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ОглавлениеSTEFFEN TIEMANN
Der Wald – Mein Freund und Lehrmeister
Bäume gehören für mich zu den inspirierendsten Geschöpfen auf unserer Erde. Ich liebe sie seit meiner Kindheit. Geboren im Ruhrgebiet, wo es fast nur Häuser und Asphalt gab, zog ich mit acht Jahren in die Eifel. Hier lag der Wald vor der Haustür. Er bot uns Kindern unerschöpfliche Möglichkeiten zum Entdecken und Spielen. Ich liebte es, mit meinen Freunden durch den Wald zu stromern, den harzigen Duft der Kiefern einzuatmen, die Rinde von Birken und Buchen zu spüren und auf den dicken Ästen alter Eichen herumzuklettern.
Auch später blieb ich dem Wald freundschaftlich verbunden. Immer wieder war er mir Rückzugsort und Inspirationsquelle. Mein erstes echtes Gebet habe ich in der Einsamkeit des Waldes gesprochen. Es war ein zaghaftes Rufen zu einem mir fremden Gott, der hinter der wunderschönen Schöpfung stecken muss, und es war der Beginn meiner Gottesbeziehung.
Viele Menschen sagen: »Im Wald fühle ich mich Gott näher als in der Kirche.« Es ist schade, wenn man mit so einem Satz Gottesdienst und Natur gegeneinander ausspielt. Doch bei aller Liebe zum Gottesdienst muss ich sagen: Die intensivsten geistlichen Erfahrungen in meinem Leben habe ich tatsächlich bei einsamen Wanderungen im Wald gemacht. Nirgendwo wird mir Gottes Gegenwart so bewusst wie zwischen meinen großen Mitgeschöpfen. Nirgendwo fällt mir das Beten leichter als hier, und auch das Schweigen und das Hören auf Gottes Stimme. Unter den Bäumen kann meine Seele entspannen und still werden. Langsam wie eine Schnecke fährt sie ihre Fühler aus und wird sensibel für die tiefere Realität hinter dem Vordergründigen. Der Wald lässt mich geistlich wach werden.
Im Wald entsteht ein Freiraum für Kreativität. Die Gedanken dürfen hier unbekümmert spielen. Während du läufst, kannst du allen Einfällen und Impulsen freien Lauf lassen, ohne Druck und ohne Zensur. Die Bäume, die dich umgeben, hören deinen wirren Gedanken zu und widersprechen nur selten. Und so können sie sich allmählich klären. Zahllose Predigtideen sind auf diese Weise entstanden. Wenn ich jemandem einen homiletischen Rat geben und den auf einen Satz beschränken sollte, so hieße der: Geh mit dem Bibeltext in den Wald!
Vor einigen Monaten gab es einen Einschnitt in meinem Leben. Nach 19 Jahren Pfarrdienst in einer wunderbaren Gemeinde an der Mosel übernahm ich eine neue Pfarrstelle in Bonn. Der Wechsel war richtig und an der Zeit, doch er war – und ist – herausfordernd. In der alten Gemeinde war ich Routinier, kannte jeden und wusste Bescheid. Nun bin ich plötzlich wieder Anfänger, stehe bei Null. Mühsam versuche ich, mir unbekannte Namen zu merken, Zusammenhänge zu verstehen und Orientierung zu gewinnen. Zudem sind wir familiär für eine Weile auseinandergerissen. Während meine Frau und unser Sohn noch an der Mosel leben, hocke ich die Woche über meist allein im großen Pfarrhaus. Das ist alles nicht einfach. Doch auch in dieser Situation tut mir der Wald gut.
Einer der vielen Gründe, weshalb ich mich auf diese Gemeinde beworben habe, ist nämlich ihre fantastische Lage. Sie liegt genau an der Grenze zwischen Stadt und Wald. Gleich hinter der Kirche erstreckt sich der Kottenforst, ein riesiges Waldgebiet, in dem man stundenlang laufen kann. Mit wenigen Schritten kann ich in die Stille des Waldes eintauchen. Hier komme ich innerlich zur Ruhe. Hier kann ich die täglich neuen Eindrücke verarbeiten, aufkommende Fragen vor Gott durchdenken und Frust bei ihm abladen. So wendet sich der Fokus ab von den Problemen, hin zum Vater und Schöpfer aller Dinge. Im Wald finde ich meine Balance wieder.
Und noch etwas geschieht an diesem Ort: Wenn ich durch den Forst laufe und die Bäume betrachte, werden sie mir zu Lehrmeistern. Schon in der Bibel werden uns hier und da Bäume als Vorbilder präsentiert, von denen wir lernen können. Was lehren mich also diese prächtigen Geschöpfe?
Geduld und Widerständigkeit
Bäume lehren mich Geduld. Die alten Eichen und Buchen im Kottenforst strahlen Ruhe aus. Alles Hektische ist ihnen fremd. Tolkien hat in seinem Fantasy-Roman »Der Herr der Ringe« die Figuren der »Ents« geschaffen. Es sind baumartige Riesen, unerträglich langsam und gemächlich, aber enorm stark. Damit hat er treffend den Charakter der Bäume skizziert. In aller Ruhe stehen sie da, wachsen ganz allmählich und erreichen doch auf diese Weise eine gigantische Größe.
So gerne würde ich in der neuen Gemeinde Dinge verändern: Mehr Angebote für Kinder und Jugendliche. Erneuerung der Liturgie. Neue Gottesdienstformen. Den Mitarbeiterkreis vergrößern. Ein Konzept für die Öffentlichkeitsarbeit. So viele offene Türen sind da! So vieles, was passieren könnte und müsste! Die Bäume flüstern mir zu: Lass dir Zeit! Du kannst die Gemeinde nicht von heute auf morgen verändern. Geistliche Entwicklungen brauchen einen langen Atem. Glaube, Liebe und Hoffnung wachsen wie die Bäume. »Geduld aber habt ihr nötig, auf dass ihr den Willen Gottes tut und das Verheißene empfangt« (Hebräer 10,36; LUT), sagt uns schon die Bibel und unterstreicht damit die Botschaft des Waldes.
Die Bäume lehren mich Widerständigkeit. Wenn man bei Wind durch den Wald geht, sieht man, wie oben die Kronen der Bäume hin- und herschwanken. Die Kraft des Windes biegt, aber bricht sie nicht – wenn sie gesund sind. Unser Alltag ist meist ziemlich windig. Unterschiedliche Kräfte wirken auf uns ein. Chefs, Kolleginnen, Kunden machen Druck. In der Gemeinde ist es nicht viel anders. Menschen wollen ihre Interessen durchsetzen, beanspruchen deine Unterstützung oder beschweren sich über Missstände. Der Wind weht dir scharf um die Ohren.
Von meinem Naturell her bin ich ein Harmoniemensch. Konflikte mag ich überhaupt nicht und gebe deshalb manchmal zu schnell nach. Bei den Bäumen lerne ich, was Widerständigkeit ist. Es meint keine Sturheit; kein starres Beharren auf Positionen. Zuhören und Verständnis zeigen ist wichtig, Beweglichkeit ist nötig und manchmal ist das Nachgeben richtig. Wir alle machen ja Fehler, brauchen die Bereitschaft zur Korrektur und müssen Kompromisse finden. Aber wir sollten uns nie von den Agenden anderer Leute treiben lassen, von ihren Erwartungen verbiegen lassen oder vor ihren Forderungen einknicken. Es gehört zum Erwachsenwerden im Glauben, dass »wir nicht mehr unmündig seien und uns von jedem Wind einer Lehre bewegen und umhertreiben lassen« (Epheser 4,14; LUT), sondern standhaft bleiben – wie die Bäume.
Verwurzelung und Großzügigkeit
Standhaft können die Bäume aber nur sein, weil sie Wurzeln haben. Das ist die dritte Lektion, die mich unsere großen Mitgeschöpfe lehren. Ein Freund von mir ist Förster. Bei einem Waldspaziergang sagte er mir einmal: So groß wie die Krone der Bäume oben ist, so groß sind auch die Wurzeln unten. Ein riesiges Geflecht von Wurzelwerk, verborgen in der Erde. Wurzeln, die sich tief in den Boden strecken, immer weiter vordringen und die so dem Baum Halt und Nahrung geben. Und die Bäume erinnern mich: Auch du brauchst Wurzeln! Auch du lebst aus verborgenen Quellen!
Gesegnet ist der Mann, der sich auf den Herrn verlässt und dessen Zuversicht der Herr ist. Der ist wie ein Baum, am Wasser gepflanzt, der seine Wurzeln zum Bach hin streckt.
Jeremia 17,7-8; LUT
Mich ausstrecken nach Gott. Bei ihm meinen Halt und meine Nahrung suchen. Und das mitten im alltäglichen Gerödel. Darauf kommt es an. Wie bei den Bäumen besteht auch in geistlichen Dingen eine Relation zwischen dem Sichtbaren und dem Verborgenen. Mein Glaube kann nur in dem Maß sichtbare Gestalt gewinnen, wie er im Unsichtbaren verwurzelt ist. Eine Gemeinde kann nur in dem Maß in die Höhe und Breite wachsen, wie die einzelnen Glieder in die Tiefe wachsen. So richtet ein Gang durch den Wald meine Prioritäten neu aus.
Im Wald lerne ich Großzügigkeit. Wenn man im Herbst auf den Waldboden schaut, ist er übersät mit Eicheln, Bucheckern und Samen aller Art. Die Bäume geben milliardenfach ihre Früchte ab. Nur ein winziger Bruchteil davon geht auf. Aber die Bäume kümmert es nicht. Sie geben gern und reichlich. Wer aufmerksam die Natur anschaut, dem raunt sie zu: Sei großzügig und knausere nicht! Teile Gottes Liebe freigebig an andere Menschen aus, in Worten und in Taten, ohne zu rechnen und ohne auf den Erfolg zu schielen! Gib seine Güte weiter, auch wenn vieles nicht aufgeht!
Es geht nicht darum, dass wir – insbesondere wir Pastoren – dauernd von Gott plappern. Sondern es geht um eine Herzenshaltung der Großzügigkeit. Wenn in einer Gemeinde oder im persönlichen Umfeld die Resonanz auf das Evangelium ausbleibt, dann kann das dazu führen, dass ich vor den Menschen mein Herz verschließe. Das ist eine ganz natürliche Reaktion, ein Selbstschutz. Ich werde vorsichtiger, fange an zu kalkulieren: Lohnt es sich, hier meinen Mund aufzumachen? Bringt es das jetzt, diesem Menschen zu helfen? Die Bäume ermutigen mich, diese berechnenden Gedanken abzulegen und mein Herz wieder zu öffnen. Gott knausert nicht mit seiner Liebe und darum will ich es auch nicht tun. Denn irgendwo, irgendwann wird sein Same aufgehen und Frucht bringen. Im Gleichnis vom Sämann erzählt Jesus eine Geschichte, die in dieselbe Richtung geht. Hätte er unsere Wälder gesehen, dann hätte er statt vom Sämann vielleicht das Gleichnis von der großzügigen Eiche erzählt.
Hoffnung
Es gibt so vieles, was der Wald uns beibringen kann. Eine Sache will ich noch nennen. Die Bäume stärken meine Hoffnung. Manchmal sehe ich im Wald einen gefällten Baumstamm liegen, aus dessen Stumpf ein neuer Sprössling hervorwächst. Es ist ein Hoffnungsbild, das schon in der Bibel vorkommt: »… es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen.« (Jesaja 11,1; LUT). Aus dem umgehauenen Königshaus Davids wird ein neuer Gesalbter hervorgehen! Es ist ein Hoffnungsbild für Israel und für die Welt, aber auch eine Vision für mein eigenes Leben. Wenn ich mir so einen Stumpf anschaue, denke ich: Eines Tages wird mein Leib gefällt. Eine Krankheit oder ein Unglück wird ihn umhauen. Doch das ist nicht das Ende. So wie dieser kleine Spross aus dem Baumstumpf herauswächst, so wird dir Gott ein neues Leben schenken in einer neuen Leiblichkeit in seiner Welt. Weil wir mit Jesus, dem Auferstandenen, dem Lebensbaum, verbunden sind, wird aus dem Tod neues Leben sprießen.
Geduld und Widerständigkeit, Verwurzelung, Großzügigkeit und Hoffnung – was die Bäume mich lehren, sind keine neuen Erkenntnisse. Wir finden dasselbe überall in der Schöpfung, und wir finden es vor allem in der Heiligen Schrift. Aber die Bäume machen mir das, was Gottes Wort sagt, anschaulich. Ich kann diese Wahrheiten an ihnen sehen und spüren. Und so dringen sie tiefer in mein Herz ein. Darum liebe ich den Wald und seine Bäume. Wer weiß, was sie mich in Zukunft lehren werden.
Steffen Tiemann | |
(*1962), verheiratet mit Birgit und Vater von zwei Söhnen, ist seit Kurzem Pfarrer der Auferstehungsgemeinde in Bonn. Neben Wanderungen durch den Wald liebt er Radfahren und Tischtennis sowie spannende Bücher bei einer guten Tasse Tee. |