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2.2 Das Unbewusste – Plädoyer für das unverzichtbare Paradoxon der Psychodynamischen Psychotherapie 2.2.1 Freuds geistige Wegbereiter

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Der spektakuläre Aufstieg Sigmund Freuds und der Psychoanalyse am Beginn des 20. Jahrhunderts steht in enger Verbindung mit der Erforschung der bis dato letztlich ungeklärten Ätiopathogenese psychiatrischer Erkrankungen bzw. der sog. Geisteskrankheiten. Ganz im Geiste des 19. Jahrhunderts, das durch die naturwissenschaftlich-technische Revolution geprägt war, bezog man sich in den Erklärungsmodellen und Klassifikationsschemata für Geisteskrankheiten auf naturwissenschaftlich-somatogenetische Ursachen, wie dies im 4. Jahrhundert v. Chr. bereits Hippokrates getan hatte. Die das 19. Jahrhundert überwiegend prägende materialistische Weltanschauung ging einher mit einer ausgeprägten Leugnung der Existenz dessen, was nicht mit physikalisch-chemischen Methoden nachweisbar war. Psychische Beeinträchtigungen wurden fast ausschließlich als Gehirnkrankheiten betrachtet, die Psychiatrie war im Wesentlichen eine Neurologie (Kriz, 2001). Abbildung 2.1 gibt einen Überblick über einige von Freuds geistigen Wegbereitern aus Medizin, Philosophie und Dichtung ( Abb. 2.1).

Der Arzt Franz Anton Mesmer (1734–1815) wird häufig als Vorreiter der Hypnotherapie angesehen. Ihm wurde die Einleitung einer »psychologischen Gegenbewegung« zugeschrieben; seine Erfolge in der Behandlung der Hysterie beruhten nach heutigem Wissensstand auf suggestiven und hypnotischen Einwirkungen. Mesmer betrachtete die Hysterie jedoch als rein physische Störung und führte seine Heilerfolge im streng naturwissenschaftlichen Sinne auf die Beeinflussung eines magnetischen Fluidums durch Chemikalien und Metallstäbe zurück. Die These, dass Mesmer und sein Magnetismus Vorläufer der psychoanalytischen Psychosomatik seien, ist somit nicht haltbar (Schott, 2001), allerdings entsprach seine naturwissenschaftliche Sicht durchaus auch Freuds Bestrebungen.

Freud, selbst Arzt, der in den 1880er Jahren im hirnanatomischen Labor Theodor Meynerts arbeitete und 1885 im Fach Neuropathologie habilitierte, strebte Zeit seines Lebens danach, eine Anerkennung als Naturwissenschaftler zu erlangen. Bis zuletzt hoffte er, seine Theorie könnte letztendlich


Abb. 2.1: Freuds geistige Wegbereiter (mod. nach Kriz, 2014, S. 30)

auf »physiologische und biochemische Erkenntnisse« zurückgeführt werden. Es wäre wahrscheinlich sehr in Freuds Sinne zu sehen, dass die Psychoanalyse mit Bezug zu neueren neurowissenschaftlichen Befunden mehr und mehr in beiden erkenntnistheoretischen Welten anzusiedeln ist und sich zwischen einer biologisch begründeten Naturwissenschaft und einem hermeneutischen Verfahren zum Verständnis des Unbewussten und seiner Konflikte bewegt (Bohleber, 2018).

Buchholz und Gödde (2005) beschreiben umfassend, wie weit die Beschäftigung mit den Abgründen des Unbewussten in der menschlichen Geistesgeschichte zurückreicht. Freud hat in seinem Versuch, den kollektiven, geradezu kulturstiftenden Charakter spezifischer Konflikte – ja Kriegsschauplätze – zu illustrieren, immer wieder Bezug auf griechische Tragödien genommen. So kann man Narziss und Ödipus wie Wiedergängern in jedem seelischen Entwicklungsgang begegnen.

Sowohl das Altertum, das Mittelalter, wie auch die frühen Philosophen der Neuzeit kannten die Auseinandersetzung mit den »Geheimkammern der Seele« und die »gefährlichen Unterströmungen der animalischen Natur des Menschen« (Altmeyer, 2016, S. 105). Ein schönes Beispiel aus der Kunst an der Schwelle zur frühen Neuzeit ist das Werk Hieronymus Boschs, der in seinen Schreckensvisionen lustvoll beunruhigend – und psychoanalytischen Wimmelbildern gleich – eine von zahllosen Dämonen bevölkerte Unterwelt zeigt, die unsere Leidenschaften, Begierden, unaussprechlich Böses und Lust an tiefster Destruktivität verkörpern wie Traumbilder. Eine Zäsur entsteht im 17. Jahrhundert mit Descartes und dem Beginn der Bewusstseinsphilosophie, die in der bis heute wirkenden Perspektive der Aufklärung potenziell alles verstehen, erklären und beeinflussen will. Buchholz und Gödde (2005) weisen darauf hin, dass hier Vernunft oft genug mit maximaler Planbarkeit verwechselt wird (aber: »Vernunft kommt immer zu spät«!, S. 32). Abgesehen von der Hybris und dem Scheitern entsprechender Ansprüche einer Bewusstseinsphilosophie, sich der Welt zu bemächtigen, verarmt sie diese auch um den Gehalt einer inneren Welt, die sich nicht auf rationalen Kontext reduzieren lässt (wie dies in der Romantik als Gegenbewegung vertreten wird). Aber auch schon in Zeiten der Aufklärung gab es Ärzte – insbesondere ausgehend von Berlin, Halle und Leipzig – die eine »Seelenmedizin« propagierten und damit nicht dem Descartes’schen Leib-Seele-Dualismus folgten ( Abb. 2.1). Fächerübergreifend Medizin und Philosophie integrierend, verschrieben sie sich einer antimechanistischen Medizin als einer »Erfahrungswissenschaft vom ganzen Menschen«. Ernst Georg Stahl war der erste, der »die Erlösung der Medizin aus den Fesseln einer auf den Materialismus reduzierten Wissenschaft« auf den Weg brachte. Johann Christian Bolten wurde nicht müde, sowohl für ein breites Spektrum körperlicher als auch seelischer Krankheiten eine »psychologische Cur« zu fordern (Haag, 2017).

In der Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts gab es andere, nicht dem Zeitgeist entsprechende naturwissenschaftlich-technisch Strömungen, in denen die Bedeutung unbewusster Gefühle und Intentionen ausdrücklich betont wurde (z. B. Kierkegaard und Nietzsche).Verblüffende Parallelen zu Freud finden sich im Denken Arthur Schopenhauers und bei Clemens von Brentano (vgl. Schöpf, 2014). So gilt der »Wahnsinn« bei Schopenhauer (1788–1860) als eine Störung der bewussten Rückerinnerung aufgrund traumatischer Vorfälle in der Biographie der Betroffenen. Brentano (1778–1842), der sich mit der Intentionalität des Bewusstseins auseinandersetzte und von Bewusstseinsakten spricht, grenzt sich von bloßer Vigilanz deutlich ab, Bewusstsein sei immer Bewusstsein von etwas (vgl. Storck, 2018). Auch wenn Brentano die Annahme einer unbewussten Seelentätigkeit ablehnte, hatte seine Philosophie doch deutlichen Anreiz für Freud, der lange Zeit unterschätzt wurde (Gödde, 2009). Generell verfügte Freud eher über eine ambivalente Haltung gegenüber der Philosophie (und der Psychologie s. u.), was letztendlich dann auch mit zu den Verwerfungen mit Carl Gustav Jung führte.

Nicht nur in der Philosophie, auch in der Dichtung, etwa bei Goethe, Schiller und Dostojewski, spielt das Unbewusste lange vor Freud eine Rolle, und es ist durchaus interessant zu sehen, wie viel in den Werken dieser Dichter schon enthalten ist. So entwirft z. B. Dostojewski (1864) eine Klassifikation von Be- bzw. Unbewusstheit, die nahezu exakt dem topischen Modell Freuds entspricht. Als Zeitgenosse Freuds wird Arthur Schnitzler heute als kongenialer Arzt und Schriftsteller angesehen, der wie Freud Tabus um Sexualität und Tod in seinen Werken brach. Freud hat also keineswegs das Unbewusste »entdeckt«, aber er hat diese Dimension überhaupt erst für den Bereich der menschlichen Psyche definiert:

»Das Unbewußte ist das eigentlich reale Psychische, uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der Außenwelt, und uns durch die Daten des Bewußtseins ebenso unvollständig gegeben wie die Außenwelt durch die Angaben unserer Sinnesorgane« (1900a, S. 617f.).

Hier liegt vermutlich das Herzland der Psychoanalyse: zwischen dem Versuch, auch bedrohlich triebhafte, destruktive und verstörend sexuelle Bereiche des Seelenlebens zu erkunden, zu kartographieren, sie in Funktion wie Dysfunktion zu begreifen, und dem Wissen um die Unauslotbarkeit des Unbewussten an der Grenze zwischen Leib und Seele. Die Ausführungen lassen erkennen, dass die Psychoanalyse von Beginn an sehr viel mehr war als eine neue Behandlungsform spezifischer seelischer Störungen: sie hat auch die Kultur und das Menschenbild des 20. Jahrhunderts immens beeinflusst.

Auch wenn sich weit mehr als 100 Jahre später eine geradezu explosionsartige Entwicklung psychoanalytischer Theorien und psychodynamischer Therapiekonzepte konstatieren lässt, macht deren Gemeinsamkeit vermutlich immer noch die Konzeption des Unbewussten aus, dem »Zentralmassiv der Psychoanalyse« (Buchholz & Gödde, 2005) als das Spezifikum der Psychodynamischen Psychotherapie.

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