Читать книгу Ideengeschichte der Psychotherapieverfahren - Группа авторов - Страница 12
1.3 Die ersten Lehrbücher der Psychotherapie
ОглавлениеEbenfalls ein Schüler von Stahl war Johann Christian Bolten (1727–1757). Er war ebenfalls Pastorensohn und kam aus Glückstadt an der Elbe. Er besuchte in Altona das Gymnasium und ging dann nach Halle zum Medizinstudium. 1749 hat er in Halle mit einer Arbeit De nexu metaphysices cum medicina generatim («Allgemeines über die Zusammenhänge zwischen Philosophie und Medizin«) promoviert. 1754 wurde Johann Christian Bolten Physikus (etwa: Amtsarzt, der auch Behandlungen durchführte) von Altona. 1757 ist er im Alter von nur 30 Jahren gestorben.
Zu dieser Zeit war an der Hallenser Universität ein dichtes philosophisch-intellektuelles Netz mit intensivem gegenseitigem Austausch entstanden. Bolten hat sich außer auf Stahl u.a auch auf ein Buch des nur fünf Jahre älteren Professors Ernst Anton Nicolai (1722–1802) gestützt, das 1744 unter dem Titel Gedanken von den Würkungen der Einbildungskraft in den menschlichen Körper erschienen war.
Im Jahr 1751 veröffentlichte Bolten sein Lehrbuch der Psychotherapie unter dem Titel Gedanken von psychologischen Kuren (Peters, 2017). Dieses Buch enthält alles, was man auch von einem modernen Lehrbuch der Psychotherapie erwartet, d. h. eine Definition, was Psychotherapie überhaupt ist, eine Begründung, warum Psychotherapie notwendig ist, eine Anweisung, wie man sie erlernen kann, genaue Angaben darüber, bei welchen Indikationen Psychotherapie empfehlenswert ist. Das Wort »Kur« ist damals ein medizinischer Fachbegriff, abgeleitet vom lateinischen Wort »curatio«. Es ist identisch mit »Behandlung« in unserem heutigen Sprachgebrauch. Eine »psychologische Kur« ist somit dasselbe wie »Psychotherapie«.
Bolten schreibt:
«Die Handlung, vermöge welcher statt einer Kranckheit die Gesundheit wieder hervorgebracht wird, nennet man eine Cur. Geschieht diese Handlung an der Seele, so heisset sie alsdenn eine Seelencur…. Die psychologischen Curen sind die Mittel, die bei rechtem Gebrauch derselben, am schleunigsten und am besten die Seele heilen können…. Psychologische Curen sind solche Seelencuren, die nach den Gesezzen der Natur der Seele eingerichtet sind. Wer demnach psychologisch curiren lernen will, muß sich um die Erlernung der Gesezze der Natur der Seele bekümmern« (s. Peters, 2017).
Gemäß den psychosomatischen Konzepten von Stahl sieht Bolten die Indikation zur Psychotherapie auch bei körperlichen Leiden. Er schreibt: «Man müste die Natur des Menschen wenig kennen, wenn man nicht wissen sollte, wie genau die Kranckheiten der Seele mit denen Kranckheiten des Körpers verbunden sind, und umgekehrt. Eine Kranckheit des Körpers curiren, ohne zugleich der Seele zu Hülfe zu kommen, ist eben so eine vergebliche Bemühung, als das Ebenbild eines häßlichen Gesichtes in einem aufrichtigen Spiegel verbessern wollen, ohne sich zu bemühen, das Urbild schöner zu machen«. Unter einem Model psychosomatischer Wechselwirkungen beschreibt Bolten auch den Einfluss körperlicher Krankheit auf die Seele: «Zum zweiten sind auch da die psychologischen Curen nothwendig, wo sich eine in dem Körper befindliche Kranckheit allzusehr in der Seele ausbreitet«.
Im Sinne psychotherapeutischer Techniken verweist Bolten auf die große Bedeutung einer Vertrauensbeziehung und den Glauben des Patienten an die Kompetenz des Kurierenden. Er beschreibt die Bearbeitung traumatischer Erinnerungen, z. B. indem der ständige »Gedancke des Vaters von seinem Kind und dessen Tode in seiner Seele ausgelöschet werde«. Er beschreibt die Realitätstestung, indem man bei Patienten die »Einbildungs- und Erdichtungskraft verbessert, theils indem man ihre Scharfsinnigkeit erreget, damit sie auf die Unterschiede derer Einbildungen und Empfindungen acht haben«. Er beschreibt im Sinne einer Aufmerksamkeitslenkung die »Dissoziation als psychologisches Heilmittel für die Schmerztherapie«. Im Sinne einer kognitiven Therapie beschreibt er »falsche Gedanken und wie man sie behandelt«, wie man Vorhersehen und Vermutungen hervorbringen und verhindern und den richtigen Gebrauch der Vernunft fördern kann.
Ein weiterer Autor, der in der Tradition von Stahl und seinen Schülern aus Halle stand, war Johann Christian Reil (1759–1813). Er wird, zurecht oder unrecht, gelegentlich sogar als der eigentliche Schöpfer der Psychotherapie bezeichnet. Er war aber in jedem Fall der erste, der den Begriff Psychiatrie (= Seelen-Arzt) verwendete.
Johann Christian Reil wurde 1759 in Rhaude geboren und verstarb 1813 in Halle. Er studierte in Göttingen und Halle und wurde dort 1787 Professor der Medizin. Er war ebenfalls beeindruckt von den Ideen der Aufklärung. Er selbst empfand sich weniger als Neuerer, sondern als Fortsetzer der alten Hallenser Tradition. Er bezog sich auf eine große Reihe von Vorgängern, unter ihnen Johann Christian Bolten, Immanuel Kant, Heinrich Tabor, Friedrich Christian Gottlieb Scheidemantel, Georg Friedrich Sigwart, Michael Alberti, Salomon, William Falconer und selbst noch Joseph Wenzel, dessen Versuch einer praktischen Seelenarzneikunde. Mit einem Anhange von Krankheitsgeschichten der Seele gerade erst 1801 in Graz erschienen war. Man erkennt, dass die frühe Psychotherapieentwicklung auf vielen Schultern stand.
Reil veröffentlichte 1803 sein Buch Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, in dem er sich ausführlich über die «psychische Curmethode« geäußert hat. Reil hatte kein ausgearbeitetes theoretisches Modell von den »Gesezzen der Seele« oder zur »psychischen Curmethode«. Auch die Psyche des Arztes war an der Therapie wenig beteiligt. Er ging von der psychischen Symptomatik des Patienten aus, auf die er pragmatisch versuchte einzuwirken. Wenn Reil einen Patienten an ein loderndes Feuer heranführte, in der Absicht ihn zu erschrecken, dann war das für ihn schon eine »psychische Cur«. Durch sein ansprechendes schriftstellerisches Talent und seine oft kühne Ausdrucksweise hat Reil allerdings viel für die Verbreitung und Popularisierung psychischer Behandlungen getan.
Beschreibungen damaliger psychotherapeutischer Methoden finden sich in teilweise ausführlichen Einzelfallschilderungen auch bei anderen Autoren wie beispielsweise von Marcus Herz (1798). Er war ein jüdischer Arzt und Philosoph und hat Psychotherapie definiert als »ein System, das die Anleitung enthält, jene ungefähre heilsame Gemüthsveränderung vorsätzlich zu veranstalten und mit Absicht jedesmal diejenige zu erregen, welche der Kur [sprich: Behandlung] des gegenwärtigen Übels angemessen ist«. Also bekommt jeder Patient seine nur auf ihn zutreffende individuelle Behandlung. Diese leitet der Arzt jeweils aus seinen Kenntnissen über die allgemeine psychische Natur des Menschen ab, wobei er gleichzeitig die Natur des Patienten und seiner Krankheit in die Überlegungen einbezieht. Marcus Herz sträubt sich ebenso wie andere Psychotherapeuten dagegen, ein Arsenal an psychotherapeutischen Techniken anzugeben, obwohl genau dies immer wieder von ihm verlangt wird. Als Marcus Herz 1791 die 2. Auflage seines zuerst 1786 erschienenen Buches Versuch über den Schwindel veröffentlichte, befand er es für notwendig, eine Entschuldigung in das Vorwort einzuflechten, warum er doch technische Anweisungen gab:
«Die Anweisung zum eigentlichen überall so leicht erlernbaren Kuriren einer Krankheit dünkte mich etwas Entbehrliches, nachdem ich ihr Wesen und ihre mannichfaltigen Ursachen (aus welchen ihre Behandlungsart sich von selbst ergiebt) so umständlich auseinander gesetzt hatte. Und, die Wahrheit zu gestehen, es dünkt mich noch eben so; aber ich konnte das innige Bemitleiden einiger gutmüthigen Recensenten und Doctoren, die es so herzlich bedauerten, daß ich meine wenigen Talente nicht auf das bloße Kurirwerk verwende, nicht ganz ruhig ertragen, und habe daher, so viel ich vermochte, ihrem Verlangen Genüge zu leisten gesucht«. (Herz, 1791)
Da Herz weite Teile der Psychotherapie in Form von Rede und Gegenrede wiedergegeben hat, ist sein Bericht auch heute noch interessant zu lesen. Er beschreibt beispielsweise das, was man heute möglicherweise als eine paradoxe Intervention bezeichnen würde. Er hatte seinen Freund Carl Philipp Moritz zu behandeln. Moritz litt wahrscheinlich an einer offenen Lungentuberkulose und wusste nicht, ob er sterben oder weiterleben werde. »Der zwischen Furcht und Hoffnung schwankende Zustand der Seele«, schreibt Marcus Herz 1791 in seinem Buch über den Schwindel, «ist von der widrigsten Wirkung auf den Körper, die zuweilen dadurch gehoben und in eine heilsame verwandelt wird, daß man den Kranken jeder guten Aussicht beraubt und ihm alle Hoffnung benimmt«. Um das Leiden an der Ungewissheit zu mildern, erklärte Herz seinem Patienten-Freund, sein Leiden sei aussichtslos und er müsse sterben. »Damit wandelte sich die Ungewißheit in die Gewißheit des Sterbens und von Stund an trat Beruhigung ein, der bald die vollständige klinische Genesung folgte«.
Herz hat auch den Königsberger Philosophen Immanuel Kant beraten. Kant erzählt in einem Brief an Christoph Wilhelm Hufeland freimütig von seiner Neigung zur Hypochondrie. Er litt unter einer ständigen Beschäftigung mit allerlei wechselnden eingebildeten Krankheiten oder vielmehr den Ängsten vor solchen Krankheiten. Hypochonder leiden an einem Übermaß an Aufmerksamkeitslenkung auf den eigenen Körper. Kant beschreibt, welche psychotherapeutische Methode er gelernt habe, was heute als kognitive Therapie angesehen würde: «Aber über den Einfluß auf meine Gedanken und Handlungen bin ich Meister geworden, durch Abwendung der Aufmerksamkeit von diesem Gefühle, als ob es mich gar nichts anginge.« Dasselbe Verfahren empfiehlt Kant bei Einschlaf- und Durchschlafstörungen. Auch der Schlafgestörte leidet unter einem Zuviel an Achtsamkeit. Kant erzählt in dem Brief auch, wie durch eine bestimmte Art, die Luft durch die Nase einzuholen, vollständig vermieden habe, Husten und Schnupfen zu bekommen. Hufeland führt bei der Veröffentlichung des Briefes in einer Fußnote an: «Unglaublich ist es, was der Mensch vermag, auch im Physischen, durch die Kraft des festen Willens.«