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2.2.2 Die Anfänge der Psychoanalyse

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1885 reiste Freud nach Paris, um dort bei Charcot Hirnanatomie zu lernen. Dieser – und sein Schüler Pierre Janet (1859–1947) – beschäftigte sich zu der Zeit intensiv mit der Hysterie. Freud lernte im Zuge seines Studienaufenthaltes bei Charcot 1885/86 die hypnotische Diagnostik und Therapie hysterischer Patientinnen kennen. Charcot verstand die heftigen hysterischen Konversionssymptome seiner Patientinnen – Lähmungen, Konvulsionen, Dissoziationen – bereits als Ausdruck einer durch ein (sexuelles) Trauma bedingten Neurose. Er begriff sie als funktionale Störung, allerdings nicht im heutigen Sinne als psychisch, sondern als erblich und organisch mitbedingt. Entscheidend für Freuds Faszination war wohl die eindrucksvolle Demonstration der Beeinflussbarkeit der hysterischen Pathologie durch die hypnotische Technik, die Charcot meisterlich beherrschte und mit deren Hilfe er hysterische Symptome evozieren und wieder zum Verschwinden bringen konnte1.

Dadurch konnten die hysterischen Patientinnen nicht nur von Psychotikerinnen und Epileptikerinnen unterschieden, sondern auch vom Verdacht der Simulation entlastet werden. Während der große hysterische Anfall (arc de cercle) um die Jahrhundertwende häufig vorkam, ist dieses Symptombild heute nahezu verschwunden. So lässt sich am Beispiel der Hysterie zeigen, wie stark psychische Störungen gesellschaftlichen Einflüssen und dem Zeitgeist unterliegen (Shorter, 1994). Freud lehnte die Technik der Hypnose bald als »barbarische Technik ab«, die ohnehin nur für eine begrenzte Zahl von Kranken zu nutzen sei. Entscheidend wurde, dass Freud sich in der Entwicklung seiner eigenen Konzeption sehr früh gegen jede suggestive Intervention aussprach, zumal er bald auch die eigentliche Dynamik dahinter verstand, die als Übertragung zu einem Fundament seiner Behandlungstheorie werden sollte.

Gemeinsam mit Joseph Breuer entwickelte Freud eine Behandlungstechnik für seine hysterischen Patientinnen – die Redekur – die diese in freier Assoziation sprechen ließ und auf eine kathartische Abfuhr aufgestauter Affekte abzielte, deren Genese überwiegend in früh erfahrenen sexuellen Traumatisierungen zu finden war (Freud, 1895d). Diese später als Verführungstheorie (eigentlich ging es um schwerste Traumatisierungen!) bekannt gewordene Traumatheorie enthielt bereits in nuce zahlreiche Grundbausteine der psychoanalytischen Metapsychologie und Behandlungstechnik : Die Verdrängung diente der Abwehr »unverträglicher Vorstellungen« sexueller und/oder aggressiver Natur, die nun zwar das Bewusstsein nicht mehr bedrängten, allerdings eine pathogene Wirksamkeit entwickelten und sich durch rätselhafte somatische und dissoziative Symptome äußerten (Freud, 1894a; Kap. 11). Diese erklärte Freud mit der fehlenden Abfuhr der an die traumatische Erinnerung gebundenen Affekte (Trauer, Wut, Angst, Scham usw.), die daraufhin auf dem Wege der Konversion in somatische Innervationen umgewandelt würden. Die Behandlung zielte nun darauf ab, dem Patienten – der diesem Prozess einen erheblichen Widerstand ( Kap. 12) entgegensetzte – ein adäquates Abreagieren eben dieser Affekte zu ermöglichen, was nur auf dem Wege einer vollen Erinnerung, also eines erneuten (auch affektiven) Durchlebens der entsprechenden Erfahrungen möglich war und zu einer Auflösung der Symptomatik führte. Hier wurde sicher der Ausgangspunkt einer umwälzenden Konzeption zum symbolischen Verständnis psychosomatischer Prozesse und ihrer Therapie gelegt. Insbesondere die Vermutung, dass die hysterische Pathogenese in vielen Fällen auf eine frühe Erinnerungsspur aus vorsprachlicher Zeit zurück ginge, die niemals bewusst werden könne und erst später traumatisch reaktiviert würde, erweist sich im Lichte moderner Trauma- und Gedächtnisforschung als verblüffend präzise (Boll-Klatt & Kohrs, 2018b). Es verweist auf eine »Zweizügigkeit des Unbewussten«, die in der modernen Psychosomatik wie auch der Behandlung schwerer Persönlichkeitsstörungen von großer Bedeutung ist.

Freud selbst löste sich um 1897 jedoch von dieser Konzeption und erkannte, dass der konkreten historischen Realität geschilderter Erfahrungen nicht in vollem Umfang geglaubt werden konnte. So kam er der machtvollen Dynamik unbewusster Phantasien auf die Spur und stellte letztlich fest, dass es »im Unbewussten ein Realitätszeichen nicht gibt, so dass man die Wahrheit und die mit Affekt besetzte Fiktion nicht unterscheiden kann« (Freud, 1985c, S. 283f.). Erst mit diesem Paradigmenwechsel lässt sich im eigentlichen Sinne von der Entwicklung der Psychoanalyse sprechen. Freud entwickelte in der Beschäftigung mit der Welt der sexuellen Phantasien, im Zuge seiner Selbstanalyse und der Arbeit mit Träumen eine Metapsychologie, die sein Modell eines psychischen Apparates erklären und illustrieren sollte. Im Zentrum steht die lebenslange intrapsychische Konfliktdynamik zwischen den triebhaften Impulsen des Unbewussten, die durch vielfältige Abwehrstrategien verdrängt, kompensiert, verschoben oder sublimiert werden müssen. Der geschilderte Paradigmenwechsel Freuds wird bis heute kontrovers diskutiert. Zentral ist der Vorwurf, Freud habe die große Zahl frühkindlicher und insbesondere intrafamiliärer sexueller Traumatisierungen in ihrer Bedeutung seitdem verleugnet. Er erkannte zwar den konkreten Traumata keine ausreichende ätiologische Signifikanz für die Hysterie und andere Neurosen mehr zu – »an ihrem Wahrheitswert zweifelte er jedoch nicht« (van Haute & Westerink, 2016). In der Weiterentwicklung seiner Metapsychologie legte Freud ein topisches Modell (die erste Topik) vor, das die geschilderte Psychodynamik der intrapsychischen Konflikte veranschaulicht und noch deutlich von den Erfahrungen der Hysteriebehandlung bestimmt ist. Hier gliedert er das psychische Geschehen noch primär nach dem Kriterium des Bewusstseins, »d. h. des Ausschlusses aus dem Bewusstsein oder des Zugangs zum Bewusstsein« (Gödde, 2014). Die »Kampflinie« verläuft hier entlang einer doppelten Zensur, zwischen dem Bewussten und dem Vorbewussten (System bw/vbw) sowie gegenüber dem Unbewussten (System ubw).

In der Erarbeitung der Funktionsweise des Unbewussten legte Freud einen weiteren Baustein im Fundament seiner Triebtheorie, der für ihn lebenslang bestimmenden Metatheorie der Psychoanalyse: das Konzept der infantilen Psychosexualität (Freud, 1905d). Es bestimmt im Alltagswissen bis heute das Bild der Psychoanalyse, wird aber zumeist nicht in vollem Umfang verstanden. Entscheidend war Freuds Verständnis der sexuellen Perversionen wie auch der sexuellen Phantasien, denen er in der Traumdeutung und den Analysen neurotischer Patienten begegnete. Er verstand sie nicht als pathologische Entgleisungen, sondern – und das sollte ihm und der Psychoanalyse bis heute wütende Kontroversen und Hexenjagden bescheren – er verstand sogar die absonderlichsten und beunruhigendsten sexuellen Orientierungen – und gerade diese! – als Ausdruck ubiquitärer psychosexueller Entwicklungsphasen. Die neurotischen Symptome wiederum sah er als Resultat mehr oder weniger gelingender Bewältigungsversuche der daraus resultierenden Konflikte. Was hier noch recht kompakt und schlüssig klingt, stellt bis heute tatsächlich eine revolutionäre Umwälzung im Verständnis von Krankheit und Normalität dar. Freud hob im Grunde sogar die Grenze zur Normalität auf, wenn für ihn die lebenslange Auseinandersetzung mit dem intrapsychischen Konflikt, den er in seiner dualen Triebtheorie immer wieder neu formulierte, geradezu die conditio humana ist, von der niemand ausgelassen ist.

Entscheidend ist die Erkenntnis, dass auf dem Wege zur vollen psychosexuellen Reife vor allem die Phasen der prägenitalen Sexualität (oral-anal-phallisch) zu bewältigen und zu integrieren seien, die von je ganz spezifischen Partialtrieben und Partialobjekten bestimmt und auf selektive Körperzonen und Stimulationen fixiert sind. Die volle Integration dieser Bestrebungen zur genitalen Sexualität und reifen Objektliebe gelänge in der Bewältigung des Ödipuskonflikts, in der das Kind – von Freud allerdings vor allem für den Jungen ausgearbeitet – unter Aufgabe infantiler Ansprüche die basalen Gesetze der äußeren Realität – vertreten durch das väterliche Primat – anerkenne und internalisiere (vgl. Boll-Klatt & Kohrs, 2018b; Storck, 2018).

In der Folge überarbeitete Freud sein Modell des psychischen Apparates: In der 2. Topik – auch Strukturmodell oder 3-Instanzenmodell – beschreibt er die intrapsychische Konfliktdynamik vor allem als lebenslange Auseinandersetzung des Ichs mit den triebhaften Kräften des Es und des Über-Ichs. Damit gelingt nicht nur eine sehr viel differenziertere Beschreibung ganz unterschiedlicher Konfliktlinien, es fasst auch die Funktion des Ichs genauer und behandlungstechnisch präziser. Das Ich wird nun nicht mehr als Stellvertreter des Bewusstseins im Kampf mit den Mächten des Unbewussten verstanden, sondern »auch ein Teil des Ichs, ein Gott weiß wie wichtiger Teil des Ichs, kann ubw sein, ist sicherlich ubw« (Freud, 1923b, S. 244, Hervorhebung. i. Org.). Diese Erkenntnis entstammt den zunächst hoch problematischen Erfahrungen mit unbewussten Widerständen – insbesondere auch der Übertragung – in der analytischen Behandlung, die den Fluss der freien Assoziationen störten und die in der 1. Topik nicht schlüssig zu verorten waren. Die neue Konzeption sollte psychoanalytische Theorie und Behandlungslehre – etwa im Modell der Übertragungsneurose – auf lange Zeit bestimmen, neue Entwicklungen anstoßen – so die Ich- Psychologie – und ist bis heute von hohem heuristischem Wert ( Kap. 13; Kap. 16).

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