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4 Nachmoderne Zeitlichkeit als Zeitwettbewerb

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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass auf der (bislang) letzten Entwicklungsstufe neben Königen und Pharaonen, einzelnen Religionsführern, den christlichen Kirchen (Modus 1), den Unternehmen als Verkörperung bzw. als organisatorische Gestalt des Prinzips der Kapitalverwertung, der Logik der industriellen Technologie und nicht zuletzt gegenüber administrativer Willkür (Modus 2) ein neuer wesentlicher Kreator von Zeitstrukturen hinzugetreten ist: Das Individuum (Modus 3). Die dahinterstehende Rechtfertigungsordnung ist geleitet von dem gesellschaftlich inzwischen weithin unwidersprochenen Leitgedanken, dass sich – nicht nur – die Zeitordnung einer (post-)modernen Gesellschaft wesentlich, wenn nicht sogar ausschließlich an den Bedürfnissen des Individuums auszurichten habe. Damit entsteht, konsequent zu Ende gedacht, die Zeitordnung einer Gesellschaft als das mehr oder weniger zufällige Aggregat der Zeitverwendungsmuster ihrer Mitglieder. Gesellschaftliche Zeitinstitutionen bzw. ihrem Wesen nach kollektive Ruhezeiten wie der Sonntag, geraten unter Legitimationsdruck. Der Anspruch an den Vorrang des Individuums im Prozess der gesellschaftlichen Zeitallokation erzeugt, zusätzlich zu den von den ersten beiden Modi hervorgebrachten zeitlichen Anforderungen an die Menschen, neue zeitliche Zwänge, etwa indem eine Liberalisierung der Öffnungszeiten des Einzelhandels in die späten Abendstunden hinein und an Sonntagen nur auf Kosten des Zeitwohlstands der dort Beschäftigten möglich ist: Zu der permanenten, im System der Wirtschaft generierten Zeitkonkurrenz, welche die Gesellschaft prägt, tritt der Wettbewerb der Individuen um die Durchsetzung ihrer persönlichen Zeitinteressen hinzu. Dies führt bisweilen zu einem Zeitdarwinismus45, von dem vor allem die Schwachen, unter anderem alte Menschen und Kinder, besonders betroffen sind.46 Unter anderem darin besteht die Kehrseite eines auf den ersten Blick ja viel Freiheit versprechenden nachmodern-personalen Strukturierungsmodus. Die Bestimmung von Kriterien und Bedingungen zeitlicher Gerechtigkeit47 bleibt eine der aktuellen Problemstellungen der gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Zeitforschung.

Der Autor: Jürgen P. Rinderspacher, Jahrgang 1948, Dr. rer. Pol., Studium der Politik, Wirtschaft und Theologie in Berlin; Dozent und Projektleiter am Institut für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster; Vorstand und Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik e.V. Forschungsschwerpunkt Sozialwissenschaftliche Zeitforschung; Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher zum Thema Zeit und Gesellschaft: „Beeilt Euch!“ Zeitprobleme im sozial-ökologischen Transformationsprozess, München 2020; „Ohne Sonntag gibt es nur noch Werktage“. Die soziale und kulturelle Bedeutung des Wochenendes, Bonn 2000; Gesellschaft ohne Zeit. Individuelle Zeitverwendung und soziale Organisation der Arbeit, Frankfurt a. Main–New York 1985; GND: 1211020428.

Weiterführende Literatur:

– Günter Dux, Die Zeit in der Geschichte. Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit, Frankfurt a. Main 1989. Vertiefung und Weiterführung des Themas Entstehung von Zeitstrukturen unter Berücksichtigung kulturvergleichender Aspekte.

– Fritz Reheis, Die Resonanzstrategie. Warum wir Nachhaltigkeit neu denken müssen, München 2019. Behandelt wird Zeit in Verbindung mit Resonanz als zentrale Kategorie von Nachhaltigkeit. Ein Beitrag zur zukunftsfähigen Fortentwicklung von Zeitstrukturen.

– Jürgen P. Rinderspacher, Mehr Zeitwohlstand! Für den besseren Umgang mit einem knappen Gut, Freiburg i.Br.–Basel–Wien 2017. In 35 prägnanten Stichworten beschreibt der Autor, was ganz unterschiedliche Lebensbereiche des Alltags jeweils mit Zeit zu tun haben und was die Individuen selbst – auch gegen viele strukturelle Hindernisse – zu einem gelingenden Umgang mit der Zeit in der Gesellschaft beitragen können.

1 Kurt Flasch, Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. Historisch-philosophische Studie, Frankfurt a. M. 1993, 212 ff.

2 Leofranc Holford-Strevens, Kleine Geschichte der Zeitrechnung und des Kalenders, Stuttgart 2008.

3 Emile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt a. M. 1984.

4 Rainer Forst, Normativität und Macht. Zur Analyse sozialer Rechtfertigungsordnungen, Berlin 2015, 87.

5 Hartmut Rosa, Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehungen, Berlin 2016.

6 Rainer Forst, Normativität und Macht (s. Anm. 4), 87.

7 Jürgen P. Rinderspacher, Wege der Verzeitlichung, in: Dietrich Henckel (Hg.), Arbeitszeit, Betriebszeit, Freizeit. Auswirkungen auf die Raumentwicklung. Grundlagen und Tendenzen, Stuttgart 1988, 23–66.

8 Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichten, Berlin 2010, 77; 252 ff.

9 Lucian Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, München 2016; Jan Assmann, Zeitkonstruktion, Vergangenheitsbezug und Geschichtsbewusstsein im alten Ägypten, in: Jan Assmann / Klaus E. Müller (Hg.), Der Ursprung der Geschichte. Archaische Kulturen, das Alte Ägypten und das frühe Griechenland, Stuttgart 2005, 112–214; Achim Landwehr, Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert, Frankfurt a. Main 2014.

10 Martina Siebert / Erling v. Mende, Zeitrechnung und Ärabezeichnung im traditionellen China, in: Harry Falk (Hg.), Vom Herrscher zur Dynastie. Zum Wesen kontinuierlicher Zeitrechnung in Antike und Gegenwart, Bremen 2002, 198–239; Jan Assmann, Zeitkonstruktion, Vergangenheitsbezug und Geschichtsbewusstsein im alten Ägypten (s. Anm.9); Johannes Renger, Vorstellungen von Zeitmessung und der Blick auf vergangenes Geschehen in der Überlieferung des alten Mesopotamien, in: Harry Falk (Hg.), Vom Herrscher zur Dynastie (s. o.), 6–26; wobei der autoritäre Modus für Athen möglicherweise nur bedingt zutrifft; vgl. Filippo Battistoni, Die Kalender von Athen im Präskript eines Volksbeschlusses, in: Roland Färber / Rita Gautschy (Hg.), Zeit in den Kulturen des Altertums. Antike Chronologie im Spiegel der Quellen, Wien u. a. 2020, 389–394.

11 Linda Schele / David Freidel, Die unbekannte Welt der Maya, Hamburg 1991.

12 Jörg Rüpke, Zeit und Fest. Eine Kulturgeschichte des Kalenders, München 2006, 200 ff.

13 Werner Rohrdorf, Der Sonntag. Geschichte des Ruhe- und Gottesdiensttages im ältesten Christentum, Zürich 1962.

14 Michael Meinzer, Der französische Revolutionskalender (1792–1805). Planung, Durchführung und Scheitern einer politischen Zeitrechnung, München 1992; Bernhard Peter, Kalender und Zeitrechnung: Der Sowjetische „Ewige Revolutionskalender“. http://www.bernhardpeter.de/Asien/Kalender/seite494.htm [Abruf: 25.05.2020]; Stefan Ploggenberg, Experiment Moderne. Der sowjetische Weg, Frankfurt. a. Main–New York 2006, 81–120.

15 Achim Landwehr, Geburt der Gegenwart (s. Anm. 9), 255 ff.

16 Leofranc Holford-Strevens, Kleine Geschichte der Zeitrechnung und des Kalenders (s. Anm. 2).

17 Erich Spier, Der Sabbat, Berlin 1989.

18 Werner Rohrdorf, Der Sonntag (s. Anm. 13).

19 Hans-Willy Hohn, Die Zerstörung der Zeit. Wie aus einem göttlichen Gut eine Handelsware wurde, Frankfurt a. Main 1984.

20 Barbara Adam, Timescapes of Modernity: The Environment and Invisible Hazards, London–New York 1998.

21 Gerhard Dohrn-van-Rossum, Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnungen, München 1992; Thomas Vogtherr, Zeitrechnung. Von den Sumerern bis zur Swatch, München 2006.

22 Jürgen P. Rinderspacher, Gesellschaft ohne Zeit. Individuelle Zeitverwendung und soziale Organisation der Arbeit, Frankfurt a. Main–New York 1985.

23 Oliver Hidalgo / Holger Zapf / Philipp W. Hildmann (Hg.), Christentum und Islam als politische Religionen. Ideenwandel im Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen, Wiesbaden 2016.

24 Jürgen P. Rinderspacher, Der Sonntag. Anmerkungen zu einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts und zur Bedeutung von Zeitwohlstand, in: Dieter Becker / Peter Höhmann (Hg.), Kirche zwischen Theorie, Praxis und Ethik, Frankfurt a. Main 2011, 205–220.

25 Ebd.

26 Jean Gimpel, The Medieval Machine. The Industrial Revolution oft he Middle Ages, Hammondsworth–Middlesex 1977, 146 ff.; Gerhard Dohrn-van-Rossum, Die Geschichte der Stunde (s. Anm. 21), 14 ff.

27 Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Berlin 1981.

28 Vgl. Jürgen P. Rinderspacher, „Beeilt Euch!“ Zeitprobleme im sozial-ökologischen Transformationsprozess, München 2020.

29 Vgl. Johannes Buhl, Rebound-Effekte im Steigerungsspiel. Zeit- und Einkommenseffekte in Deutschland, Baden-Baden 2016.

30 Deutscher Bundestag, Bilanz der Sommerzeit. Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, Bundestagsdrucksache Nr. 18/8000, Berlin 2016.

31 Jürgen P. Rinderspacher, Der Sonntag (s. Anm. 24).

32 Martina Heitkötter / Heinz Zohren, Kommunale Familienzeitpolitik. Ansätze zeitgerechter Planung für Familien am Beispiel der Stadt Aachen, Hannover 2019.

33 Jürgen P. Rinderspacher, „Beeilt Euch!“ (s. Anm. 28).

34 Hierzu Wolfgang Knöbl, Die Epoche, die es nicht gab, in: Mittelweg 36/2 (2020), 47–79; Ulrich Beck / Martin Mulsow (Hg.), Vergangenheit und Zukunft der Moderne, Berlin 2014.

35 Georg W. Osterdiekhoff, Traditionelles denken und Modernisierung. Jean Piaget und die Theorie der sozialen Evolution, Opladen 1992; Georg Horntrich, Gut in der Zeit. Zur zeitlichen Genese des Subjekts aus sozialwissenschaftlichen und theologisch-ethischen Perspektiven, Münster 2001.

36 Bernhard Dietz / Christopher Neumaier / Andreas Rödder (Hg.), Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, München 2014.

37 Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011.

38 Rainer Forst, Normativität und Macht (s. Anm. 4).

39 Michel Foucault, Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, 119.

40 Vgl. Elke Holst / Jürgen P. Rinderspacher / Jürgen Schupp (Hg.), Erwartungen an die Zukunft. Zeithorizonte und Wertewandel in der sozialwissenschaftlichen Diskussion, Frankfurt a. Main–New York 1994.

41 Andreas Hoff, Von der Vollarbeitszeit zur Wahlarbeitszeit, in: Hans Diefenbacher / Benjamin Held / Dorothee Rodenhäuser (Hg.), Ende des Wachstums – Arbeit ohne Ende? Arbeiten in einer Postwachstumsgesellschaft, Marburg 2017, 101–116; Karin Jurcyk / Peggy Szymenderski, Belastungen durch Entgrenzung – warum Care in Familien zur knappen Ressource wird, in: Roland Lutz (Hg.), Erschöpfte Familien, Wiesbaden 2012, 89–106.

42 Bernhard Teriet, Neue Strukturen der Arbeitszeitverteilung, Göttingen 1976.

43 Ulrich Mückenberger, Time Abstraction, Temporal Policy and the Right to One’s Own Time, in: KronoScope No. 1/2 (2011), 66–96.

44 Uwe Becker, Sabbat und Sonntag. Plädoyer für eine sabbattheologisch begründete kirchliche Zeitpolitik, Neukirchen-Vluyn 2006; Jürgen P. Rinderspacher, Der Sonntag (s. Anm. 24).

45 Jürgen P. Rinderspacher, Zeitdarwinismus oder Zeitpolitik? Der Wert der Beschleunigung in der Zivilgesellschaft, in: Walter Schweidler (Hg.), Werte im 21. Jahrhundert, Baden-Baden 2001, 251–285.

46 Ders., Zeitliche Diversität in der alternden Stadtgesellschaft. Lösungsansätze und zeitpolitische Implikationen, in: Dietrich Henckel / Caroline Kramer (Hg.), Zeitgerechte Stadt: Konzepte und Perspektiven für die Planungspraxis, Hannover 2019, 311–333; Svenja Pfahl / Laura Rauschnick / Stefan Reuyß / Jürgen P. Rinderspacher, Kinderbetreuung über Nacht. Kritische Bestandsaufnahme einer institutionellen Kinderbetreuung rund um die Uhr aus der Sicht von Beschäftigten, Kindern, pädagogischen Fachkräften und betrieblichen Akteuren (STUDY 382), Düsseldorf 2018; online: https://www.boeckler.de/pdf/p_study_hbs_382.pdf [Abruf: 02.11.2020].

47 Dietrich Henckel / Caroline Kramer (Hg.), Zeitgerechte Stadt (s. Anm. 46).

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