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DAS ANFÜGEN VON LANGGESTRECKTEN FLÜGEL - BAUTEN ALS MUSTER FÜR SCHLOSSERWEITERUNGEN IM 17. UND 18. JAHRHUNDERT

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Nachdem die architekturgeschichtliche Bedeutung oder, um in der höfischen Terminologie der Frühen Neuzeit zu sprechen: der architekturgeschichtliche „Rang“ des Mainzer Kurfürstenschlosses geklärt werden konnte, gilt die abschließende Frage der konkreten baulichen Gestalt, die der Neubaumaßnahme in Mainz zugrunde lag. Denn anders als beim Aschaffenburger Schloss Johannisburg, das nur wenige Jahre vorher, ab 1604, die vorhandene ältere Burganlage nahezu vollständig dem Erdboden gleichmachte und nur noch den mittelalterlichen Burgturm im Neubau bewahrte, wurde in Mainz die nach der Mainzer Stiftsfehde von 1461/1462 ab 1477/1478 errichtete und ab 1556 nach Kriegszerstörungen umfassend erneuerte Martinsburg weitgehend unangetastet belassen und stattdessen von Süden her ein neuer Flügel an die spätmittelalterliche Burg angebaut (Taf. 1). Dass dieser Verzicht auf einen weitgehenden Abriss der Martinsburg sich nicht einfach mit ökonomischen Gründen erklären lässt, sondern vermutlich dem politischen Symbolcharakter der alten Bischofsburg geschuldet war, belegt ein Blick auf die bereits gezeigte Wiener Hofburg (vgl. Abb. 11).31 Schon im 17. und 18. Jahrhundert wollten eine Reihe namhafter Architekten, darunter so klangvolle Namen wie Fischer von Erlach und Lukas von Hildebrandt, die bestehende, im Kern noch stauferzeitliche Hofburg abbrechen, um an ihre Stelle ein Prachtschloss zu setzen, dessen imperiale Ausmaße selbst Schloss Versailles in den Schatten gestellt hätten. Doch nichts geschah. Jeder Kaiser, von Leopold I. über Kaiserin Maria Theresia bis hin zu Joseph II. ließ sich zwar immer wieder verlockend schöne Entwurfszeichnungen vorlegen, doch der vor ihnen in Gestalt der Pläne ausgebreiteten Verführung zu einem radikalen Bruch mit dem Altüberlieferten erlagen sie nie. Stattdessen ließen sie an die mittelalterliche Hofburg moderne langgestreckte und prachtvoll durchfensterte Flügelbauten anbauen, als Erstes um 1665 den sogenannten Leopoldinischen Trakt (Abb. 22), ganz so, wie es auch bei der Mainzer Martinsburg geschah!32

Wie lässt sich dieses Verhalten selbst kaiserlicher Bauherren, denen es ganz sicher nicht an finanziellen Ressourcen für komplette Neubauten gemangelt hat, erklären? Wie die Quellen zeigen, ist das im deutschen Reich, aber auch in den anderen europäischen Territorien der Frühen Neuzeit übliche Verfahren, traditionsreiche Schlossbauten nur in seltenen Fällen für Neubaumaßnahmen komplett abzureißen, vor allem dem familien- oder institutionengeschichtlich geprägten Verständnis von Schlossarchitektur geschuldet.33 So waren Schlossbauten – wie auch Ahnengalerien und fürstliche Sammlungen – Teil der adligen „Erinnerungskultur“34 und hatten Anteil am dynastischen oder institutionellen Gedechtnuß.35 In diesem System des dynastischen oder institutionellen Gedechtnuß wurde das Schloss wie ein architektonischer Körper – beispielsweise eines Erzstiftes – verstanden.36 Als ob die Mauern des alten Schlosses eine materielle Hülle, eine Art architektonischer corpus für den von alters her bestehenden Familien- oder Institutionenverband bilden sollten, wurden sie in der Regel bei Neubaumaßnahmen zwar verjüngt und aufgefrischt und auch mit Neubauten ergänzt, doch nie vollkommen zerstört. Man könnte auch von einer besonderen Form adeliger bzw. fürstlicher Denkmalpflege sprechen und hierin eine wichtige Grundlage der modernen staatlichen Denkmalpflege erkennen!

Mit diesen Prämissen der adelig-fürstlichen Erinnerungskultur lässt sich auch die Bewahrung der Mainzer Martinsburg erklären, wobei in Mainz noch der besondere Symbolcharakter als Erinnerung an die Mainzer Stiftsfehde von Bedeutung gewesen sein dürfte.37 Die überlieferten Quellen machen darüber hinaus sogar explizit deutlich, dass die alte Martinsburg das architektonische Sinnbild für die mit dem Erzbistum und Erzstift verbundene Landesherrschaft war, deren Rechte nach damaliger Rechtsauffassung materiell mit der Burg als Mittelpunkt des Territoriums verbunden waren.38 So betitelt ein gedrucktes Gratulationsschreiben, das anlässlich des Mainzer Stadteinzugs des neuen Erzbischofs Lothar Friedrich von Metternich-Burscheid am 13. März 1673 erschien, das steinnern Schloß/ zu Mayntz ahm Rhein=Strom als Schmuck deß Landes, in dessen Mauern in Gestalt des Erzbischofs das Liecht deß Ertzstifftes […] wohnt.39 Und nach der Aufhebung des Erzbistums durch Napoleon wies 1819 der Historiker Franz Joseph Bodmann – mit Blick auf die Inbesitznahme der Martinsburg durch einen neuen Fürstbischof als Höhepunkt der zeremoniell bedeutsamen Inthronisationsfeierlichkeiten – darauf hin, dass die feyerliche Überantwortung dieser […] Burg […] das Symbol der Besitzergreifung der gesammten erzstift. Landen, und der Stadt Mainz gewesen war.40

Ungeklärt bleibt allerdings, weshalb sowohl in Mainz als auch in Wien bei den an die alten Burganlagen angefügten Neubauten die Form der auffällig langgestreckten Flügelbauten gewählt wurde. In Mainz sind es zwei Flügel: der unter Kurfürst Georg Friedrich von Greiffenclau 1628 begonnene Südostflügel und der unter Kurfürst Anselm Franz von Ingelheim 1687 begonnene und erst sehr spät, 1752, unter Kurfürst Johann Friedrich Carl von Ostein vollendete Nordwestflügel. Der Grund für die Errichtung langgestreckter Flügelbauten ist in neuen, gegenüber dem 15. und 16. Jahrhundert deutlich veränderten Raumansprüchen zu sehen, die nicht nur die Größe der Räume betraf, sondern vor allem auch deren Abfolge. Raumgröße und Raumabfolge wiederum waren nicht einfach nur dem Wunsch nach mehr Platz und Komfort geschuldet, sondern besaßen ihre Ursache in der repräsentativen und zeremoniellen Funktion eines Residenzschlosses als Regierungs- und Verwaltungsgebäude für den Fürsten und seine Regierung, bei nichtgeistlichen Fürstenherrschaften auch noch für die Familie des Fürsten. Und nicht zu vergessen ist die Funktion als Empfangsgebäude und Gästehaus für mehr oder minder hochrangige (Staats-)Gäste, die je nach Rang und Titel angemessen empfangen und unter Umständen auch für mehrere Nächte untergebracht werden mussten.41 Vor allem im 17. Jahrhundert hatte sich der Raumbedarf für diese vielfältigen Funktionen enorm gesteigert, was insbesondere den Bereich der Empfänge, Audienzen und der Unterbringung der Gäste betraf. Hier mussten die deutschen Fürsten sich seit dem 17. Jahrhundert zunehmend an den Maßstäben des französischen Königshofes und seines Zeremoniells sowie Protokolls orientieren, selbst wenn die jüngere Residenzenforschung nachweisen konnte, dass die deutschen Fürstenhöfe das französische Vorbild nur in eng begrenztem Umfang übernahmen.42 Im Vergleich zu den Ansprüchen des französischen Hofes wie sie in Paris oder später in Versailles zelebriert wurden, blieben die deutschen Höfe – selbst des Kaisers in Wien – immer noch bescheiden!

Abb. 21: Bamberg, Neue Residenz, Ansicht vom Domplatz

Abb. 22: Wien, Hofburg mit 1665 angebautem Leopoldinischem Trakt, Kupferstich, Ausschnitt aus Daniel Suttinger: Türkische Belagerung, 1683

Zu den von Frankreich her übernommenen Raumansprüchen gehörte die dort schon seit längerem übliche Einrichtung von mehrräumigen Appartements, die sowohl aus der Aneinanderreihung als auch der Verbindung mehrerer Räume bestanden. Zu den charakteristischen Bestandteilen dieser Appartements gehörten mindestens eine den Haupträumen vorgelagerte Anti-Chambre, ein Vorzimmer, in dem der Fürst beispielsweise seinen Gast – je nach Rang und Status – warten lassen oder ihm entgegenkommen konnte, sowie das Audienzzimmer und ein Kabinettraum. Letzterer war ein besonders exklusiver und zumeist kleinerer Raum, in den nur hochrangige oder besonders umworbene Gäste geführt und dort im Rahmen eines „privater“ gehaltenen Zeremoniells empfangen wurden.43

Über alle diese Räume sollte offensichtlich auch das Mainzer Kurfürstenschloss durch den Anbau zunächst des neuen Südostflügels von 1628 ff. verfügen und dabei nicht nur dem französischen Vorbild folgen, sondern in besonderer Weise auch dem Vorbild des kaiserlichen Hofes in Wien, der das französische Raumsystem bereits adaptiert und dabei zugleich modifiziert hatte. Wie ein Blick auf den aus der Zeit um 1700 überlieferten Grundriss (Taf. 24) des Mainzer Schlosses zeigt,44 befand sich im ersten Obergeschoss des Ostflügels neben dem Gardesaal (Salle des Gardes) und dem für die herrschaftlichen Essen vorgesehenen „Tafelzimmer“ auch das Appartement des Kurfürsten (Abb. 23)45, das, und darauf sei hier ausdrücklich hingewiesen, nicht einfach nur eine Privatangelegenheit war, sondern vor allem staatsrepräsentativen Zwecken diente. Dieses Appartement bestand aus insgesamt sieben Räumen, die sich in eine linke und rechte Raumfolge gliederten. Betreten wir das Appartement – wie es für die Gäste vorgesehen war – vom Tafelzimmer aus, dann betrat man zunächst das Vorzimmer, die Anti-Chambre, um von dort weiter in das Audienzzimmer zu gelangen, sofern der Kurfürst einen dort zu empfangen gedachte. Wer bis ins Audienzzimmer gelangt war, konnte – vorausgesetzt der Rang und die politische Bedeutung waren hoch genug – darauf hoffen, weiter in die Kabinetträume und das kurfürstliche Schlafzimmer vorgelassen zu werden, das nicht nur praktische, sondern auch zeremoniell-repräsentative Aufgaben zu erfüllen hatte. Linkerhand des Schlafzimmers befand sich der Raum für den Kammerdiener, was der französischen „Garderobe“ entsprach. Vom Schlafzimmer aus gelangte man in einen ersten exklusiven Kabinett-Raum, der den Gast zugleich – sofern er dort Zugang erhielt – auf den repräsentativen Höhepunkt dieser Raumfolge vorbereiten sollte: ein „Spiegel-Zimmer“. Entsprechend der damals in Frankreich aktuellen Mode waren die Wände dieses Raumes mit vielen kleinen Spiegeln verkleidet, auf denen, so darf vermutet werden, auf Konsolen wertvolle Stücke aus der Kunstkammer oder aber – in späteren Zeiten – auch ostasiatische Porzellane präsentiert wurden. Und noch eine weitere Auszeichnung erfuhr dieser Raum: Wie auch das benachbarte Oratorium besaß er einen Eckerker, aus dem sich einstmals sicherlich sehr schöne Aussichten auf den Rhein und den Burggraben boten, während man heute aus diesen Räumen auf die mehrspurige Rheinstraße blickt und der Rhein hierdurch und durch die anschließende Uferpromenade nur noch entrückt wahrgenommen werden kann. Ob das Mainzer Spiegelzimmer auch schon 1628 vorgesehen war oder erst eine Veränderung des späten 17. Jahrhunderts darstellt, lässt sich nicht mehr sicher rekonstruieren, da wir über keine Grundrisse des frühen 17. Jahrhunderts verfügen, sondern nur über diejenigen um 1700. Die von Lothar Franz von Schönborn gegründete Spiegelmanufaktur in Lohr kann jedenfalls nicht unbedingt als terminus post quem gelten, wäre es doch für den Fürstbischof möglich gewesen, Spiegelglas aus anderen Manufakturen (so etwa aus Paris) zu beziehen. Neben diesen vor allem zeremoniell genutzten Räumen gab es auch noch ein für Andachtszwecke vorgesehenes Oratorium, das entweder direkt vom Audienzzimmer aus oder über das Spiegelzimmer erreicht werden konnte.

Wie sehr es für die Mainzer Kurfürsten notwendig war, die Raumfolgen stets auf einem für die Staatsgeschäfte aktuellen Niveau zu halten, belegt im Übrigen die Planungsvariante eines Grundrisses für das erste Obergeschoss des erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts realisierten Nordflügels. Dieser Grundrissentwurf (Taf. 30) stammt aus einem größeren nicht verwirklichten Projekt von 1749, für dessen zeichnerischen Entwurf Anselm Franz Freiherr von Ritter zu Groenesteyn verantwortlich zeichnete. Bei diesem Projekt war auch für die Martinsburg ein Neubau vorgesehen, der aber – vermutlich aus den oben genannten Gründen – nie umgesetzt wurde.46 Wer sich in diesen Grundriss vertieft, wird feststellen, dass hier um die Mitte des 18. Jahrhunderts komplette Parade-Appartements vorgesehen waren, die einen Vergleich mit den zeitgleichen Parade-Appartements der kaiserlichen Wiener Hofburg nicht zu scheuen brauchten. Das Parade-Appartement im Nordflügel (Abb. 24)47, dem ein als Kurfürstliches Tafel-Zimmer bezeichneter Raum vorgelagert werden sollte, war als Appartement des Kurfürsten vorgesehen und sollte offensichtlich das ältere Appartement im Ostflügel ersetzen. Im Unterschied zu diesem verfügt das neue, im Nordflügel vorgesehene Appartement nun gleich über zwei Anti-Chambres und zwei Kabinetträume (ein Sommer- und ein Winter-Kabinett) sowie – neben Audienz- und Schlafzimmer – auch über ein eigenes Wohn-Zimmer. Wie auch schon beim Ostflügel kennzeichneten die beiden Kabinett-Räume Eckerker mit entsprechend schönen Ausblicken, die in diesem Fall auf den Schlossgarten ausgerichtet werden sollten.

Abb. 23: Mainz, Martinsburg und neuer Schlossflügel, Grundriss des 1. Obergeschosses, um 1700, Ausschnitt mit dem Appartement des Kurfürsten

Abb. 24: Anselm Franz Freiherr von Ritter zu Groenesteyn, Ausschnitt (kurfürstliches Appartement) aus dem Grundrissplan des 1. Obergeschosses (vgl. Taf. 30) für die nicht realisierte Erweiterung des Mainzer Schlosses, um 1749

Abb. 25: Anselm Franz Freiherr von Ritter zu Groenesteyn, Ausschnitt (Gäste-Appartement?) aus dem Grundrissplan des 1. Obergeschosses (vgl. Taf. 30) für die nicht realisierte Erweiterung des Mainzer Schlosses, um 1749

Doch nicht nur der gesteigerte Raumaufwand des kurfürstlichen Appartements im Nordflügel fällt bei der Analyse der Entwurfszeichnung von Anselm Franz Freiherr von Ritter zu Groenesteyn ins Auge (vgl. Taf. 30), sondern auch die Raumfolge des gegenüberliegenden Flügels, der anstelle der mittelalterlichen Martinsburg neu entstehen sollte. Dieser vom Nordflügel durch den Garde-Saal getrennte Bereich des Schlosses (Abb. 25)48 besitzt im Prinzip die gleiche Raumfolge wie das kurfürstliche Appartement, nur sind hier alle Räume hintereinandergeschaltet. Da wir nicht annehmen können, dass der Mainzer Kurfürst gleich über zwei für zeremonielle Anlässe geeignete Appartements verfügte, stellt sich die Frage, wer für dieses zweite Parade-Appartement als Nutzer vorgesehen war. Das Vorhandensein von zwei Parade-Appartements erinnert an die Doppelstrukturen in anderen bedeutenden fürstbischöflichen Residenzen, wie das kurz zuvor nach Plänen von Balthasar Neumann und Lukas von Hildebrandt erbaute Residenzschloss der Würzburger Bischöfe. Dort existiert neben dem fürstbischöflichen Appartement noch ein solches für den Kaiser. Ich möchte daher auch für Mainz einen hochstehenden Gast, möglicherweise den Kaiser selbst, dessen Stellvertreter im Reich immerhin der Mainzer Kurfürst als Erzkanzler war, zur Diskussion stellen, selbst wenn sich in den Quellen dazu keine entsprechenden Hinweise finden lassen. Doch diese weitreichenden Neubaupläne des Anselm Franz Freiherr von Ritter zu Groenesteyn wurden nie realisiert, und so fand unter Kurfürst Johann Friedrich Carl von Ostein nur der Nordflügel zwischen 1750 und 1752 zu seiner Vollendung. Als neues Gästeappartement könnte daher das bisherige Appartement des Kurfürsten im Ostflügel genutzt worden sein.

Die alte Martinsburg hingegen blieb auch die folgenden Jahrzehnte als Sinnbild und architektonische Verkörperung des Mainzer Erzstifts bestehen und sollte zuletzt unter Kurfürst Friedrich Karl Joseph von Erthal im späten 18. Jahrhundert sogar nochmals aufwendig im Inneren umgebaut49 und auf diese Weise den Anforderungen der beiden letzten in Mainz amtierenden und residierenden Kurfürsten – nach Friedrich Karl Joseph von Erthal folgte noch Karl Theodor von Dalberg, bevor Napoleon das Erzstift auflöste – angepasst werden. Erst nach der Aufhebung des Mainzer Kurfürstentums im Reichsdeputationshauptschluss von 1803 und nach der Umwandlung des Mainzer Residenzschlosses in ein Zollfreilager unter Napoleon war das Schicksal der Martinsburg besiegelt und musste 1809 der Anlage eines Zollfreihafens am Rhein weichen.

Das Mainzer Schloss

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