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1 Chronometrische Zeit und leibliche Eigenzeit

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In sehr vielen Bereichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen bleibt Zeit un­thematisch. Was man gewöhnlich als selbstverständlich erachtet, wird nur selten zum Thema und gibt Anlass, darüber nachzudenken – z. B. wenn es um Arbeits- und Urlaubszeiten, Jubiläen oder Zeitmessung im Sport geht. Am augenfälligsten scheint Zeit zunächst an Dingen in Erscheinung zu treten, die es erlauben, sie zu messen. Uhren und Chronometer zeigen die Zeit an und machen sie besonders spürbar, wenn man beispielsweise entweder in Bedrängnis gerät, weil eine Frist viel zu früh verstreicht, oder man im Gegenteil Langeweile empfindet, wenn Zeit nicht vergehen will.

Die Zeit, die Uhren anzeigen, gilt als objektiv, weil man sie messen und verallgemeinern kann. Wenn man Fahrpläne erstellt, damit alle wissen, wann ein Zug abfährt oder ankommen soll, oder Termine vereinbart, damit man nicht lange warten muss, bis eine Verhandlung oder ein Gespräch beginnen kann, verwendet man Zeit gewöhnlich chronometrisch. Charakteristisch für solche Zeit ist zweierlei: Damit das Zusammenleben funktionieren kann, braucht es zum einen Regelungen dafür, welche Einheit zur Zeitmessung verwendet werden soll und welchem Zeitsystem man sich unterwerfen will. Dies führt etwa die aktuelle Debatte über die Verwendung von mitteleuropäischer Zeit oder mitteleuropäischer Sommerzeit2 deutlich vor Augen. Gelingt keine Einigung, verschiebt sich Zeit nicht nur beim Überschreiten von Zeitzonen, sondern bereits, wenn man innerhalb derselben Zeitzone eine Staatsgrenze passiert. Chronometrische Zeit verlangt in jedem Fall Konventionen und Übereinkünfte, damit sie ihren Zweck erfüllen kann.

Zum anderen geht es um technische Präzision. Besitzen Uhren nämlich keine Ganggenauigkeit, zeigen sie im Vergleich unterschiedliche Zeiten an und erlauben die Synchronisierung von Tätigkeiten oder Treffen nicht mehr oder nur mehr ungenau. Daher ging es in der Entwicklung von Uhren auch darum, die Hemmungen zu verbessern und die Uhren dadurch genauer werden zu lassen, dass man die Frequenz der Bewegungen, von denen Zeit abgenommen wurde, erhöhte – vom Pendel über die Unruhe und die Stimmgabel bis zu Quarz- und Atomschwingungen.

Mit der Hilfe von Chronometern und der ihnen zugrundeliegenden objektiven Zeit gelingt es, Geschwindigkeiten zu messen, Abläufe zu strukturieren, Vorgänge zu normieren und menschliches Zusammenleben zu organisieren. Solch objektiver, äußerer Zeit steht allerdings eine andere Form von Zeit gegenüber, nämlich subjektive Zeit. Es handelt sich dabei um die Eigenzeit einer menschlichen Person. Lebensgeschwindigkeiten, einzelnes Zeitempfinden oder körperliche Rhythmen sind unterschiedlich und entsprechen nicht einer universalen Norm, die für alle gelten würde. Darüber hinaus weist subjektive Zeit jeweils unterschiedliche Dauer und Qualität auf. Empfinden die einen eine bestimmte Zeit als langweilig oder leer, kann dieselbe Zeit für andere erfüllt oder aufregend sein. So ist es möglich, dass die scheinbar qualitätslose Zeit, wie sie von Uhren gemessen wird, unterschiedliche Güte aufweist, wenn etwa ein bestimmter Zeitpunkt für den einen ein Moment des Glücks gewesen ist, während er für die andere großes Leid gebracht hat. Da zwar Quantitäten, aber nicht Qualitäten mit der Hilfe von Uhren gemessen werden können, liegt die Behauptung nahe, zu quantifizierbarer, chronometrischer Zeit erst dadurch zu gelangen, dass man von deren Qualität abstrahiert, beziehungsweise eine allgemeine und einheitliche Zeit nur erhält, wenn man individuelle Unterschiede qualitativen Zeiterlebens ausblendet.

Differenzen in der Zeitauffassung zeigen sich allerdings nicht nur, wenn man sein Interesse auf Zeitquantitäten und -qualitäten lenkt, sondern auch, wenn man untersucht, wo Zeit ihren Ursprung hat. Edmund Husserl versuchte in seinen „Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins“ zu zeigen, dass eine zeitliche Ordnung dadurch entsteht, dass äußere Sinneseindrücke das Bewusstsein zunächst unmittelbar affizieren, dann aber im Bewusstsein allmählich absinken und schließlich in Vergessenheit geraten. Allerdings ist es dem Bewusstsein möglich, ehemalige und später verblasste „Urimpressionen“ in die Gegenwart zurückzuholen, indem es sich intentional auf sie bezieht und sie in Erinnerung ruft. Die in solcher „Retention“ wieder aufgenommenen Eindrücke sind nicht mehr so lebhaft wie Urimpressionen, können aber als erinnerte neuerlich gegenwärtig oder in Präsenz gehalten werden.3 Wäre dies nicht möglich, könnte man etwa ein Musikstück nicht als zusammengehörig erleben, da sonst verklungene Töne mit unmittelbar erklingenden in keinem Zusammenhang mehr stünden.4 Auf ähnliche Art und Weise kann das Bewusstsein nach Husserl durch „Protentionen“ Zukünftiges als Erwartung in die Gegenwart holen und ihm dadurch Bedeutung verleihen.5 Wie man sieht, gelingt es dem Bewusstsein auf diese Weise, Eindrücke nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu ordnen und ihnen eine zeitliche Struktur zu geben.

Zu fragen bleibt allerdings, ob zeitliche Ordnung einzig und allein über das Bewusstsein hergestellt wird. Dieses ist nicht zeittranszendent, sondern agiert selbst in der Zeit. Denn ein Bewusstsein ist immer dasjenige eines konkreten Menschen, der sich in einer bestimmten Phase seiner Biografie befindet und immer ein bestimmtes Alter aufweist, über das zu verfügen ihm nicht gelingt. Das eigene Altern ist nämlich offenbar nicht das Ergebnis aktiver Bewusstseinssynthesen, sondern unterliegt in erster Linie „passiver Synthesis“6, kann also weder bewusst gesteuert noch ausgesetzt oder rückgängig gemacht werden. Vielmehr ist es – wenn auch nicht in chronometrischer Genauigkeit – am Leib der jeweiligen Person ablesbar. Der Leib repräsentiert die Zeit, die jemand durchlebt hat und deren Spuren er trägt, von den Narben über die Falten und Furchen bis hin zu Veränderungen in der Haltung, der Abnahme von Kraft oder zu physiologischen Differenzen im Vergleich zu früher. Der eigene Leib ruft die eigene Geschichte nicht ins Bewusstsein, sondern repräsentiert insofern die eigene Vergangenheit, als er Erlebtes und Durchlittenes physisch sichtbar macht. Die persönliche Geschichte hat sich in ihm sedimentiert, sodass er die eigene Vergangenheit gleichsam selbst ist.

Darüber hinaus bringt der Leib analog zu Retentionen des Bewusstseins Vergangenes in die Gegenwart, allerdings nicht so, dass es ins Bewusstsein geholt würde, sondern z. B. eingeübte Abläufe oder Routinen vorbewusst vollzogen werden. Nachdem sie erlernt worden sind, können diese ohne Nachdenken durchgeführt werden bzw. laufen wie von selbst ab, etwa wenn man das Tippen auf einer Tastatur beherrscht, sich im Tanzen der Musik überlassen kann oder nicht mehr überlegen muss, wie man ein Auto lenkt.7 Aber auch leibliche Protentionen werden ständig vorbewusst vollzogen, sofern etwa wie von selbst vorweggenommen wird, wie man seinen Gang auszutarieren und fortzusetzen hat, wenn der Weg plötzlich abfällt oder ansteigt. Dass dabei auch Fehler unterlaufen können, wird sichtbar, wenn man stolpert oder kurz aus dem Gleichgewicht gerät.8

Die erwähnten Beispiele zeigen, dass Zeit nicht nur mit Hilfe des Bewusstseins strukturiert wird, sondern dass sich die Zeitekstasen von Vergangenheit und Zukunft auch durch den eigenen Leib entfalten. Leibgedächtnis9 und leibliche Antizipationen spannen einen Zeithorizont auf, der logisch vor der Konstitutionsleistung des Bewusstseins angesiedelt ist und unabhängig von diesem Bestand hat. Im Unterschied zu objektiver Zeit, die von außen an einen herangetragen wird und gemessen werden kann, ist die Zeit, die der eigene Leib aufspannt, eine Form subjektiver und innerer Eigenzeit. Dazu gehören auch körperliche Rhythmen wie jener des Herzens oder zirkadiane Rhythmen wie etwa die Abfolge von Wachen und Schlafen.

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