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1.2 Die wissenschaftliche Entdeckung der Psyche
ОглавлениеDer Anfang der neuzeitlichen wissenschaftlichen Befassung mit der Psyche wird Georg Ernst Stahl (1659–1734) zugeschrieben (Geyer-Kordesch, 2000; Gottlieb, 1943; Kirchhoff, 1921). Allerdings ist das Werk Stahls als Ganzes weitgehend unerschlossen und enthält etwa 2000 Schriften.
Stahl wurde am 22. Oktober 1659 in dem kleinen Fürstentums Ansbach geboren, als Sohn eines Beamten der protestantischen Gemeinde. Streng lutherisch erzogen blieb er dieser Kirche zeitlebens eng verbunden. Wichtig für seine Einstellung zum Leben war wohl auch, dass er elf Jahre nach dem Ende des dreißigjährigen Krieges geboren worden war, einer Zeit der Hoffnung und des Wiederaufbaus. Er besuchte das Gymnasium in Ansbach und studierte ab seinem 20. Lebensjahr Medizin in Jena. Stahl hat sich 1684 habilitiert und lehrte von 1684–1687 als Professor extraordinarius der Medizin in Jena. Weil er sich als Hochschullehrer in kurzer Zeit einen großen Ruf erworben hatte, wurde er 1687 von Herzog Johann Ernst von Weimar zu dessen Leibarzt berufen und wirkte sieben Jahre in Weimar. Von 1695–1714 lehrte er an der neuen preußischen Universität in Halle als einer von zwei Medizinprofessoren. 1714/15 betreute er den dänischen König Friedrich IV ärztlich. 1715 wurde Stahl Leibarzt des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. Noch im selben Jahre wurde er zum Präsidenten des Collegium medicum ernannt. Von da an war Stahl der ranghöchste Arzt im Königreich und berühmt als großer Heiler und schöpferischer Wissenschaftler.
Bereits mit 24 Jahren hatte er mehrere Arbeiten verfasst, in denen er sich mit dem Lebensgeheimnis des menschlichen Organismus beschäftigte. Stahl strebte, so wie später partiell auch Freud oder Jaspers, eine Erneuerung der gesamten Medizin (Stahl nennt das »instauratio«) an. Er verstand sich als Arzt der Seele, die nach seiner Auffassung den Körper beherrscht. Die Psyche stellte er allem anderen in der Medizin voran.
Eine Anregung hierzu kam aus der Aufklärung. Stahl knüpfte bei Aristoteles an. Es war dem Einfluss Philipp Melanchthons von der Nachbaruniversität Wittenberg zuzuschreiben, dass aristotelisches Denken zur geistigen Grundlage der deutschen Universitäten in den lutherischen Ländern geworden war. Aristoteles hatte eine eigene Schrift zur Psyche verfasst, deren griechischer Titel Peri psychês lautet, was meist lateinisch mit De anima und deutsch Über die Seele übersetzt wird. In dieser Schrift gibt Aristoteles der Seelenwissenschaft oder Seelenpsychologie den Vorrang gegenüber allen anderen Wissenschaften, obwohl ihr Wesen so schwer zu fassen sei. Es ist dieser Grundgedanke, der sich auch bei Stahl findet, es ist die Seele, welche den Leib bewegt. Für Stahl wurde der lebende Körper, ein mechanischer Apparat, direkt von der Seele («Anima«) gesteuert. Alle leiblichen Vorgänge seien der Seele unterstellt, die den Körper bis ins Detail kenne und beherrsche.
Für die Entwicklung der Stahlschen Konzepte war aber auch der Kontakt zu August Hermann Francke (1663–1727) und die Gründung der Franckeschen Stiftungen 1698 von Bedeutung. Francke war Professor für Hebräisch, Griechisch und Theologie und der wichtigste Schüler des Pietistengründers Spener. Stahl hatte Francke schon 1691 in Gotha kennengelernt. In diesen pietistischen Kreisen kam es auf das innere religiöse Erleben an, welches man sich gegenseitig in Form von Bekenntnissen in halböffentlichen Zirkeln offenbarte. Der Blick ist hier erstmalig nicht mehr auf Gott und die Heiligen gerichtet, sondern auf das innerseelische Erleben des Menschen. Diese Innenschau hat die deutsche Psychiatrie und Psychotherapie wesentlich mitgeprägt.
Bereits zum Beginn der Aufklärung, veröffentlichte Stahl im Jahr 1691 die Schrift De motu tonico vitali, welche die Quintessenz seiner Lehre enthält. 1695 erschien die Dissertatio de passionibus animi corpus humanum varie alterantibus (Über den mannigfaltigen Einfluß von Leidenschaften [in anderen Übersetzungen: Gemütsbewegungen] auf den Körper). Mit den »passiones animi« ist jener Teil der »Psyche« bzw. »Anima« gemeint, welcher nicht zur Vernunft (»ratio«) gehört, welchen aber doch jeder an sich selbst wahrnehmen kann. Während wir unsere Vernunft (ratio) aktiv auf etwas ausrichten können («Konzentration«), sind wir den »passiones animi« passiv ausgesetzt. Stahl führt also die Unterscheidung zwischen Bewusstsein und Unbewusstem ein und schreibt, »von der Gefühlspsyche her« werde die Bewegung des Körpers («motus«) dirigiert und verändert. Damit sind in erster Linie die unwillkürlichen Bewegungen gemeint. Hierzu gehört der Tonus der Muskeln und Blutgefäße («motus tonicus«), der von der Gefühlspsyche aufrechterhalten wird; es gehören dazu ebenso die Bewegungen von Herz, Kreislauf, der Leiborgane usw. Von der Gefühlpsyche werden nach Stahl aber auch viele Krankheiten und Symptome »hervorgezogen« («ducunt«).
Stahl entwickelt ein im heutigen Sinne ganzheitliches psychosomatisches oder bio-psycho-soziales Konzept. Er macht unter den krankmachenden seelischen Ursachen eine bis heute gültige Unterscheidung zwischen den von außen auf den Menschen einwirkenden Faktoren einerseits und den innerseelischen Ursachen andererseits. Auch die Folgen sind unterschiedlich. Die von innen her erregenden («ab intra excitantur«) Seelenursachen führten gewöhnlich in höherem Grade («magis«), jedoch eher mittelbar zu Krankheiten. Demgegenüber führen die mehr oder weniger zufällig von außen kommenden Eindrücke («objectorum externorum impressiones«) mehr unmittelbar zum Auftreten («magis immediatae ac proximae«) von Krankheiten («morborum sunt causae efficientes«). Stahl führt weiter aus, dass bei der Behandlung das jeweilige Temperament zu berücksichtigen sei, womit er das melancholische («melancholiorum temperamentum«) und das cholerische Temperament («pathema cholericum«) meint.
Stahl hatte zahlreiche Schüler, die sein Werk erklärten oder darauf aufbauten. Dazu gehören u. a. Johann Daniel Gohl (1665–1731), Johann Christian Kundmann (1684–1751), Johann Samuel Carl (1667–1737), Andreas Ottomar Goelicke (1671–1744), Georg Daniel Koschwitz (1679–1729), Johann Juncker (1679–1759), David Samuel Madai (1709–1780), Georg Philipp Nenter (gestorben 1721), Johann Theodor Eller (1689–1760). Sie hinterlassenen viele hunderte medizinische und andere Werke.
Hervorzuheben ist Michael Alberti (1682–1757), einer der zahlreichen Pastorensöhne jener Zeit, die Deutschlands Kultur bereicherten. Er studierte zunächst die lutherische Theologie und dann in Jena Medizin. Von dort ging er nach Halle, wo er Schüler Stahls und dessen engster Anhänger wurde. Durch Stahls Veranlassung wurde er außerordentlicher Professor in Jena und später dann in Halle Professor für Physik und Leiter der botanischen Gärten. Alberti hat sich durch eine schier unendliche Fülle der von ihm präsidierten Dissertationen in die Geschichte eingetragen. Darunter sind einige, welche die Stahlsche Linie der Einwirkung der Psyche auf den Körper weiterführten.
Dazu gehört eine Arbeit von Johann Andreas Roeper (1748) mit dem Titel Die Würckung der Seele in den menschlichen Cörper. Nach Einleitung der Geschichte eines Nacht-Wanderers aus vernünftigen Gründen erläutert. Er hat auch den Stahlschen psychosomatischen Standpunkt gegenüber dem Philosophen Christian Wolff vertreten, der 1821 in einer Rektoratsrede auf die Seelenbehandlung des Konfuzianismus Bezug genommen und einen strikten Leib-Seele-Dualisten vertreten hat. Roeper hat dessen Modell als eine »unbegreifliche Lehre« bezeichnet. Er selbst ging aber dann ins andere Extrem und verlieh der Seele eine Dominanz über den Körper, da sie im Schlaf durch ihre Einbildungskraft den Körper ohne Wissen des Schläfers regieren könne.
Das alles ist noch keine Psychotherapie, aber eine wichtige theoretische Grundlage und Voraussetzung für die Herausbildung einer expliziten Psychotherapie. Stahl und seine Schüler entwickelten eine neue Perspektive ärztlichen Denkens, also eine medizinische Philosophie oder Psychologie. Auf deren Boden kam es dann zur Entwicklung einer sich ihrer selbst bewussten Psychotherapie. Dies wurde dann von weiteren Schülern Stahls umgesetzt.