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Kai Focke:
Eine Führung durch die Phantastische Bibliothek Wetzlar

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Mit großen Augen folgte die zehnköpfige Besuchergruppe Thomas Le Blanc durch die mit über dreihunderttausend Büchern gefüllten Räume des ehemaligen Hessischen Staatsbauamts. Thomas Le Blanc war sowohl Gründer als auch Leiter der 1989 eröffneten Phantastischen Bibliothek Wetzlar, der mittlerweile größten und in ihrer Vollständigkeit einzigartigen Sammlung deutschsprachiger phantastischer Literatur.

Die Führung hatte in der Kinder- und Jugendbuchabteilung begonnen. In den liebevoll mit Kuscheltieren und Spielfiguren dekorierten Zimmern waren die Bücher jedoch nicht nach Autoren, sondern thematisch geordnet.

»Unseren kleinen Leseratten ist es egal, wer etwas geschrieben hat, sie suchen gezielt nach ihren Interessengebieten«, begründete Thomas Le Blanc die ungewöhnliche Systematik. »Daher haben wir die Bücher nach Drachen-, Ritter-, Feen- oder Tiergeschichten sortiert.«

Nachdem die Gruppe erfahren hatte, dass sich das Bibliotheksteam auch aktiv in der Sozialarbeit engagiert und beispielsweise Lesepaten ausbildet, gelangte sie über eine breite Steintreppe ins erste Untergeschoss. Das Herzstück bildete der bereits unzählige Male fotografierte Büchergang, ein breiter, auf beiden Seiten von Regalreihen gesäumten Korridor. Auf dieser Ebene befanden sich weiterhin das, um ein Himmelbett herum aufgebaute Märchenzimmer, Areale mit Werken der High-Fantasy und der traditionellen Phantastik, ein überschaubares, jedoch stetig wachsendes Steampunk-Archiv sowie eine Sammlung klassischer Sagen und Legenden aus unterschiedlichen Kulturkreisen. Die Besucher zeigten sich beeindruckt, aber auch erstaunt über einen großzügigen, mit Schreibtischen und Flipcharts ausgestatteten Arbeitsbereich.

»Die Phantastische Bibliothek wird nicht nur von fantasiebegeisterten Bücherwürmern besucht, sondern auch von Studenten, Doktoren und Professoren«, hob Thomas Le Blanc nicht ohne Stolz hervor. »Beispielsweise untersuchen Germanisten das Schriftgut mithilfe literaturwissenschaftlicher Methoden, Soziologen betrachten die Abhandlungen in Romanen oder Heftreihen im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen und Zukunftsforscher versuchen, sowohl Trends als auch Ideen aus den Werken der Science-Fiction herauszulesen. Letzteres konkretisiert sich in der Sektion Future Life, die in Zusammenarbeit mit Unternehmen, Verbänden und Hochschulen hilft, innovative Produkte zu entwickeln sowie Studien veröffentlicht.«

»Zukunftsforschung: Das ist doch Spinnerei!«, warf eine Besucherin kritisch ein.

»Eben haben Sie den Büchergang mit Ihrem Smartphone fotografiert«, stellte Thomas Le Blanc spitzbübisch fest. »Die Entwicklung der Mobiltelefone, die Vorgänger Ihres Smartphones, wurden nicht zuletzt von den Tricordern in Raumschiff Enterprise inspiriert, einer Fernsehserie aus den 1960er-Jahren. Dies ist nur ein Beispiel von vielen: Science-Fiction bringt uns die Zukunft näher.«

Das zweite Untergeschoss beherbergte sämtliche seit 1961 wöchentlich erscheinenden Perry-Rhodan-Hefte – in allen fünf Auflagen – sowie die gebundenen Ausgaben, eine fünfundvierzig bibliothekarische Regalmeter umfassende Bücherwand voller Star-Trek-Romane sowie zwei von Kunststoffspinnen und Plüschfledermäusen bewachte Räume mit Horrorliteratur. Ein vollständig aus Perry-Rhodan-Sammelbänden gefertigter Thronsessel lud zum Verweilen ein und erfreute sich als Hintergrund für Erinnerungsfotos großer Beliebtheit.

Auf dem Rückweg ins Erdgeschoss lag die Toilettenanlage der Bibliothek. Verwundert stellten die Besucher fest, dass es statt zwei insgesamt drei Toilettentüren gab, wobei die dritte Tür nicht etwa ein Transgendersymbol zierte, sondern ein großes A mit dem Schriftzug Aliens.

»Das ist unsere Alientoilette«, erklärte Thomas Le Blanc, »zu der es eine amüsante Geschichte gibt. 2018 wurde ein in Wetzlar anberaumter Parteitag einer rechtsextremen Partei verboten. Da man gewalttätige Demonstrationen beider Seiten des politischen Spektrums erwartete, waren umfangreiche Polizeikräfte im Einsatz. Die auf offener Straße ihren Dienst verrichtenden Ordnungshüter sahen sich nach mehreren Stunden verständlicherweise mit einem uns allen gut bekannten Bedürfnis konfrontiert. Sie baten daher, die Toilettenanlage der Phantastischen Bibliothek benutzen zu dürfen. Aufgrund des Andrangs an Uniformierten fragten sie schließlich nach, ob man – neben der Herren- und Damentoilette – auch den Abort für Außerirdische öffnen könnte.« Nach einer kurzen Pause fuhr Thomas Le Blanc schmunzelnd fort: »Wir mussten an uns halten, um nicht in Gelächter auszubrechen. Die Alientoilette ist natürlich nur ein Spaß. Tatsächlich befindet sich hinter der Tür ein ordinärer Putzraum.«

Die Besucher lachten und ein älterer Herr mit Sakko und Krawatte meldete sich zu Wort: »Eine schöne Anekdote! Existieren noch weitere Geschichten oder Mythen?«

»Sicher«, bejahte Thomas Le Blanc. »Es wird gemunkelt, dass unsere Bibliothek in Vollmondnächten von Aliens und Fabelwesen besucht wird. Buchwichtel, bibliophile Verwandte der Heinzelmännchen, die nachts unsere Räume säubern und die Bestände sortieren, überwachen dann die Ausleihe. Warum sollten sich junge Drachen oder Aliens nicht auch für die Abenteuer der Zauberschüler von Hogwarts interessieren?«, fügte er mit einem vieldeutigen Augenzwinkern hinzu.

Der Krawattenträger lächelte versonnen. Ihm war anzusehen, dass er sich gerade vorstellte, wie ein Marsmännchen den Standort der Harry Potter-Romane bei einem Buchwichtel erfragte …

»Lassen Sie uns zum Abschluss der Führung den Konferenz- und Raritätenraum besichtigen«, forderte Thomas Le Blanc zum Weitergehen auf. »Dort verwahren wir einzigartige Schätze der deutschen Science-Fiction, darunter auch Zukunftsliteratur aus den Zeiten der Weimarer Republik.« Erwartungsvoll setzte sich die Gruppe wieder in Bewegung.

Stunden verstrichen, der Vollmond erklomm den Nachthimmel und die Phantastische Bibliothek öffnete erneut ihre Pforten.

»… und dazu noch Nebenan von Bernhard Hennen«, wisperte Schavart, während er den Titel auf der Leihkarte vermerkte.

Mit einem dankbaren Nicken nahm die Angesprochene den Bücherstapel entgegen und gab den zuvor entliehenen Toilettenschlüssel zurück.

»Ich habe gehört, dass sich hinter den beiden anderen Türen in Wirklichkeit Putzräume befinden würden. Stimmt das?«

»Möglicherweise. Es gibt hier viele Bücher und noch mehr Gerüchte«, hauchte Schavart grinsend. »So heißt es, die Menschen würden unsere Bestände als Phantastik bezeichnen. Dabei handelt es sich doch offensichtlich um Sach- und Gegenwartsliteratur.«

Mit einem vieldeutigen Augenzwinkern verabschiedete der greise Buchwichtel die junge Marsianerin.

Die Phantastische Bibliothek (www.phantastik.eu) befindet sich in der Turmstraße 20 in Wetzlar und heißt – während der Öffnungszeiten – Interessierte jeden Alters herzlich willkommen. Sollten Sie, liebe Leserinnen und Leser, an einer Führung teilnehmen, dann verraten Sie bitte nicht das Geheimnis der Alientoilettentür …

PHANTASTISCH! PHANTASTISCH!

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