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2 Ideengeschichte der Psychodynamischen Psychotherapie Annegret Boll-Klatt, Mathias Kohrs & Bernhard Strauß 2.1 Was ist »Psychodynamische Psychotherapie«?
ОглавлениеUm die Geschichte der Psychodynamischen Psychotherapieverfahren (abgekürzt »PDV«) differenziert darzustellen, muss man mit der Psychoanalyse Freuds beginnen. Freud verwendete ab 1913 den von Eugen Bleuler eingeführten Begriff der Tiefenpsychologie, um zwischen der tiefenpsychologisch geprägten Psychoanalyse und der damals vorherrschenden bewusstseinspsychologisch geprägten akademischen Psychologie zu unterscheiden. Die zentrale Vorstellung der Tiefenpsychologie bezieht sich auf unbewusste Prozesse, die metaphorisch gesprochen unter der Oberfläche des Bewusstseins in tieferen Schichten der Psyche ablaufen und menschliches Erleben, Denken und Verhalten maßgeblich beeinflussen. Freuds herausragende Leistung besteht vor allem darin, dass er mit der Einführung der Psychoanalyse, die er ab 1890 zusammen mit seinen Schülern zunächst aus der Hypnosebehandlung heraus entwickelte, das Konzept des Unbewussten für die Therapie bestimmter Patienten nutzbar machte (Gödde, 2005). Etwa 100 Jahre später formuliert Ermann (2016, S. 455) folgende Definition:
»Der Begriff Psychoanalyse bezeichnet die Wissenschaft, welche die psychoanalytische Theorie, Methode und Behandlungspraxis umfasst. Als psychoanalytische Methode bezeichnet man das Vorgehen, mit dem der Psychoanalytiker die Manifestationen des Unbewussten im Erleben und Verhalten erforscht und für die Behandlung psychogener Störungen nutzt. Bei den Anwendungen und Modifikationen der psychoanalytischen Methode in der Psychotherapie spricht man von psychoanalytisch begründeten oder psychodynamischen Verfahren.«
Inzwischen besteht eine nahezu unüberschaubare Vielzahl von »Anwendungen und Modifikationen der psychoanalytischen Methode«; gemeinsam ist den unterschiedlichen Varianten der Hintergrund der psychoanalytischen Persönlichkeits- und Entwicklungstheorie, der Krankheits- sowie der Behandlungslehre, allerdings mit einer unterschiedlichen Praxeologie, d. h. mit einer differierenden Verwendung grundlegender Konzepte der Übertragung und Gegenübertragung, dem Umgang mit Regression und der therapeutischen Haltung. Hoffmann setzte sich mit den Grundannahmen im Menschenbild und in der Theorie einer Psychodynamischen Psychotherapie auseinander (Hoffmann & Schüßler, 1999; Hoffmann, 2000) und markiert den Unterschied zur Psychoanalyse bzw. Analytischen Psychotherapie (AP), indem er auf die grundlegende Bedeutung der Konzepte des dynamischen Unbewussten, der Abwehr, der Übertragung und Gegenübertragung verweist, jedoch die unterschiedlichen Therapietechniken hervorhebt, die stärker am Symptom orientiert sind, regressive Prozesse nur ausnahmsweise fördern, einen Gewinn an Zeit und Sitzungsaufwand intendieren sowie durchaus auch supportive und übende Elemente beinhalten.
Mit der 1967 beschlossenen Einführung der »Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie« (TP) als Pflichtleistung der gesetzlichen Krankenkassen ist Deutschland einen eigenen Weg gegangen, in erster Linie, um dem steigenden Behandlungsbedarf zu begegnen und dann auch die kassenrechtliche Einbindung von psychotherapeutisch tätiger Ärzte, die nicht die Anforderungen einer »klassischen großen« psychoanalytischen Ausbildung erfüllten, zu ermöglichen. Bis heute (vgl. Diekmann et al., 2018) wird in den Psychotherapierichtlinien zwischen TP und Analytischer Psychotherapie als den zwei psychoanalytisch begründeten sozialrechtlich anerkannten Verfahren unterschieden. Die Bezeichnung »Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie« ist im internationalen Sprachgebrauch aber gänzlich ungebräuchlich. Um international, vor allem in Forschungskontexten, anschlussfähig zu sein, löst der Begriff »Psychodynamische Psychotherapie« zumindest den der Tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie inzwischen ab und bezeichnet zahlreiche Varianten dieses Verfahrens wie die Dynamische Psychotherapie (Dührssen, 1988) oder auch die Katathym imaginative Psychotherapie (KiP; Wilke, 2000). Dem Trend, dass sich international die Bezeichnung »psychodynamic psychotherapy« mehr und mehr durchsetzte, folgte 2004 auch der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie (2004; 2005, S. A 73) mit seiner Definition:
»Die Psychodynamische Psychotherapie gründet auf der Psychoanalyse und ihren Weiterentwicklungen. Die Behandlungsprinzipien der Psychodynamischen Psychotherapie bestehen in der Bearbeitung lebensgeschichtlich begründeter unbewusster Konflikte und krankheitswertiger psychischer Störungen in einer therapeutischen Beziehung unter Berücksichtigung von Übertragung, Gegenübertragung und Widerstand. Dabei wird je nach Verfahren stärker im Hier und Jetzt oder im Dort und Damals gearbeitet, die Stundeninhalte sind je nach Verfahren strukturierter (Technik: Fokussierung) oder unstrukturierter (Technik: freie Assoziation) und der Therapeut greift jeweils auf eine starke aktive oder eher zurückhaltende Interventionstechnik zurück.«
Während Tiefenpsychologisch fundiert ausgerichtete Psychotherapeuten sich überwiegend gut mit der Benennung »psychodynamisch« identifizieren können, besteht bei Psychoanalytikern noch eine Tendenz, sich abzugrenzen und entsprechend der Richtliniendefinition die Psychoanalytische Therapie als eigenständiges Verfahren zu bewahren und nicht unter die PDV zu subsummieren (vgl. Boll-Klatt & Kohrs, 2018a).
Tab. 2.1: Meilensteine der Entwicklung psychodynamischer Therapieverfahren in Deutschland
JahrHistorische Entwicklung
Auch international gibt es einen Diskurs zur Unterscheidung von »psychodynamic« und »psychoanalytic psychotherapy« (vgl. z. B. Safran, 2017, S. 17ff), allerdings weisen Ermann und Körner (2016, S. 234) darauf hin, dass der Begriff »psychodynamisch« den älteren Begriff »psychoanalytisch« zunehmend verdrängt, sobald »Phänomene unter der Perspektive des Unbewussten betrachtet werden«.
Wie noch zu zeigen sein wird, ist dieses Ringen um Begrifflichkeiten, das ja immer intensive macht- und berufspolitische Implikationen beinhaltet, kein neues und schon gar kein exklusiv deutsches Phänomen, sondern ist verknüpft mit einer nahezu 100-jährigen Geschichte kontroverser Diskussionen und heftiger Auseinandersetzungen innerhalb der psychoanalytischen und psychotherapeutischen Gemeinschaft.