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Vorwort

Geschichtsvergessenheit und die »verlorenen Befunde« der Psychotherapie(forschung)

So wie in vielen anderen therapeutischen Bereichen hat es in den zurückliegenden 100 Jahren auch in der Psychotherapie eine umfangreiche wissenschaftlich fundierte Entwicklung gegeben. Es sind differenzierte Konzepte erarbeitet, in die Praxis überführt und evaluiert worden. Allerdings ist ein Kennzeichen der Psychotherapie, dass mit Begriffen und hypothetischen Konstrukten gearbeitet werden muss. Dies kann dazu verleiten, Altbekanntes immer wieder einmal neu zu erfinden und mit Bezug auf neue Autoren zu propagieren bzw. zu vermarkten. Man kann gelegentlich geradezu eine »Geschichtsvergessenheit« in den Psychotherapiewissenschaften beobachten, die in der Aus- und Weiterbildung ihren Niederschlag findet. Wie sonst wäre es möglich, dass diverse »Räder« immer wieder neu erfunden werden? Bei diesen Neuerfindungen werden meist neue Begrifflichkeiten und »Labels« eingeführt, die dann dafür sorgen, dass der historische Bezug zu anderen Konzepten gar nicht mehr erkennbar ist (vgl. Strauß, 2018). Dies wäre ohne Relevanz, wenn es dabei nicht dazu kommen könnte, dass wesentliche Erkenntnisse der bisherigen Therapie- und Forschungsentwicklungen überdeckt oder gänzlich vergessen werden. Ein Blick in die Geschichte der Psychotherapie zeigt, dass Befunde und spezifische Psychotherapiekonzepte von Anfang an und auch innerhalb der Verfahren immer wieder rasch in Vergessenheit gerieten und später wieder neu entdeckt wurden. Dies beginnt schon mit Sigmund Freud, der – absichtlich oder unabsichtlich – auf wichtige (ältere) Ideen von Pierre Janet nicht einging, die in vielerlei Hinsicht einigen basalen Konzepten der Psychoanalyse sehr ähnlich waren (Brown, Macmillan, Meares & van der Hart, 1996).

Psychotherapeutisches »Kernwissen«

Die Tatsache, dass Befunde der Psychotherapie und der Psychotherapieforschung immer wieder verlorengehen, hat viele Hintergründe (Goldfried, 2000; 2019). Dazu gehört, dass die Stellung der Psychotherapie innerhalb der Wissenschaften noch keineswegs geklärt ist, sei es als Teil der Psychologie oder Medizin. Hinzu kommt, dass es viele disparate Befunde innerhalb der Psychotherapie und der Psychotherapiewissenschaften gibt, die oft schwer integrierbar sind, was mit dazu beigetragen hat, dass wir nach wie vor keinen Konsens über ein Kernwissen psychotherapeutischer Konzepte besitzen.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass es grundsätzlich keine »richtigen oder falschen« Theorien gibt, sondern nur Theorien unterschiedlicher Utilität in unterschiedlichen Kontexten. Von besonderer Relevanz ist weiterhin, dass Psychotherapie eine Handlungsdisziplin ist, sodass neben der Diskussion um sinnvolle theoretische Konzepte, vor allem Praktikando-Aspekte von Bedeutung sind, die naturgemäß als Handlungsoptionen nebeneinander stehen müssen, mit je eigenen Vor- und Nachteilen, und die auch nicht in einer »universellen« Methode zusammengefasst werden können und sollten.

Die Unterschiedlichkeit theoretischer Ansätze zum Verständnis von Psychotherapie in Verbindung mit Sprachbarrieren führt wissenschaftssoziologisch auch zu einem Herrschaftsdiskurs. Viele »Methoden-Entwickler« in der Psychotherapie haben das Bedürfnis, besonders innovativ und brandneu zu erscheinen. Das führt zur »Usurpation« (Enteignung und Weiterverwertung) älterer, in einem wissenssoziologischen Sinne »unterdrückter« Ansätze durch neue »herrschende« Theorien, wenn nicht Ideologien. Geschichtsvergessenheit ist auch die Folge eines stetigen Wandels der Forschungsmethodologie und der Tatsache, dass vermeintlich neue Befunde generell als bedeutsamer eingeschätzt werden als etabliertes, langjährig in der Praxis erprobtes Wissen. Schließlich gibt es wissenschaftssoziologische Regeln und Gesetzmäßigkeiten, denen zufolge die Verbreitung und Etablierung von Forschungsbefunden heute zunehmend den Gesetzen der Marktattraktivität oder ihrer Nutzung durch Interessengruppen folgt.

Verfahrensorientierung und psychotherapiebezogenes »Kernwissen«

Das vorliegende Buch fokussiert primär auf die Psychotherapieverfahren. Ein Verfahren ist der Kanon von psychotherapeutischen Methoden, Techniken und Störungstheorien, die einer psychotherapeutischen und theoretischen Grundorientierung zuzurechnen sind und die einem angehenden Therapeuten während einer zeitlich begrenzten Ausbildungszeit vermittelt werden können, um ihn zu befähigen, anschließend die Mehrzahl der psychischen Problemstellungen evidenzbasiert, störungsspezifisch und nach den Erfordernissen des einzelnen Patienten zu behandeln (Linden, 2021).

Gegenüber der Abgrenzung von Verfahren gibt es seit jeher kritische Positionen mit der Forderung nach einer integrativen Psychotherapie und der Behauptung, dass durch eine Verfahrensvielfalt sogar der wissenschaftliche Fortschritt behindert werde (Rief, 2019). Kritiker der Verfahren und Befürworter einer integrativen Psychotherapie, wie bspw. Norcross und Goldfried (2019), fordern eine Einigung auf ein »Kernwissen« oder »Kernverständnis«, das gewissermaßen sprachenübergreifend die Weiterentwicklung von Psychotherapie befördern könnte: »One way to begin to get a notion about core principles/processes of change is to find converging agreement across theoretical orientations. If clinicians of different theoretical orientation observe the same thing clinically, we may be in the general ballpark, as the phenomenon shows through despite the different biases« (Goldfried, 2019, in einem Kommentar auf der Diskussionsliste der Society for the Exploration of Psychotherapy Integration (SEPI)).

Der Forderung nach »der einen Psychotherapietheorie« ist entgegenzuhalten, dass die in diesem Buch vertretenen »großen« Psychotherapieverfahren differenzierte und sich auch ergänzende theoretische Rahmenkonzepte darstellen. Innerhalb der Verfahren gibt es Begriffe und Konzepte, die zunächst nur im Kontext von spezifischen Theoriegebäuden operationalisiert sind und korrekt benutzt werden können. Es wäre eine eigene Diskussion darüber nötig, ob unterschiedliche Theorien für unterschiedliche Kontexte nützlich sind und es daher durchaus Sinn macht, mit vielen parallelen Theorien und daraus abgeleiteten hypothetischen Konstrukten und Operationalisierungen zu arbeiten, und ob Konzepte ihren Sinn verlieren, wenn sie aus ihrem Theoriegebäude herausgenommen werden.

Verfahren sind selbstverständlich auch offen für theoretische, empirische und störungsspezifische Weiterentwicklungen. Sie ermöglichen psychotherapeutisch Tätigen und in der Ausbildung Befindlichen eine Wahl in Abhängigkeit von eigenen Denk- und Erlebensstilen. Sie ermöglichen auch mit Blick auf Patienten hypothetisch alternative Behandlungsoptionen, wenngleich eine umfassende Forschung zu differentiellen Indikationen noch nicht vorliegt.

Die Psychotherapieverfahren sind des Weiteren auch die in Deutschland die Versorgungspraxis prägenden und juristisch bedeutsamen Ordnungsbegriffe, wenn bspw. im Psychotherapeutengesetz oder den ärztlichen Weiterbildungsrichtlinien festgelegt ist, dass der Wissenschaftliche Beitrat Psychotherapie zu prüfen habe, ob eine Psychotherapie als wissenschaftlich anerkanntes Verfahren gelten kann. Die Verfahren sind in diesem Kontext auch die Ebene, auf der die Fachkunde der Therapeuten geprüft wird. Die Auflösung der Verfahrensgebundenheit würde vermutlich bedeuten, dass notgedrungen die Fachkundeprüfung auf die Ebene von hunderten von »Methoden« und »Techniken« heruntergebrochen werden müsste, mit allen daraus resultierenden Folgen.

Die Diskussion um diese Thematik wird sicher weitergehen. Allerdings ist nach dem neuen Gesetz zur Psychotherapieausbildungsreform von 2019 auch bei einer zukünftigen universitären Psychotherapieausbildung mit anschließender Psychotherapieweiterbildung weiterhin die Verfahrensorientierung verpflichtend. Die zu dieser Ausbildung gehörende Approbationsordnung schreibt vor, dass die Studierenden sich in der Störungs- und der Verfahrenslehre an den »wissenschaftlich geprüften und anerkannten psychotherapeutischen Verfahren und Methoden« orientieren.

Zu diesem Buch

Hierfür bietet dieses Buch eine exzellente Grundlage. Es arbeitet gegen die Geschichtsvergessenheit und gibt Praktikern, Ausbildungsteilnehmern und anderen Interessierten einen kompakten Einblick in die Ideengeschichte der Verfahren mit ihren Unterschieden und Konvergenzen.

Wir präsentieren im ersten Teil sowohl verfahrensspezifische Geschichtsüberblicke wie auch einen Überblick über die Bemühungen der Psychotherapieintegration. Einleitend weist ein historisches Kapitel von U. H. Peters uns darauf hin, dass die Psychotherapie keineswegs erst mit der Erfindung der Psychoanalyse begonnen hat. Schon weit vorher in der Zeit der Aufklärung und der Romantik wurden verschiedene theoretische Konzepte in den Geisteswissenschaften und in der Medizin entwickelt, die man durchaus als Vorläufer moderner Psychotherapietheorien begreifen kann.

Der zweite Teil des Buches präsentiert, getrennt für die vier »großen« Verfahren Psychodynamische Therapie, Humanistische Psychotherapie, Verhaltenstherapie und Systemische Therapie zentrale Konzepte und deren Pioniere knapp und informativ entlang von ausgewählten zentralen Begriffen. Diese Darstellungen vertiefen die im ersten Teil aufgezeigten historischen Linien und stellen Bezüge zu aktuellen Diskursen her. Deutlich wird, dass vieles, was im Lauf der Psychotherapiegeschichte diskutiert und entwickelt wurde, sich heute unter anderen Bezeichnungen und in anderen Verfahren wiederfindet. Auch diese Hinweise auf Parallelitäten mögen dieses Buch zu einem informativen Brevier über die Ideengeschichte von Psychotherapieverfahren und zu einem Mittel gegen die Geschichtsvergessenheit werden lassen.

Das vorliegende Buch ist aber nicht nur ein Geschichtsbuch, sondern ein aktuelles Lehrbuch, das sich an alle Aus- und Weiterbildungskandidaten der Psychotherapie wendet, besonders aber an die Studierenden des neuen Fachs Psychotherapie. Sie sollen im Rahmen des grundständigen Studiums einen breiten Überblick über die verschiedenen psychotherapeutischen Theorien, Denkansätze und Forschungsmethoden erwerben, bevor sie dann in der Weiterbildung in einem Verfahren eine vertiefte Fachkunde erwerben. Das Buch ist in diesem Sinne auch gedacht als Kompendium in der Hand von Studierenden und Dozenten und gibt eine differenzierte Einführung in die Grundlagen der psychotherapeutischen Wissenschaft und Praxis.

Wir danken an dieser Stelle allen Autorinnen und Autoren für ihre Bereitschaft zur Mitarbeit und dem Kohlhammer Verlag und seinen Mitarbeitern für die Unterstützung bei der Realisierung unseres Projekts.

Bernhard Strauß, Mark Galliker,

Michael Linden, Jochen Schweitzer Jena, Bern/Mannheim, Berlin, Heidelberg im Herbst 2020

Ideengeschichte der Psychotherapieverfahren

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