokohärenzen, die in paradigmatischen Netzen organisiert seien. Und auch Hübner markiert in diesem Zusammenhang den Punkt, an dem das volkssprachige Erzählen seines Erachtens die funktionalen Implikationen der rhetorischen argumentum-Lehre überschreite, den Punkt also, an dem Rhetorik in Poetik umschlage. Diesen sieht er allerdings nicht schon allein in einer Komplexitätssteigerung durch Vervielfältigung und Ambiguisierung ohnehin schon polyphoner exemplarischer Relationen, wie Friedrich sie beschreibt, sondern darüber hinaus in der programmatischen Künstlichkeit, mit der als poetisch markiertes Erzählen Handlungskonstellationen konfiguriere.14 Im poetischen Text stehe das erfundene Wahrscheinliche nicht mehr wie in rhetorischen Funktionskontexten im Dienst der Verdeutlichung und Plausibilisierung des als faktisch wahr behaupteten und erlange insofern ein eigenes Potential. Weil artifizielles Erzählen nämlich keine Rekonstruktion des Natürlichen biete, sondern eine idealtypische, alles natürlich-tatsächliche übersteigende Konstruktion, mache es das topische Wissen, das dieser Konstruktion zugrunde liege, in einer erkenntnisoptimierenden Weise15 der Reflexion zugänglich. Da es sich bei diesem Wissen zum größeren Teil um ein vorbewusstes, habitualisiertes, also ansonsten nicht diskursiv-begrifflich verfügbares, kulturelles Handlungswissen handle, kommt dem poetischen Erzählen damit eine ebenso zentrale wie singuläre Funktion im Bereich kultureller Selbstvergewisserung zu.16
Im Folgenden möchte ich die Möglichkeiten und Grenzen des von Friedrich und Hübner aus der Rhetorik abgeleiteten Konzepts poetischen Erzählens von Geschichte in Analysen ausgewählter Figurenhandlungen der Kaiserchronik und des Trojanerkriegs ausloten. Im Zentrum der Analysen sollen mit Lucretia und Jason zwei Figuren stehen, bei denen die stofflichen Herausforderungen an eine höfisch-christliche Erneuerung besonders groß sind. Entsprechend intensiv hat sich die Forschung in beiden Fällen mit den Antagonismen beschäftigt, die die mittelalterlichen Adaptationen beinahe zwangsläufig hervortreiben und diese gerade in jüngerer Zeit auf die Antagonismen der höfischen Kultur selbst bezogen.17 Diskutieren möchte ich vor diesem Hintergrund, ob sich die in beiden Fällen beobachteten Inkonsistenzen der Handlungsführung und daraus resultierende Probleme der Sinnstiftung tatsächlich als Ergebnis eines situativ-exemplarischen Erzählens ohne übergreifende Kohärenzansprüche erklären lassen. Im Rahmen eines solchen Erzählens könnten Figuren ihrer Konzeption nach ja nur schwach als Identitäten profilierte Ankerpunkte oder Rahmen für die Modellierung heterogener Handlungskonstellationen und die Integration situationsspezifischen kulturellen Wissens bieten. Demgegenüber möchte ich fragen, ob es im poetischen Erzählen nicht doch situationsübergreifende Techniken und Verfahren der Figurendarstellung gibt, die eigene Formen der Sinnkonstitution ausprägen. Damit ist auch die Frage verbunden, ob die volkssprachige Geschichtsdichtung rhetorische Argumentationsformen tatsächlich – wie von Hübner und Friedrich angenommen – nur in den Grenzen einer „Epistemologie des Exemplarischen“18 überschreiten.