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1. Postmoderne oder Spätmoderne?

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Begriffe sind austauschbar, es kommt auf ihre Füllung an. Daher gilt es, einen theoretisch belastbaren Begriff von der eigenen Gegenwart zu entwickeln. Ohne dunkles Raunen, ohne modische Diskursaccessoires und jenseits kulturwissenschaftlicher Antragsprosa. Mangels besserer Alternativen wird im Folgenden ein arbeitstechnischer Hilfsbegriff zur näherungsweisen Bestimmung unserer Zeit vorgeschlagen: die Spätmoderne. Sie ist nichts anderes als die Gegenwart im Versuch ihrer begrifflichen Erfassung. Gegenüber dem landläufigen Begriff der Postmoderne hat dieser Begriff den entscheidenden Vorzug, dass er weniger vermeidbare Missverständnisse provoziert. Stichwort: konturlose Beliebigkeit. Es ist klar, dass dieser Begriff mit Jean-François Lyotard auch im Sinne des Folgenden ausgelegt werden kann. Es kommt dabei insgesamt weniger auf die Begriffe selbst an als auf ihren konkreten Gebrauch. Entsprechendes gilt für alternative Begriffe wie Reflexive, Radikale oder Zweite Moderne. Vielleicht sollte man ganz auf entsprechende Etikettierungen verzichten und einfach von ‚der Gegenwart‘ sprechen. In jedem Fall aber legt der Begriff der Spätmoderne weniger als jener der Postmoderne ein zeitliches Nacheinander nahe, welches das notwendig offene Projekt der Moderne als etwas längst Abgeschlossenes bzw. Überholtes erscheinen lässt – und im theologischen Bereich bruchlose Rückgriffe auf die Vormoderne zulässt (siehe zum Beispiel das angelsächsische Projekt Radical orthodoxy, aber auch die in gewissem Sinne ‚postmoderne‘ Schriftauslegung in den Jesus-Büchern von Papst Benedikt).

Die Spätmoderne hingegen steht in gebrochener Kontinuität zu einer Moderne, die sich ‚nach Auschwitz‘ ihrer eigenen Ambivalenzen bewusst wurde49 und die sich aus dem Impuls der Aufklärung heraus nun in selbstreflexiver Radikalisierung überschreitet – mit der Konsequenz, dass ein entsprechend „differenztheologisches Programm“50 nun auch in der Pastoraltheologie zu entwickeln ist. Dessen theogrammatisches Strukturformat51 besteht weder im „Entweder-oder“52 der Moderne (also: entweder Tradition oder Fortschritt, entweder Monarchie oder Demokratie, entweder Arbeit oder Kapital) noch im „Sowohl-als-auch“53 der Postmoderne (im Sinne eines anything goes, das dieser von Vertretern des „Entweder- oder“ von beiden Seiten moderner Dichotomien her zum Vorwurf gemacht wird), sondern vielmehr in der doppelten Verneinung eines „Weder-noch“54, das den akademischen Gottesdiskurs im Sinne eschatologischer Unabschließbarkeit prinzipiell offenhält. „Vive la différence“55 – mit diesem Wahlspruch verteidigt die Spätmoderne – zumindest im Bereich der nouvelles philosophes bzw. der French Theory – das Singuläre, Differente und Plurale gegen den potenziell totalitären Zugriff des Universalen, Identischen und Singularen: „Krieg dem Ganzen, zeugen wir für das Nicht-Darstellbare, aktivieren wir die Differenz, retten wir die Differenzen, retten wir die Ehre des Namens.“56

Der entscheidende Unterschied zwischen Postmoderne und Spätmoderne besteht im Kontrast von Pluralität und Differenz. Unsere Gegenwart ist keine postmoderne Blumenwiese kunterbunter Vielfalt, auf der sich die Pastoraltheologie auf eine semantische Blütenlese des Empirischen beschränken könnte, sondern vielmehr ein spätmoderner Kampfplatz stahlharter Vielheiten im Sinne Max Webers, auf dem sie sich nicht nur diskursiv, sondern auch existenziell bewähren muss: „[Die] verschiedenen Wertordnungen der Welt [stehen] in unlöslichem Kampf untereinander […]. Die alten […] Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern […] und beginnen […] wieder ihren ewigen Kampf.“57 Diese Worte vom neuen Ringen der alten Götter sind durch die Stahlgewitter des Ersten Weltkriegs hindurchgegangen. Dieses ‚Pascha‘ der Moderne eröffnete jenen großen „Weltbürgerkrieg“58, den Eric Hobsbawm das kurze 20. Jahrhundert nennt: von den Schüssen in Sarajevo bis zum Zusammenbruch des Sowjetreichs.59 Mit dem 9.11.1989 sind die alten Götter des 20. Jahrhunderts abgetreten. Längst haben neue den Kampfplatz betreten, die Nebel des Übergangs beginnen sich zu lichten. Neue große Erzählungen bestimmen eine zunehmend postsäkulare Weltpolitik. Spätestens seit mit dem 11.9.2001 das 21. Jahrhundert begann, zeichnet sich immer deutlicher ab, dass die langen zehn Jahre zwischen 11/9 und 9/11 nicht das vermeintliche „Ende der Geschichte“60 brachten, sondern den Beginn einer Latenzphase zwischen dem Finale des 20. Jahrhunderts und der Ouvertüre des 21. Jahrhunderts markiert, die man die Epoche der Postmoderne nennen könnte: „Der Fall der Mauer und der Fall der Türme. […] Zwei Einstürze, aus denen sich mein […] Zeitgefühl erhebt. 11-9-9-11: Ein Palindrom der Bewusstwerdung meiner Generation […], das man vorwärts wie rückwärts lesen kann.“61

Praktische Theologie in der Spätmoderne

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