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Entscheiden auf Sicht
ОглавлениеDie Realität ist eine andere. Spätestens seit der Corona-Epidemie ist es klar: Unser in vielerlei Hinsicht wohlgeordnetes Leben ist weit weniger gesichert als wir denken. Dieses Virus hat uns alle geschüttelt. Von heute auf morgen galt Homeoffice statt Geschäftsbüro. Isolation statt Enkel hüten. Zuwinken statt umarmen. Online-Predigten statt gemeinsamer Gottesdienst. Zu Hause bleiben statt Urlaub am Strand. Ich selber musste innerhalb 24 Stunden alle meine Vorlesungen, Vorträge und Begleitgespräche in digitaler Form weiterführen. Manches ging dabei schief. Die Qualität ließ zu wünschen übrig. Mitten in einem Führungsseminar, das ich leitete, streikte meine Internetverbindung. Ich war raus. Es war das reinste Abenteuer und manchmal purer Stress. Aber es ging ja allen so: Politikerinnen, Schulleiter, CEOs, Chefs, Lehrkräfte, Pastorinnen, Mediziner – alle mussten ihr Programm umstellen. Und auf die Schnelle folgenschwere Entscheidungen treffen, von denen keiner voraussehen konnte, ob es die richtigen waren. Es war (und ist bis heute) in vielen Momenten ein Führen, Handeln und Entscheiden auf Sicht. Im Sturm siehst du nicht weiter als knapp vor die eigene Nase, aber selten, wo der nächste Fels aus dem Wasser ragt. Wo links und rechts ist. Was morgen ist oder in einer Woche.
Wir haben in unserem Entscheiden immer dann eine echte Wahl, wenn die Sicht klar ist. Wenn man genügend Zeit zum Abwägen, Beten, Prüfen hat. Wo aber alles durcheinanderwirbelt und heute nicht mehr gilt, was gestern noch verlässlich war, dort gibt es keine echte Wahl. Wer in solcher Lage Kapitän ist, muss trotzdem entscheiden. Muss sich ins Ungewisse wagen. Darf nicht tatenlos bleiben, denn damit wäre das Ende gewiss. Eine Wahl haben und entscheiden ist also nicht dasselbe. Manchmal muss man entscheiden – ohne die Voraussetzungen einer echten Wahl. Was für eine Last, wenn nun Christen von sich und anderen fordern, sie müssten auch jetzt die beste, also die zweifelsfrei richtige Entscheidung treffen. Der katholische Theologe Karl Rahner soll gesagt haben: »Zum Glück gibt es das nicht, was viele Christen für Gott halten.« Dasselbe lässt sich über gute Entscheidungen sagen – Bibel sei Dank.