Читать книгу Zugänge zur Literaturtheorie. 17 Modellanalysen zu E.T.A. Hoffmanns "Der Sandmann" - Группа авторов - Страница 12
Warum muss man literarische Texte überhaupt interpretieren?
ОглавлениеIm Grunde genommen geht dieser Band auf eigene Erfahrungen im schulischen Literaturunterricht zurück. Textanalyse war nicht dazu angetan, uns Schüler und Schülerinnen wirklich zu fesseln, und schnell bekamen wir den Eindruck, es ginge nicht wirklich um den Text, sondern vielmehr darum, herauszubekommen, was der Lehrer oder die Lehrerin hören wollte. So kam uns die Frage in den Sinn, warum wir denn überhaupt Texte interpretieren sollten. Auch um zu provozieren, behaupteten wir, ein Text oder – in anderer Sprechweise – ein Autor oder eine Autorin, die nicht in der Lage seien, selbst zu sagen, was sie sagen wollten, denen könne man dies auch nicht mit einer Interpretation nachliefern. Was wir dabei aber übersahen, war, dass es ein generelles Interesse von Leserinnen und Lesern nicht nur an literarischen Texten gibt, sondern auch an deren Interpretationen, was man beispielsweise bei Autorenlesungen zu spüren bekommt. Wird dann in einem solchen Rahmen bisweilen sehr häufig nach den autobiographischen Grundlagen von Texten gefragt, so zeigt dies nur, dass man hofft, in der Biographie des Autors oder der Autorin dasjenige zu finden, was uns hilft, die Bedeutung des Textes irgendwie herauszufinden.
Tatsächlich war aber unsere Provokation gar nicht so weit hergeholt, auch wenn sie auf einem fundamentalen Missverständnis beruhte. Man muss etwa nur umgekehrt fragen, was man über den Begriff des literarischen Textes erfährt, wenn man von seiner Interpretationsbedürftigkeit als Strukturgesetz literarischer TexteInterpretationsbedürftigkeit ausgeht. Noch bevor man eine Antwort auf diese Frage findet, wird man wohl vermuten dürfen, dass diese Antwort etwas Grundlegendes über den literarischen Text selbst aussagt. Was uns Leserinnen und Leser also dazu bringt, nach der Möglichkeit zu fragen, wie wir einen literarischen Text zu verstehen haben, welche Bedeutung ein literarischer Text hat, welche Bedeutung wir ihm zuschreiben können, kurz: wie wir ihn zu interpretieren haben – das muss ein wesentliches Kennzeichnen jener Texte sein, die wir als ›literarische Texte‹ bezeichnen. In den Texten muss also ein Potential verborgen liegen, das uns dazu bringt, ihn verstehen, ihm Bedeutung zuschreiben zu wollen, die wesentlich über das hinausgeht, was wir gerade gelesen haben. Literarische Texte muss man also deswegen interpretieren, weil sie ihre Bedeutung nicht in sich tragen, sondern erst in einem Akt der Interpretation konstituieren. Deswegen sind sie literarische Texte! Das ist ihr Wesenskern und ihr Strukturgesetz.
In anderen Kommunikationsformen und Textsorten im Alltag (z. B. bei Gebrauchsanweisungen) gilt dies dann nicht, wenn sie gut geschrieben sind: Hier fallen idealerweise Text und Interpretation zusammen. Jeder literarische Text aber wäre somit immer schon über sich hinaus eine Quelle fortgesetzter Auseinandersetzungen, die sich ihrerseits in Gesprächen (Gesprächen über Literatur) oder in weiteren Texten äußern können. Solche Folgetexte können beispielsweise die Funktion haben, literarische Texte an Leserinnen und Leser weiterzuvermitteln (Literaturkritik als Medium der LiteraturvermittlungLiteraturkritik als Medium der Literaturvermittlung) oder aber auf wissenschaftliche Weise Zugänge zum Text selbst zu schaffen (Literaturanalyse als Methode der LiteraturwissenschaftLiteraturanalyse als Methode der Literaturwissenschaft), die in diesem Text eben noch nicht offen zutage liegen, weil solche Texte eben gerade nicht mit ihrer eigenen Interpretation zusammenfallen.