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ОглавлениеLiebe Leserin, lieber Leser!
Versuche, mithilfe von Zeitvorstellungen gesellschaftlichen Erfahrungen eine Ordnung zu geben, finden sich zu allen Zeiten und in allen Kulturen. Da sich die Zeit von Menschen nicht sinnlich erfassen lässt, orientiert sich das Reden von der Zeit an Veränderungen, wie beispielsweise dem rhythmischen Wechsel von Tag und Nacht, den Mondphasen oder den Jahreszeiten einerseits und der als linear fortschreitend erfahrenen Lebenszeit andererseits. Damit ist jeder Versuch, Zeit zu strukturieren, vor die Aufgabe gestellt, beide Systeme, das zyklische und das lineare, miteinander zu verbinden.
In unserer modernen Welt ist vor allem die lineare und exakt messbare Dimension von Zeit von großer Bedeutung, ermöglicht sie doch die Koordination des komplexen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenlebens. „Zeitmanagement“ ist für uns alle eine wichtige Aufgabe, gleichgültig, ob im Familienkreis oder in einer großen Institution. Parallel dazu ist unsere Zeit von einem regelmäßig wiederkehrenden Wechsel von Arbeits- und Freizeit, Alltags- und Festzeiten geprägt, dessen allgemeine gesellschaftliche Akzeptanz zwar immer wieder in Zweifel gezogen wird, der aber für bestimmte, vor allem auch religiöse Gemeinschaften nach wie vor eine große Bedeutung hat. Zeit wird in diesen Rhythmen nicht nur als eine begrenzt verfügbare Ressource verstanden, sondern als Möglichkeitsraum der Entfaltung menschlichen Lebens.
Rose Ausländer thematisiert das in ihrem Gedicht „Sich ausleben“. Sie dreht dabei jedoch die uns vertraute Redeweise von der Nutzung der Zeit um. Vielmehr lässt sie die Zeit als Akteurin auftreten, die über das angesprochene Du verfügt. Damit tritt nicht nur ihre Bedeutung, sondern – wenngleich implizit – die Aufforderung umso deutlicher hervor, die verfügbare Zeit bewusst zu leben.
Sich ausleben
Die Tage / zählen dich / zu ihren Bewohnern
Sie räumen dir / Stunden ein
In ihnen / lebt deine Zeit / sich aus
In vorliegendem Heft wollen wir der Frage nachgehen, auf welche Art und Weise und mit welchen Zielen Gesellschaften und religiöse Gemeinschaften von der Antike bis in die Gegenwart Zeit ordnen, strukturieren und als sinnstiftend bestimmen.
Der erste Beitrag von Reinhold Esterbauer geht ganz allgemein der Frage nach, warum Menschen eine strukturierte Zeit brauchen. In vier Schritten, die jeweils unterschiedliche Aspekte der Zeit und ihrer Erfahrung beleuchten, wird diese Frage beantwortet. Dabei werden die Unterschiede zwischen gesellschaftlichen Konventionen und individueller Lebenszeit, objektiver Festlegung der Zeit und subjektivem Erleben ebenso besprochen wie Herausforderung, die jedem Menschen gestellt ist, das eigene Leben und damit die je eigene Zeit zu gestalten.
Jürgen P. Rinderspacher beschäftigt sich im Anschluss daran mit gesellschaftlichen Konstruktionen von Zeit, sowohl den religiösen, politischen oder wirtschaftlichen Institutionen, die diese festlegen, als auch deren Auswirkungen auf die Gesellschaft und die einzelnen Menschen. Der Beitrag stellt drei Modelle und ihre jeweiligen Begründungs- und Rechtfertigungsstrategien vor – beginnend beim autoritären Strukturierungsmodus, der lange Zeit die soziale und kulturelle Entwicklung bestimmte, über den marktlich-technologisch-administrativen bis hin zum nachmodern-subjektbezogenen Modus.
Einen großen Schritt zurück in die Vergangenheit führt uns der Beitrag von Angelika Berlejung. Sie zeigt am Beispiel verschiedener Kulturen des Alten Orients, welche Funktionen zyklische, lineare und qualitative Zeitstrukturen für diese Gesellschaften hatten und welche Bedeutung ihnen zugesprochen wurde. Eine besondere Rolle kommt religiösen Symbolsystemen zu, in denen Zeitstrukturen gründen und innerhalb derer sie theologisch begründet und gedeutet werden.
Der folgende Beitrag von Esther Jonas-Märtin bietet einen Einblick in jüdische Zeitvorstellungen und blickt dabei sowohl auf Definitionen von Zeit als auch auf Inhalte, die dem Judentum wichtig sind. Die Betrachtungen beginnen beim Schöpfungsbericht und der darin bereits grundgelegten Unterscheidung zwischen profanem Alltag und heiliger Zeit im Sabbat, die anschließend auch bei den Überlegungen zum Kalender wichtig ist. Mit Blick auf inhaltliche Aspekte geht der Beitrag ausführlich auf die Funktion der Mizwot (Gebote) für die bewusste Gestaltung der Zeit ein. Ebenso bespricht sie die Grundhaltungen von Kewa (Routine) und Kawanah (Achtsamkeit), welche der strukturierten Zeit eine sinnstiftende Dimension verleihen.
Die in den ersten Beiträgen bereits wiederholt angesprochene Bedeutung und Rolle der Feste steht im Mittelpunkt der zwei nächsten Beiträge. Stephan Wahle nähert sich dem Thema Fest in vier Schritten. Ausgehend von aktuellen Beobachtungen zur Fastenzeit unter den Bedingungen der Pandemie wendet sich der Beitrag der Muße als einer Zeitform zu, über die jemand ohne zeitliche Zwänge selbstbestimmt verfügen und die zu einem sinnerfüllten Erfahrungsraum werden kann. Konkretisiert werden diese Überlegungen am Beispiel des Sonntags und seiner Bedeutung für heute.
Am Beispiel der beiden Feste Weihnachten und Ostern reflektiert Clemens Leonhard die Tragweite der Festlegung von Daten für Feste. Der Beitrag zeigt zum einen, welche Rolle die Erzählungen von der Geschichte der Feste spielen, zum anderen beleuchtet er die Argumente jener gesellschaftlichen Gruppen, die einen Festtermin bestimmen und sich unter Umständen gegen die Interessen anderen Gruppen durchsetzen können.
Das vorliegende Heft wird durch zwei weitere Beiträge abgerundet. Kurt Kardinal Koch wendet sich der Frage zu, wie es um die christliche Zukunft Europas bestellt ist. Fußend auf einem Zitat Franz Kardinal Königs, in dem die Wichtigkeit der geistigen Fundamente Europas hervorgehoben wird, begibt sich dieser Beitrag auf die Suche nach der „Seele Europas“. Er schließt mit einem Plädoyer dafür, dass Religion weiterhin ein öffentliches Thema in Europa bleibt, das nicht ganz ins Private abgedrängt werden darf.
Christian Spieß beschäftigt sich eingehend mit „Fratelli tutti“, der neuesten Sozialenzyklika von Papst Franziskus und nimmt diese kritisch in den Blick. Das Dokument, das die geschwisterliche Liebe und soziale Freundschaft als theologisch-ethisches Motiv in den Mittelpunkt stellt, erweckt insgesamt eher den Eindruck einer prophetischen Sozialkritik als einer systematischen, theologisch-ethischen Auseinandersetzung. Am Beispiel der Themen: Migration, Wirtschaftstheorien, Krieg und Inklusion erläutert der Beitrag die Stärken und Schwächen dieser Enzyklika.
Geschätzte Leserinnen und Leser!
Die unterschiedlichen Einblicke in Zeitstrukturen, ihre Bestimmung und Bedeutung zeigen, wie wichtig dieses Thema für das Zusammenleben in einer Gesellschaft ist. Umgekehrt erlaubt dieser Blick auf die Zeit auch einen Einblick in das Selbstverständnis einer Gesellschaft, einer Religionsgemeinschaft und ihrer komplexen Orientierungssysteme.
Ihre
Susanne Gillmayr-Bucher
(für die Redaktion)