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2. Universaler Widerstreit

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Szenenwechsel. New York, am 8. Februar 2010. Investmentmanager weltweit agierender Hedgefonds treffen sich in Manhattan zu einem Abendessen.62 Man verabredet eine gemeinsame Wette gegen das hochverschuldete EURO-Land Griechenland, die schließlich die Einrichtung eines EU-Rettungsfonds erforderlich macht. Einige zum Teil noch sehr junge Manager, die sich in New York zu einem exklusiven Dinner treffen, spekulieren gegen ein Land und bringen damit einen ganzen Kontinent an den Rand des Scheiterns – wie kann das geschehen? Und wie kann es sein, dass genau jene Banker, die sich in der Finanzkrise noch mit staatlichem Geld retten ließen, inzwischen einfach so weiterspekulieren, als sei nichts geschehen?

Wohin angesichts dieser obszönen Kaltschnäuzigkeit mit der Wut? Wem soll man sie entgegenschleudern? Das Problem ist die Streuung möglicher Zielobjekte in der Spätmoderne: Spitzenmanager verweisen auf wirtschaftliche Zusammenhänge, deren Komplexität auch ein halbwegs intelligenter Zeitungsleser längst nicht mehr durchblickt. Wie kann Politik unter diesen Bedingungen überhaupt noch steuernd eingreifen? Es gibt keine schlichtende Metainstanz, an die man gegen diesen Zustand appellieren könnte. Was in den daraus resultierenden Paradoxien63 einzig bleibt, ist die Dilemmakompetenz eines kontrafaktisch durchgehaltenen Lebensmutes nach Art von Camus Sisyphos. Hier kommt der wohl leistungsfähigste Gesamtbegriff der Spätmoderne ins Spiel: der Widerstreit. Er wurde von Lyotard in seinem Buch Le différend entwickelt – und zwar in Auseinandersetzung mit dem Zivilisationsbruch der Shoa, der sogar noch die Beweise des Verbrechens selbst vernichtete:

„Widerstreit (différend) möchte ich den Fall nennen, in dem der Kläger seiner Beweismittel beraubt ist und dadurch zum Opfer wird. […] Zwischen zwei Parteien entspinnt sich ein Widerstreit, wenn sich die ‚Beilegung‘ des Konflikts, der sie miteinander konfrontiert, im Idiom der einen vollzieht, während das Unrecht, das die andere Seite erleidet, in diesem Idiom nicht figuriert.“64

Den zahllosen unterlegenen Opfern dieser Asymmetrie bleibt nur der Schlusssatz von Paul Celans Gedicht Aschenglorie:

„Niemand

zeugt für den

Zeugen.“65

Auschwitz ist der exemplarische Ort eines Widerstreits, der keine schlichtende Metainstanz mehr kennt, sondern nur noch Kombattanten: „Politik ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.“66 Michel Foucaults Umkehrung des Clausewitz-Diktums belegt, dass es keine „kristallinen Sphäre reinen Denkens“67 außerhalb der agonalen Grundstruktur des Seins gibt. Hier spielt eine staatsrechtliche Auseinandersetzung aus der Weimarer Republik eine wichtige Rolle. Carl Schmitt, der spätere ‚Kronjurist Hitlers’, machte gegen den Staatsrechtler Hans Kelsen eine politisch verunreinigte „Soziologie der Begriffe“68 stark:

„Alle soziologischen Elemente werden aus dem juristischen Begriff ferngelassen, damit in unverfälschter Reinheit ein System von Zurechnungen auf […] eine letzte einheitliche Grundnorm gewonnen wird. […] Die Einheit der Rechtsordnung […], das heißt der Staat, bleibt im Rahmen des Juristischen von allem Soziologischen ‚rein’. […] Einheit und Reinheit sind aber leicht gewonnen, wenn man […] alles, was sich der Systematik widersetzt, als unrein ausscheidet. Wer sich auf nichts einlässt […], hat es leicht, zu kritisieren.“69

Generell gilt vor diesem Horizont: Der universale Widerstreit der Spätmoderne hat kein Außen. Sich für die Universalität der Menschenrechte einzusetzen, ist in diesem Widerstreit ohne Schlichtungsinstanz nur ein Geltungsanspruch unter vielen – wenn auch eine unbedingt anzustrebender. Inmitten des globalen Widerstreits gilt es zumindest, die „leere Mitte“70 einer offenen Gesellschaft freizuhalten: „Eine Gesellschaft, die sich nicht einschüchtern lässt, die Opfer aushält und ihr offenes Leben weiterlebt, ist vom Terror nicht zu besiegen.“71 Angesichts des 11. September 2001 lautet die Frage an den Westen: „Haben wir auf dem gleichen vitalen Niveau der Hingabe etwas anderes entgegenzusetzen?“72 Das entsprechende Zeugnis einer offenen Gesellschaft für die Würde des Menschen ist man zumindest den Opfern der Shoa, der zentralen Katastrophe der Moderne, schuldig. Noch einmal Celan:

„Tief

in der Zeitenschrunde

beim

Wabeneis

wartet, ein Atemkristall,

dein unumstößliches

Zeugnis.“73

Rainer Bucher hatte zu Beginn der theologischen Debatte um die Postmoderne vorgeschlagen, diesen Begriff im Sinne einer „gegenwartsanalytischen Kategorie“74 vor allem soziologisch zu verwenden. Die Spätmoderne wäre dann vor allem ein Produkt funktionaler Differenzierungsprozesse der Moderne, die zu einer Individualisierung der Lebensstile und zu einer Pluralisierung der Weltbilder führten. Das ist durchaus richtig, wird aber der skizzierten Herausforderung wohl nicht ganz gerecht. Es stellt sich die Frage: „Welche Philosophie braucht die Pastoraltheologie?“75 Betrachtet man die großen philosophischen Schulen der Gegenwart in ihrem Bezug zu entsprechenden Zeichen der Zeit, so lässt sich das Denken spätmoderner Franzosen als eine „von prägnanten Zeichen signierte“76 Philosophie identifizieren, die Frankfurter Schule mit ihren Sozialutopien herrschaftsfreier Kommunikation als eine „von diffusen Zeichen signierte“77 und die Analytische Philosophie mit ihren historisch kaum affizierten sprachlogischen Schlussverfahren als eine „asignierte“78 Philosophie. Das letztere Denkformat ist nur durch massive Abblendungen möglich:

„Es geht um eine andere Art von Analyse des Diskurses als Strategie, als sie die Angelsachsen […] betreiben. Mir kommt […] ein wenig begrenzt vor, dass sich diese Analysen […] in einem Oxforder Salon bei einer Tasse Tee entfalten – strategische Spiele betreffend, die zwar interessant sind, aber mir zutiefst begrenzt vorkommen. Es stellt sich das Problem, herauszufinden, ob wir die Strategie des Diskurses nicht in einem ungleich realeren historischen Kontext […] von Praktiken studieren können, die von einer anderen Art sind als diese Salongespräche.“79

Eine philosophisch orientierte theologische Rezeption der Spätmoderne findet ihre gegenwartsanalytisch stärksten Gesprächspartner daher auch unter Autoren der französischen Gegenwartstheorie, deren größte Gemeinsamkeit in ihrer Ablehnung des Diskurslabels ‚postmodern‘ besteht: Emmanuel Lévinas80, Jacques Derrida81, Jean-François Lyotard82, Georges Bataille83, Gilles Deleuze84 und Michel Foucault.85 Parallel zu diesen autorenbezogenen Pionierdiskursen86 erschienen sowohl fachtheologisch87 als auch kirchenpastoral88 ausgerichtete Sammelbände zur Postmoderne bzw. Nach-Postmoderne89 sowie auch erste Monographien90 zur Gesamtthematik. Inzwischen wird an verschiedenen Orten die Theologie als Ganze spätmodern rekonstruiert – zum Beispiel an der Universität Salzburg, wo der Dogmatiker Hans-Joachim Sander eine „Semiotik der Differenz“91 und der Fundamentaltheologe Gregor M. Hoff „theologische Inversionen“92 betreiben. International wären vor allem zwei Vordenker einer ‚schwachen Theologie‘ der Spätmoderne zu nennen, deren einschlägige Hauptwerke wohl nicht gerade zufällig an Gianni Vattimos pensiero debole erinnern: Michel de Certeau mit La faiblesse de croire93 und John Caputo mit The weakness of God.94

Praktische Theologie in der Spätmoderne

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