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4. Denken in Konstellationen
ОглавлениеPraktische Theologie in den pluralen Differenzen der Spätmoderne bedeutet: „Es bedarf mindestens zweier Orte, um über ein theologisches Problem als theologisches zu sprechen.“108 Sie ist ein „Denken in Konstellationen“109, das man immer nur von mehr als einem theologischen Ort aus betreiben kann. Daraus folgt ein differenztheoretischer, in seiner Pluralität spätmodern gegenwartsfähiger Grundansatz: Es gibt nicht nur eine Schöpfungserzählung, sondern zwei. Es gibt nicht nur ein kanonisches Evangelium, sondern vier. Und es gibt nicht nur eine Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanums, sondern zwei: Lumen gentium und Gaudium et spes. Theologische Einheitsutopien wie die Evangelienharmonie des Diatessaron von Tatian oder die Diskurskathedrale der Summa theologica des hl. Thomas wurden entweder (wie die erste) kirchenamtlich verworfen oder sie blieben (wie die zweite) absichtsvoll unvollendet. Die Frage nach dem letzten Einheitsgrund der Gegensätze jedenfalls trägt einen fundamentalen Gnadenindex und ist eschatologisch offen: Wir können ihn weder machen noch können wir ihn festhalten. Vor diesem Hintergrund erscheinen an Canos Diskursmodell der loci theologici110 mindestens drei Sachverhalte zukunftsweisend: ihr unabgeschlossener Plural der decem loci, ihre unaufhebbare Differenz von loci proprii und loci alieni sowie ihre hierarchisierte Dezentrierung zwischen loci constituentes und loci interpretandes. Ein solches konstellatives Denken ermöglicht eine Topik des Pluralen, die spätmodernem Theorieniveau entspricht. In einer bei Thomas Freyer entstandenen systematisch-theologischen Dissertation heißt es dementsprechend:
„Die ‚Methode‘ meiner Arbeit habe ich als Topik gekennzeichnet, die ein Gelände aus verschiedenen Perspektiven beschreibt. Sie ergänzen sich, sind aber nicht voneinander abhängig. […] Der Zusammenhang, für den ich hier verantwortlich zeichne, hat den Anspruch, […] für weitere Orte offen zu bleiben. […] [Die alternative, Ch. B.] […] Möglichkeit steht für mich grundsätzlich in Zweifel, […] die Wirklichkeit des Glaubens […] von einem Standpunkt – einem Ort – aus als vernünftig auszuweisen.“111
Auch de Certeau, ein theologischer ‚Doppelgänger‘ Foucaults, der in kulturwissenschaftlichen Kreisen längst vom Geheimtipp zur Pflichtlektüre avanciert ist, spricht von „theologischen Orten“112. Dabei zieht der spätmoderne Jesuit aus Frankreich jedoch ungleich radikalere Konsequenzen aus der pluralen Differenz der loci theologici als der frühneuzeitliche Dominikaner aus Spanien:
„Autorität im Singular […] schließt […] ein Wissen in sich selber ein. Autoritäten im Plural hingegen lassen anderes zu. […] Eine Autorität […] zeigt sich darin, dass sie nicht ohne [pas sans] andere sein kann. […] Es gibt die Schrift, aber auch die patristische Tradition. Den Papst, aber auch das Konzil. Und so weiter. […] Christliche Autorität schafft einen Raum […]. Sie macht Differenzen möglich. […] Die kommunitäre Manifestation des Unendlichen […] ist durch eine Pluralität von Autoritäten repräsentiert, die […] denjenigen stets neu aussagen, der sie ermöglicht hat: Jesus Christus. […] Jede Gestalt von Autorität in der christlichen Gemeinschaft ist markiert von der Abwesenheit dessen, was sie begründet. Sei es die Schrift, die Traditionen, das Konzil, der Papst oder alle anderen: was sie erlaubt [permet], ist das, was ihr fehlt [manque]. […] Denn als Autorität reichen weder der Papst, noch die Schrift, noch diese oder jene Tradition allein aus: ihr fehlen die anderen.“113
In diesem Zitat wird eine analytische Dreiheit deutlich, die für das Zueinander theologischer Orte in der Spätmoderne von entscheidender Bedeutung ist: manquer – permettre – sans pas. Jedem theologischen Ort ‚fehlen‘ (manquent) auf konstitutive Weise alle anderen. Dieses Fehlen ist ein ‚Manko’114, das eine prinzipiell unendliche Serie von neuen Orten ‚gestattet’115 (permet). Diese Orte sind jedoch nicht komplett ungebunden, sondern in der lebendigen Tradition der Kirche auf alle anderen bisherigen und zukünftigen angewiesen. Denn sie können ‚nicht ohne’116 (sans pas) diese anderen Instanzen der Glaubensbezeugung sein. Mit Martin Walser gesprochen: „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.“117 Oder zumindest ohne sein Gegenstück. Theologische Orte sind irreduzibel und zugleich auch inkommensurabel: Man kann sie weder aufeinander zurückführen noch untereinander verrechnen. Aber man kann sie so miteinander verbinden, dass ihre wechselseitige Relativierung Offenbarungsgehalt im Sinne zweier Dogmatischer Konstitutionen der beiden Vatikanischen Konzilien gewinnt: Dei filius (1870) und Dei verbum (1965). Ein nexus mysteriorum inter se (DH 3016) entsteht, dessen Strukturformat spätmodernen Anforderungen gerecht wird:
„Es zeigt sich […], dass die Heilige Überlieferung, die Heilige Schrift und das Lehramt der Kirche […] so miteinander verknüpft [inter se connecti] […] sind, dass sie ohne die jeweils anderen nicht bestehen können [sine aliis non consistant] und dass alle zusammen [omniaque simul] […] einen wirksamen Beitrag zum Heil der Seelen leisten.“ (DV 10)