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Loslassen
ОглавлениеLoslassen! Das hört sich so einfach an. Menschlich bedeutet es immer auch Schmerz. Etwa, wenn wir uns lösen müssen von Menschen, die uns lieb geworden sind; wenn wir an den Gräbern der Eltern und Freunde stehen oder wieder einmal einen Ortswechsel vollziehen. Jedoch liegt in der Armut und dem Loslassen auch etwas Jesus-Typisches. Er hat alles losgelassen bis zum Tode am Kreuz, aber Gott hat ihm alles geöffnet.
Als die Tage des sogenannten Ruhestandes sich anmeldeten, wusste Heiner sehr wohl, dass es dabei erneut um ein heiliges Loslassen ging. Gezielt verabschiedete er sich aus den unterschiedlichen Bezügen, Verantwortungen und vielen Gremien. Doch das Leben mit Gott wurde nicht leerer. Es schien so, als würden sich immer neue Dimensionen eröffnen. »Ich bin nun ein Sabbatier«, sagte er, als die Gemeinde ihn in den Ruhestand verabschiedete. »Der Sabbat, die Ruhe Gottes, das ist das eigentliche Ziel meines Lebens.« Dieser Sabbat ist alles andere als Langeweile oder Trägheit. Es sind die Tage, in denen Gott mehr in uns leuchtet als alle unsere Freude über Erfolge. Da strahlt etwas von der Schönheit Gottes hinein in die Vergänglichkeit des hiesigen Daseins.
Heiner genießt die Zeiten in der »Krypta«, im Verborgenen. Es sind Orte des Lebens, Momente des Hörens, Berührungen des Höchsten in aller Tiefe des Lebens. Die tägliche Lesung in der Bibel verstärkt den Hunger nach Gottes Gegenwart und die Zeiten des Betens richten sich nicht nach der Uhr. Heilige Momente sind unabhängig von Zeit und Ort, sie sind geprägt von der suchenden Treue und Liebe Gottes, von dem Weitblick für sein Wirken. Gottes Wohnung, seine Kathedrale, in der er uns leitet und anspricht, ist nicht nur in unseren Herzen, sondern in seinem ganzen Kosmos.
Auch heute sitzt der Sabbatier gern auf der Wiese vor dem Haus und schaut den Wolken nach. Sie sind nicht stumm. Sie erzählen von der Größe und Güte Gottes. Ebenso trillern die Vögel ein Loblied. Aber auch das Seufzen der Schöpfung hört der alte Mann. Es sind nicht nur die eigenen Seufzer, sondern das Weinen der Gletscher und die Schreie einer Erde nach dem Offenbarwerden der Kinder Gottes. Vor allem aber ist es diese unendliche Weite, die sich in seinem Herzen ausbreiten will. Es ist die Erfahrung der weltumarmenden Güte Gottes. Die Freude über die Weite und Unterschiedlichkeit im Volk Gottes prägen den aktiven Sabbatier weit mehr als alle ökumenischen Gehversuche in die Zukunft.
Oft fragen ihn Leute, was er denn nun gelernt habe in all den Jahren. Sie wollen wissen, wo wir »wachsam« sein müssen und wo wir »wacker« handeln sollen. Heiner schmunzelt, so wie einst, als er die drei Murmeln in seiner Tasche entdeckte. Vieles bleibt wohl ein Geheimnis, er will immer ein Lernender bleiben, aber eines sagt er sehr entschlossen: »Wir haben dieser Welt nur etwas zu sagen, wenn wir Gott hören. Der verborgene Ort, der Rückzugsort, die Krypta unseres Lebens wird darüber entscheiden, wie groß unser Einfluss und unsere Auftrittsorte in dieser Welt sein dürfen. Ich ziehe mich gern zurück, um ganz präsent zu sein!«
Dr. theol. Heinrich Christian Rust | |
(*1953) war als Pastor über 40 Jahre im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden im Gemeindedienst und überregionalen Aufgaben aktiv. Heute betätigt er sich als Autor, Referent, Berater und Dozent für Spiritualität und Kybernetik. |