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2. Spätmoderne und Moderne – eine Verhältnisbestimmung

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Aufbauend auf dieser knappen Skizze der „Moderne“ kann nun geklärt werden, inwiefern der Begriff „Spätmoderne“ mit der in ihm angelegten Spannung von Wandel und Kontinuität zur Moderne als Gegenwartsanzeige geeignet ist. Dies soll anhand der sechs genannten Prozesse in jeweils drei Schritten geschehen:

Der erste Schritt (a) expliziert die späte Moderne zunächst als entfaltete, radikalisierte Moderne. Denn die Industriegesellschaft war „ihrem Grundriß nach eine halbmoderne Gesellschaft“26; bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts herrschte die Vergesellschaftungsform der „eingeschränkten Modernität“ vor. Erst in den sechziger und siebziger Jahren kam es „zu einem tiefgreifenden Umbruch“ von der halbierten zur entfalteten Moderne.27

Die Radikalisierung der Moderne führt aber zugleich dazu, dass der Prozess der Modernisierung reflexiv wird; er wird „sich selbst zum Thema und Problem“28. Ein Charakteristikum der Spätmoderne ist das Bewusstwerden der Schattenseiten und Risiken der Modernisierung und damit einhergehend eine Brechung der Gewissheiten und Hoffnungen des modernen Fortschrittsglaubens. Die Prämissen der Entzauberung werden selbst entzaubert.29 In einem zweiten Schritt (b) wird also jeweils der Wandel zur radikalisierten Moderne als Wandel zur reflexiven Moderne angesprochen.

Dieser Wandel bedeutet jedoch keinen Bruch mit der Moderne. Die meisten Menschen stehen mit ihrem Denken und Handeln faktisch ganz auf den Grundlagen der Prämissen der Moderne und wollen mit ihren Errungenschaften auch gar nicht brechen. In einem dritten Schritt (c) ist daher jeweils anzudeuten, wie die Spätmoderne „Moderne“ ist und sein will.

(1) Verhältnis zu Technik und Natur in der Spätmoderne:

(a) Seit den Anfängen der Moderne haben Naturwissenschaften und Technik enorme Fortschritte gemacht. Gerade in den Bereichen Mobilität und Medien waren die Wandlungen in den letzten Jahrzehnten für das Leben der Menschen in einer zunehmend globalisierten Welt besonders einschneidend.

(b) Durch die Erfahrungen vom Ölschock über die atomare Katastrophe von Tschernobyl und den verheerenden Tsunami von 2004 bis zur atomaren Katastrophe von Fukushima ist das Bewusstsein für die negativen Folgen und Risiken dieser Entwicklungen gewachsen: Die Natur wird wieder stark als gefährdete und damit gefährliche Größe wahrgenommen. Dem gewachsenen Umweltbewusstsein entsprechen Forderungen und Maßnahmen zum Umweltschutz.

(c) Die Bewältigung der Nebenfolgen des technischen Fortschritts wird im Regelfall nicht in einer Rückkehr zur Natur gesucht, sondern in einer Intensivierung der Anstrengungen, ihnen durch weitere Fortschritte in Wissenschaft und Technik beizukommen – also ganz im Sinne der Modernisierungsdynamik. Denn zu einem einschneidenden Verzicht auf manche ambivalente Segnungen des technischen Fortschritts sind die wenigsten bereit. Die Bewahrung der Schöpfung scheint nur in einer Mischung aus technischem Fortschritt und Bereitschaft zum Verzicht möglich.

(2) Differenzierung als Problem und Ideal in der Spätmoderne:

(a) Zwar setzte mit der Modernisierung eine Ausdifferenzierung der zentralen Funktionsbereiche wie Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Familie und Religion ein, doch gleichzeitig blieb noch lange Raum für weltanschaulich geprägte Milieus, die die Auswirkungen der Differenzierung abschwächten. Zu denken ist besonders an die sozialistische Arbeiterschaft und das katholische Milieu, die sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts herausbildeten, um die Wende zum 20. Jahrhundert den Höhepunkt ihrer Prägekraft und in der Sondersituation der späten 1940er und der 1950er eine gewisse Renaissance erlebten. Erst mit dem Abschmelzen dieser Milieus entfaltete die strukturelle und funktionale Differenzierung ihre volle Dynamik.30 Auch die Verweigerung von Freiheits- und Partizipationsrechten in den verschiedenen Funktionssphären der Gesellschaft für Frauen, aber auch für andere Bevölkerungsgruppen, wird erst zögerlich und spät abgebaut.

(b) Zunehmend wird die Problematik einer entgrenzten Ausdifferenzierung und Spezialisierung wahrgenommen. Der Blick auf das Ganze, auf Zusammenhänge und Nebenfolgen wird getrübt; Sinn und Unsinn des eigenen Tuns und Lassens können oft nicht mehr wahrgenommen werden. Außerdem werden problematische Züge nicht vollzogener Differenzierung oder fortschreitender Entdifferenzierung deutlicher gesehen: Unübersehbar sind zum Beispiel wirtschaftliche und politische Einflüsse auf die Wissenschaftsentwicklung geworden, die Trennung zwischen Wirtschaft und Kunst verschwimmt zunehmend, und auch die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit verflüssigt sich in der Lebensführung vieler spätmoderner Subjekte.

(c) Vermutlich sind es gerade solche Prozesse, die Menschen allergisch reagieren lassen, wo sie Verstöße gegen die Gesetzmäßigkeiten der Differenzierung vermuten. So sollen Lobbyisten der Wirtschaft nicht die Politik bestimmen, private Daten sollen vor dem Zugriff von Unternehmen und Behörden geschützt werden, und die Kirche soll sich nach der Meinung der meisten ihrer Mitglieder nicht in Politik und private Lebensführung einmischen. Solche Beispiele machen deutlich, wie sehr Differenzierung auch in der Spätmoderne als bewahrenswerte Errungenschaft bzw. als Ideal gilt.

(3) Rationalität, Rationalisierung und Irrationales in der Spätmoderne:

(a) Fortschritte in Wissenschaft und Technik bestärken die Zuversicht, dass Zusammenhänge zumindest grundsätzlich vernünftig erklärbar und viele Probleme zumindest grundsätzlich vernünftig lösbar sind. Die Auflösung des traditionalen Sektors der klassischen Industriegesellschaft und die weitgehende Industrialisierung des bäuerlichen und handwerklichen Sektors sowie der Einsatz von Computertechnik im Verwaltungssektor haben weitere Rationalisierungseffekte ermöglicht.

(b) Das Vertrauen in die grundsätzlich unbegrenzten Einsichtsmöglichkeiten der kritischen Vernunft und in ihre Leistungsfähigkeit, zentrale Menschheitsprobleme zu lösen, ist tief erschüttert. Das Bewusstsein ist schmerzlich gewachsen, dass die Erfolge der Rationalisierung mit katastrophalen Folgen für die Umwelt, mit ungerechten Weltwirtschaftsverhältnissen, mit einer Verschärfung des Arbeitslosigkeitsproblems und mit negativen Auswirkungen auf Gesundheit und Lebensqualität erkauft wurden. Außerdem dämmert die Einsicht, dass Rationalisierungsfortschritte ohne kritische Orientierung und ohne über sie hinausgehende Sinnansprüche Mensch und Gesellschaft schaden und verarmen lassen. Neben rational begründeter kritischer Reflexion an Rationalisierungsvorgängen gibt es auch die Suche nach dem Irrationalen in Kunst, Mythen, Fantasy, Mystik und Esoterik.

(c) Diese Suche geht aber einher mit einem Festhalten an der Leitkategorie der Vernunft in den gesellschaftlichen Diskursen, an der Begründungspflicht von Geltungsansprüchen und an den Erfolgen durch Rationalisierung, die den meisten Menschen in den westlichen Industrieländern einen Lebensstandard ermöglichen, der auch nach der jüngsten Wirtschaftskrise im historischen wie im weltweiten Vergleich sehr hoch ist.

(4) Suche nach lebbarer Vielfalt in der Spätmoderne:

(a) Pluralismus ist kein spezifisch modernes Phänomen, verstärkt sich aber quantitativ wie qualitativ im Zuge der Modernisierung. Denn während Pluralismus bis weit in die Moderne hinein ein Nebeneinander relativ geschlossener Gruppenkulturen bedeutete, hat sich spätmodern „eine stärkere Unmittelbarkeit von Individuum und Kultur“31 entwickelt. Die Steigerung der Zahl der Optionen im Zuge der Globalisierung geht mit einer Vernichtung der Obligationen einher, die sich in Entgrenzung, Entzeitlichung, Enthierarchisierung und Entheiligung äußert. Die „Multioptionsgesellschaft“ sucht die Freiheit von allem und für alles und wird so zugleich zur „Miniobligationsgesellschaft“.32

(b) Die so radikalisierte Pluralisierung droht den Einzelnen zu überfordern: Der sich orientierungslos durch Optionen „Zappende“ und der im Fundamentalismus Halt Suchende sind trotz ihrer Gegensätzlichkeit Opfer derselben Entwicklung. Die Suche nach einer gemeinsamen Basis kultureller Bildung, nach verbindenden Werten und nach Grundlagen eines friedlichen Dialogs sind daher wichtige Herausforderungen spätmoderner Gesellschaften.33

(c) Die Bereicherung durch die Vielfalt und die Faszination angesichts der Fülle von Optionen will wohl niemand gegen Bevormundung und Monotonie eintauschen. Gerade die Gefahr von Fundamentalismen und von kultureller, politischer, biologischer oder wirtschaftlicher Monokultur mobilisiert moderne Widerstandskräfte.

(5) Das schwierige Projekt, man selbst zu sein:

(a) Individualisierung ist eine zentrale Entwicklung und Forderung seit Aufklärung und Romantik. Doch wurde sie durch verbreitete kollektive Lebensmuster faktisch stark begrenzt. Solche Lebensmuster, wie zum Beispiel Geschlechterrollen, Berufskarrieren oder Familienbilder, wurden in den letzten Jahren entstandardisiert. Aus der „Normalbiographie“ ist damit endgültig die „Wahlbiographie“ (Katrin Ley), die „reflexive Biographie“ (Anthony Giddens), die „Bastelbiographie“ (Ronald Hitzler) und die „Risikobiographie“ (Ulrich Beck) geworden. Das Leben wird als Projekt aufgefasst, als einzigartige Aufgabe, die möglichst selbstbestimmt und innovativ gestaltet werden muss.34

(b) Die zunehmend individualisierte Gesellschaft wird aber auch als durch die gegensätzlichen Gefahren der Vereinsamung und der Vermassung bedroht wahrgenommen. Die Überforderung durch das Projekt, man selbst zu sein, kann sich in Vereinzelung oder Depression, in Abhängigkeit oder neuen Standardisierungstendenzen zeitigen. Neue virtuelle und reale Vergemeinschaftungsformen suchen das Miteinander lebendig zu halten.

(c) Trotz Angst vor Vereinsamung und trotz der Sehnsucht nach Formen verlässlicher Gemeinschaft nimmt der Wunsch nach Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung weiterhin eine Schlüsselstellung ein. Die spätmoderne Gesellschaft hält an der Würde und Unhintergehbarkeit von Subjekt und Individuum fest.

(6) Religion in der Spätmoderne zwischen Säkularisierung, De-Säkularisierung und Post-Säkularität:

(a) Der deutliche Rückgang religiöser Zugehörigkeit, Praxis und Überzeugung in breiten Bevölkerungsschichten ist für die letzten fünfzig Jahre in Deutschland messbar und belegt. Der fortschreitende Prozess der Entkonfessionalisierung, Entkirchlichung und Entchristlichung scheint unumkehrbar.35 Autonome Welterklärung und Daseinssicherung sind in Westeuropa für die meisten zur Selbstverständlichkeit geworden. Alle Lebensbereiche sind in der Spätmoderne durch die Grunderfahrung der „weltlich“ gewordenen Welt geprägt.36

(b) Dennoch hat die Säkularisierungsthese an allgemeiner Plausibilität verloren und wird durch andere Erklärungsmodelle ergänzt bzw. ersetzt, die eher von einem Gestaltwandel des Religiösen sprechen und auch religionsproduktive Tendenzen der Gegenwart ausmachen. Es ist von der „Rückkehr der Religionen“ (Martin Riesebrodt) die Rede, von „De-Säkularisierung“ (Peter L. Berger) und von „Re-Spiritualisierung“ (Matthias Horx), gar vom „Megatrend Religion“ (Regina Polak). Es gibt weltweit zahlreiche Anzeichen bleibender Relevanz der Religion und ihres Erstarkens und auch in Deutschland eine verstärktes Interesse an Religion in der „postsäkularen Gesellschaft“ (Jürgen Habermas) und eine Sehnsucht nach Spiritualität.37

(c) Doch mindestens für Westeuropa und international für eine einflussreiche Schicht mit höherer Bildung westlicher Art gilt, dass Religion radikal an Verbindlichkeit und Signifikanz verloren hat. Die autonome und rationale Gestaltung der ausdifferenzierten Bereiche der Gesellschaft, die kritische Rationalität des Denkens und die Freiheit gegenüber Religion und im Bereich des Religiösen sind hier für die meisten wichtige Errungenschaften der Moderne, die sie verteidigen wollen.

Das stolze Selbstbewusstsein der Moderne ließ sich im Fortschrittsgedanken bündeln.

(a) Spätmodern ist dieser Fortschritt regelrecht entfesselt: Naturbeherrschung, Ausdifferenzierung, Rationalisierung, Pluralisierung, Individualisierung und Säkularisierung haben ein bisher ungeahntes Maß erreicht.

(b) Zugleich wird die Ambivalenz dieser Entwicklungen sichtbar, und der Fortschrittsgedanke verliert an Glaubwürdigkeit und Akzeptanz. „Der Fortschritt ist unaufhaltsam“ – dass diese Floskel nur noch als ironische Reaktion auf Veränderungen präsent ist, deren Sinn nicht wirklich einzusehen ist, fängt am alltagssprachlichen Beispiel die Ernüchterung über das Projekt der Moderne ein. Der Verdacht macht sich breit, dass die zunehmend bewusst werdenden Nebenfolgen die Errungenschaften des Fortschritts möglicherweise überrunden. Außerdem fällt es vielen zunehmend schwer, angesichts der entfesselten Fortschrittsdynamik Sinn und Orientierung zu finden.

(c) Dennoch bleiben der Reiz des Neuen und die Hoffnung auf Verbesserungen unverwüstlich. Eine pauschale Fortschrittsfeindlichkeit wäre fraglos auch borniert und gefährlich. Errungenschaften beispielsweise in den Bereichen Medizin, Informationstechnologie oder Mobilität haben einen Maßstab gesetzt, von dem auch spätmodern die meisten kaum wünschen werden, dass er unterschritten wird.38

Praktische Theologie in der Spätmoderne

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