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7. Christliche Zeitgenossenschaft

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Praktische Theologinnen und Theologen müssen sich entscheiden, ob sie den einen oder den anderen Weg beschreiten möchten, denn an der Spätmoderne scheiden sich die Geister. Folgt man dem zweiten Weg, wird man viele kleine Erfahrungen des Volkes Gottes gegen den Zugriff der großen Systementwürfe in Theologie und Kirche verteidigen müssen. Mit dieser Apologie des Empirischen kann sich das Fach vielleicht sogar vom belächelten Mauerblümchen zu einer neuen Avantgarde der Theologie mausern. Ihre spätmoderne Demonstratio existentialis hat dabei bis an den Anfang der theologischen Moderne zurückzugehen. Diese hat spätestens mit Maurice Blondels Dissertation L’action begonnen, die einem anthropologisch gewendeten Theologieformat religionsphilosophisch jenen Boden bereitete, auf dem auch die Pastoraltheologie heute noch steht: „Alle Pastoraltheologie nach Rahner ist […] Pastoraltheologie in der Spur Rahners.“145 Rahner hat die anthropologische Wende Kants im Bereich der Theologie nachvollzogen. Mit seiner transzendentalen Anthropologie, die die menschliche Existenz als Bedingung der Möglichkeit begreift, zutreffend von Gott zu sprechen, ist die Theologie endgültig in der Moderne angekommen.

Hinter diesen Punkt darf auch die Pastoraltheologie nicht mehr zurückfallen. Sie darf dort aber auch nicht stehen bleiben und nach dem „dogmatischen Schlummer“146 nun in einen „anthropologischen Schlaf“147 fallen. Rahner selbst bietet mit dem mystagogischen Konzept seiner Geheimnistheologie eines anonymen Gottes148 Anhaltspunkte für eine entsprechend ‚postanthropologisch‘ gewendete Theologie der Spätmoderne. Eine solche müsste sich in jedem Fall jener „philosophischen Frage nach der Gegenwart“149 stellen, die Foucault im Ausgang von Kants Text Was ist Aufklärung? als das Grundproblem seines eigenen Denkens bestimmte:

„Dieser kleine Text […] ist eine Reflexion Kants über die Aktualität seines Unternehmens. […] Es scheint mir […] das erste Mal zu sein, dass ein Philosoph auf diese Weise die Bedeutung seines Werkes direkt […] mit einer speziellen Analyse jenes […] Moments verbindet, in dem und dessentwegen er schreibt. Diese Reflexion über das eigene Heute […] scheint mir die eigentliche Neuheit des Textes zu sein. Er zielt […] auf die Umrisse dessen, was man eine Haltung der Moderne nennen könnte. Ich weiß, dass man die Moderne oft als eine Epoche bezeichnet […], der eine […] archaische Vormoderne vorausgeht […] und eine enigmatische […] Postmoderne nachfolgt. […] Mit Blick auf Kants Text frage ich mich, ob man die Moderne nicht eher als eine Haltung […] ansehen kann. Damit meine ich eine bestimmte Weise der Beziehung zur eigenen Aktualität […]. Statt von der Moderne vormoderne oder postmoderne Epochen zu unterscheiden, sollte man […] lieber untersuchen, wie die Haltung der Moderne […] mit den Haltungen der Gegen-Moderne im Kampf liegt.“150

Präziser lässt sich die Aufgabe einer spätmodernen Pastoraltheologie kaum umschreiben. Theologischen Kulturpessimisten von Joseph Ratzinger bis Johann Baptist Metz möchte man mit Foucault zurufen: „Ihr habt nicht das Recht, die Gegenwart zu verachten.“151 Christliche Zeitgenossenschaft in der Spätmoderne führt zu einer Solidarität mit der eigenen Gegenwart, deren ressentimentfreie Haltung – wie im Falle von Gaudium et spes, das positiv bei „Freude und Hoffnung“ ansetzt, ohne zugleich „Trauer und Angst“ (GS 1) zu verschweigen – die Basis auch für eine prophetische Anklage von Missständen der Gegenwart darstellt. Der Löwener Fundamentaltheologe Lieven Boeve bezieht in ähnlicher Weise Stellung gegen die theologische Bewegung Radical orthodoxy, die glaubt, mit dem (vermeintlichen) postmodernen Ende der Moderne auch (vermeintlich) ‚altliberale‘ korrelative Theologien152 eines solidarischen Gegenwartsbezugs verabschieden zu können. Boeve selbst votiert für eine „Rekontextualisierung“153 dieser Theologieformate im Kontext der von ihm Postmoderne genannten Spätmoderne. Diese Position kann sich auf einen kirchenoffiziellen Lehrstandpunkt berufen, der seit dem Konzil höchstamtlich autorisiert ist:

„Die Gläubigen sollen in engster Verbundenheit mit den anderen Menschen ihrer Zeit leben und sich bemühen, ihre Denkweisen […] bis ins Letzte hinein zu verstehen. […] Die theologische Forschung soll sich zugleich um eine tiefe Erkenntnis der offenbarten Wahrheit bemühen und die Verbindung mit der eigenen Zeit nicht vernachlässigen […].“ (GS 62)

Hier lohnt es sich, mit de Certeau noch einmal einen Theologen zu Wort kommen zu lassen, der bereits spätmodern dachte, als alle anderen noch versuchten, überhaupt erst einmal modern zu sein:

„Der Bruch ist eine Konstante der Spiritualität […] Im Wesentlichen ist es vielleicht eine Überraschung, die ihn charakterisiert. Sie […] wächst mit der Kühnheit eines Glaubens, dem Gott zuvorkommt […] und den er durch menschliche Umstände immer wieder neu verunsichert. Diese Kühnheit besteht in dem Willen, […] bis an das Ende der Spannungen und Ambitionen einer bestimmten Zeit zu gehen. […] Der Spirituelle ist ein Reisender, ein Wanderer. […] Sein Gepäck ist nicht üppiger als das seiner Zeitgenossen. Was er […] von ihnen empfängt und was er ihnen zurückgibt […], das begreift er als eine Frage, die sich in jeder Begegnung immer wieder neu stellt, als eine glückliche Wunde im Herzen jeder […] Solidarität […].“154

Das wäre das entscheidende Moment jeder spätmodernen Pastoraltheologie: „bis an das Ende der Spannungen und Ambitionen“155 der eigenen Gegenwart mitzugehen und dabei auf so manche Überraschung gefasst zu sein. Auch der Glaube von Rahners berühmtem Christen der Zukunft, der in der Tat „etwas erfahren“156 haben muss, ist nicht unterhalb eines gewissen Differenzgrades zu haben – wobei der schwer zu fassende Begriff der Erfahrung mit einer genial einfachen Definition Foucaults gedeutet werden kann: „etwas, woraus ich verändert hervorgehe“157. Christliche Erfahrung gibt es heute nur noch als eine vermittelte „Erfahrung mit Erfahrungen“158. Nicht außerhalb oder oberhalb dieser fundamentalen Differenz, sondern nur in ihr und durch sie hindurch lässt sich heute noch glauben. Manchem skeptischen Zeitgenossen bleibt dabei nur Vattimos spätmodern gebrochener „Glaube, zu glauben“159 oder vielleicht sogar nur die ignatianische Sehnsucht nach der Sehnsucht. Und selbst dieser schwache Glaube und noch die vermissende Sehnsucht danach sind in der Spätmoderne nicht mehr ungebrochen möglich. Aus dem Paradies eines differenzfreien, bruchlosen Glaubenkönnens sind wir ein für alle Mal vertrieben. Christinnen und Christen bleibt die ‚notwendige Unmöglichkeit’160 eines existenziellen Einstehens für die Schwäche eines Glaubens, dessen gebrochene ‚crédibilité‘ man in der Nachfolge Christi unvertretbar bezeugen muss: Willkommen in der Spätmoderne!

Praktische Theologie in der Spätmoderne

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