Читать книгу Zugänge zur Literaturtheorie. 17 Modellanalysen zu E.T.A. Hoffmanns "Der Sandmann" - Группа авторов - Страница 20

II Zwischen brieflicher Narration und heterodiegetischem Erzähler

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Eine der auffälligsten formalen Besonderheiten des Sandmanns besteht in seiner Kombination unterschiedlicher Erzählformen. Der Text beginnt – ohne jede Vorrede – mit der Präsentation dreier Briefe, die die Vorgeschichte sowie die Exposition der nachfolgenden Handlung darlegen. Hoffmann bedient sich mit diesem Beginn der seit Richardsons Clarissa, Rousseaus Nouvelle Héloїse und Goethes Werther europaweit ebenso beliebten wie produktiven Brieferzählung bzw. des Briefromans, der die Handlung aus der Sicht einer oder mehrerer Briefschreiber entfaltet. Der ästhetische Vorzug und Grund der Beliebtheit dieser Erzählform besteht in der erlebten Nähe zu den Figuren, weil sich im Brief nicht nur die sprachlich-reflektierte Subjektivität, sondern auch die emotive Individualität des Schreibers direkt umsetzen lässt. Mit dem Beginn einer Briefreihe befindet sich der Leser mitten im Bewusstsein, medium in personam der Protagonisten einer Erzählung (vgl. Miller 1968, 135–214), und so auch bei Hoffmann: Der erste Brief der Erzählung stammt von Nathanael, der zentralen Figur des Sandmanns, der nicht nur den Grund seines Schreibens mit dem Eintreten eines »Entsetzliche[n] […] in mein Leben« (9/[3]) angibt, sondern auch die hierfür konstitutive Vorgeschichte aufgewühlt schildert.

Dabei enthält dieser Brief nicht nur die entscheidenden Informationen über Vergangenheit und Gegenwart des Schreibers; er liefert zugleich ein Charakterbild Nathanaels durch die Rhetorik seiner Sprachfügungen und den Stil seines brieflichen Schreibens. So präsentiert sich dem Leser ein durch den gewaltsamen Tod des Vaters und dessen für den Briefschreiber nicht vollends durchsichtige Vor- und Verursachungsgeschichte schwer traumatisierter junger Mann, der davon überzeugt ist, dass »ein dunkles Verhängnis wirklich einen trüben Wolkenschleier über mein Leben gehängt hat« (14/[10]).

Den Grund für diese Überzeugung entfaltet der Briefschreiber selbst durch den Bericht seiner Kindheitsgeschichte, die zum einen geprägt wurde durch liebevolle harmonische Familiarität, die aber zum anderen durchbrochen wurde durch des Vaters Leidenschaft für Alchemie. Deren heimliche Ausübungen unter der Ägide eines »Meisters« machten viele Familienabende zu bedrückenden Ereignissen. Nicht nur erweist sich dieser Alchemist, dem sich der Vater bedingungslos unterwirft, lange Zeit als unerkannte Figur, die durch unbedachte Erzählungen der Mutter und der Amme vom Kind mit einem »Sandmann« identifiziert wird, der Kindern die Augen stiehlt, um seine Jungen zu ernähren. Auch erweist sich der tatsächliche Alchemist nicht als Sandmann, sondern als herrschsüchtiger Kinderquäler. Als Nathanael, seinen Ängsten und seiner Neugier nachgehend, die alchemistischen Versuche der beiden Männer heimlich beobachtet, wird er entdeckt und vom Coppelius, so der Name des Alchemisten, derart misshandelt, dass er in ein wochenlanges Fieber verfällt. Nathanael beendet seinen Bericht mit der Schilderung des durch einen misslungenen alchemistischen Versuch bewirkten Todes des Vaters, der die Familie endgültig zerstört, während »Meister« Coppelius sich seiner nachweislichen Schuld durch Flucht entzieht.

All dies kommt dem Studenten Nathanael wieder ins Bewusstsein, weil er glaubt, jenem Coppelius in der Gestalt des Wetterglashändlers Coppola in seiner Universitätsstadt erneut begegnet zu sein: Dies erklärt seinen aufgewühlten Zustand und motiviert das Schreiben des Briefes, in dem er diesen Zustand wiederzugeben versucht.

Nathanael erweist sich in diesem Brief als ein sprachlich eloquenter Jüngling, der an die Existenz Böses bewirkender, metaphysischer Kräfte glaubt, denen er sich rettungslos ausgeliefert sieht. Gleichwohl – und das macht einen entscheidenden Grund für den hochemotionalen Zustand des Briefschreibers aus – sieht er die Gelegenheit gekommen, »des Vaters Tod zu rächen« (15/[12]).

Auch der zweite Brief leistet diese zweifache Darstellungsdimension: Er stammt von Clara, der Verlobten, die auf den Brief Nathanaels zu antworten sucht. Diese Antwort ist ihr aber nur deshalb möglich, weil der Brief ihres geliebten Nathanael – obwohl für ihren Bruder verfasst – vom Schreiber irrtümlicherweise an sie adressiert wurde. Clara nutzt die Gelegenheit, um in einem ebenfalls persönlichen und emotionalen Brief ihren Verlobten davon zu überzeugen, dass jene metaphysischen Mächte, an die er glaubt und von denen er sich beherrscht sieht, lediglich innerpsychische Wirkmächte seien. Nathanaels Glauben an die Objektivität des Wunderbaren, also metaphysischer Mächte, die den Gesetzen der Natur und der Vernunft widersprechen, weil sie sie übersteigen, setzt Clara das Wissen um die Subjektivität jener Erscheinungen entgegen, deren innerpsychische Realität sie keineswegs bestreitet:

»Gerade heraus will ich es dir nur gestehen, dass, wie ich meine, alles Entsetzliche und Schreckliche, wovon du sprichst, nur in deinem Innern vorging, die wahre wirkliche Außenwelt aber daran wohl wenig teilhatte.« (16/[13])

Doch Clara geht in ihrem Brief noch weiter: Sie erklärt ihrem Verlobten nicht nur die allzu wahrscheinlichen Gründe für das Auftreten seiner Glaubensüberzeugungen: die unglückliche Kombination von »Ammenmärchen« über den Sandmann, »dem alten Coppelius« und dem »unheimliche[n] Treiben mit deinem Vater« sowie dessen »trügerische[m] Drange nach hoher Weisheit«, durch den »viel Geld unnütz verschleudert« wurde (16/[13 f.]). Clara liefert mithin so etwas wie eine spätestens seit David Hume (1711–1776) in Europa diskutierte Psychopathologie des religiösen Glaubens.

Darüber hinaus macht sie ihrem Adressaten unmissverständlich klar, dass jeder selbst es ist, der unglückliche Einflüsse zu einer dunklen Macht stilisiert und dass der Einzelne daher frei ist, sich ihr zu unterwerfen oder sich von ihr zu lösen:

»Ich bitte dich, schlage dir den hässlichen Advokaten Coppelius und den Wetterglasmann Giuseppe Coppola ganz aus dem Sinn. Sei überzeugt, dass diese fremden Gestalten nichts über dich vermögen; nur der Glaube an ihre feindliche Gewalt kann sie dir in der Tat feindlich machen.« (17/[15])

Selbst mögliche Einwände ihres an das »Unheimliche« als Ordnungsmacht des Lebens glaubenden Verlobten vermag sie vorwegzunehmen. Dem Vorwurf, sie habe ein »kaltes« – also vernünftiges – »Gemüt«, entgegnet sie entschieden: Auch heitere, unbefangene Charaktere wie sie hätten durchaus eine »Ahnung […] von einer dunklen Macht, die feindlich uns in unserm eignen Selbst zu verderben« (16/[14]) drohe. Clara weist damit also mit Nachdruck den romantischen Vorwurf an die Begrenztheiten aufklärerischer Rationalität zurück.

Der weitere Verlauf der Erzählung wird deutlich machen, dass Clara mit vielen Momenten ihrer sachlich genauen und sprachlich klaren Analyse richtig liegt, dass sie also verstanden hat, dass, warum und woran Nathanael leidet. Diese pathographische Perspektive auf Nathanaels Psyche wird durch den weiteren Verlauf der Handlung bestätigt. Gleichwohl überschätzt Clara aber die Leistungsfähigkeit ihrer epistolaren »Aufklärung«, die in der schlichten Aufforderung zur heiteren Vernünftigkeit ihre praktische Seite hat. Zu Recht hält ein Interpret fest, dass ihre zutreffende »Diagnose […] noch keine Therapie« (Saße 2004, 99) sei. Clara ist also nicht, wie ihr Nathanael in seinem zweiten Brief und einige Zeitgenossen vorwerfen, zu vernünftig, mithin »kalt, gefühllos, prosaisch« (21/[21]). Vielmehr mangelt es ihr an einem angemessenen Verständnis zum therapeutischen Umgang mit der Krankheit ihres Verlobten, sie ist also nicht vernünftig genug, was für sie beinahe tödliche Folgen haben wird.

Nach diesem Entree in die Erzählung mit Hilfe dreier Briefe der beiden Protagonisten, die dem Leser sowohl den Charakter Nathanaels als auch denjenigen Claras anschaulich vorführen und dabei die entscheidenden Ereignisvoraussetzungen aus der Sicht der beiden Figuren entfalten, setzt ein außerhalb der Erzählung stehender, heterodiegetischer Erzähler die weitere Narration fort. Allerdings wird dieser erzähltechnisch ungewöhnliche Sachverhalt vom Erzähler selbst kommentiert, und zwar dadurch, dass er die Gründe für den Einsatz der Erzählung mit den Briefen der Protagonisten selbst angibt. In einer launigen, von ironischen Distanzierungssignalen geprägten Weise, die an die reflektierenden Erzähler Henry Fieldings (1707–1754) und Christoph Martin Wielands (1733–1813) erinnert, wird über die Schwierigkeit des Erzählens von Sachverhalten berichtet, die die Psyche eines Erzählers in besonderer Weise angehen und beherrschen. Zwar sei er von niemandem gebeten worden, doch empfinde er ein tiefes Verlangen, »von Nathanaels verhängnisvollem Leben zu dir [d. i. dem Leser] zu sprechen« (19/[18]). Weil er aber aufgrund seiner starken emotionalen Beteiligung keinen passenden Anfang gefunden habe, habe er beschlossen, »gar nicht anzufangen« (20/[19]) und mit den schon präsentierten Briefen seiner Figuren einzusetzen.

Erkennbar spielt der Erzähler hier ein doppeltes Spiel:5 Sein Bekenntnis zu einer begrenzten Leistungsfähigkeit in der Erzählung aufwühlender Sachverhalte lässt allererst die sprachliche Meisterschaft Nathanaels deutlich erkennen; das intersubjektive Desinteresse – niemand hat gefragt – an der nachfolgenden Geschichte erhöht die Neugierde des Lesers auf eine Begebenheit, die dem Erzähler so nahegeht, dass er sie kaum zu berichten vermag und zum – angeblich authentischen – Brief als Hilfsinstrument greift. Hoffmann spielt also – wie das Gros der Briefromane im 18. Jahrhundert – mit einer Authentizitätsfiktion (vgl. Anton 1995).

Darüber hinaus legitimiert er den epistolarischen Beginn und dessen abruptes Ende im Übergang zu einer Erzählweise, die zuvor die Briefform ausschloss (vgl. Picard 1971, S. 19 f.). Nur an dieser Scharnierstelle zwischen Brieferzählung und dem Auftritt des heterodiegetischen Erzählers tritt dieser sich selbst kommentierend auf, um den Bruch mit den Konventionen des Erzählens mit »Nathanaels verhängnisvollem Leben« (19/[18]) zu verknüpfen. Das Unverfügbare des Unheimlichen bedient sich der Verbindung des Unvermittelbaren: Briefform und starker Erzähler. Unter formalen Gesichtspunkten kann man die Erzählung folglich in drei Teile gliedern: 1. die drei Briefe; 2. die sich selbst kommentierende Erzählerreflexion und 3. den weiteren Bericht der Geschichte Nathanaels durch den Erzähler.

Zugänge zur Literaturtheorie. 17 Modellanalysen zu E.T.A. Hoffmanns

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