Читать книгу Zugänge zur Literaturtheorie. 17 Modellanalysen zu E.T.A. Hoffmanns "Der Sandmann" - Группа авторов - Страница 23

V Claras Verblendung und die Grenzen des Verstehens

Оглавление

Doch ist mit dieser erneuten Zerrüttung der Psyche des Protagonisten noch immer nicht das Ende der Erzählung von »Nathanaels verhängnisvollem Leben« erreicht. Auch aus dieser geistigen Umnachtung erwacht er erneut, diesmal gepflegt und umhegt von seiner Familie. Selbst Clara hat ihm alle Eskapaden verziehen und hofft nach erhaltener Erbschaft, die ein geruhsames Leben auf dem Lande verspricht, auf ein gemeinsames Leben mit Nathanael, denn: »Jede Spur des Wahnsinns war verschwunden« (34/[40]).

Bereits ein gemeinsamer Abschiedsbesuch auf dem Ratsturm der Heimatstadt zerstört aber diese Illusion und beweist, dass sowohl Clara als auch alle anderen Nathanael umgebenden Personen seine Krankheit eigentlich nie verstanden haben. Schon der erneut zufällige Griff nach Coppolas Perspektiv, das sich noch immer in seiner Jackentasche befindet, und ein Blick hindurch auf Clara vitalisiert nämlich den zerrütteten Teil seiner Psyche und lässt diesen zur Lebensgefahr für Clara werden:

»Da zuckte es krampfhaft in seinen Pulsen und Adern – totenbleich starrte er Clara an, aber bald glühten und sprühten Feuerströme durch die rollenden Augen, grässlich brüllte er auf, wie ein gehetztes Tier; dann sprang er hoch in die Lüfte und grausig dazwischen lachend schrie er in schneidendem Ton: ›Holzpüppchen dreh dich – Holzpüppchen dreh dich‹ – und mit gewaltiger Kraft fasste er Clara und wollte sie herabschleudern […].« (35/[41])

Erneut ist es also das Fernglas Coppolas, das eine deviante, jetzt manifest pathologische Wahrnehmung und Handlung in Gang setzt. Die Erinnerung an die verzerrte Perspektive des Fernglases aktiviert die substantielle Verzerrung der Psyche (Freud 2010, 199). Nur dem beherzten Eingreifen Lothars ist es zu verdanken, dass Clara gerettet wird und Nathanael sich durch einen Sprung in den Tod seiner Qualen entledigt. Ohne Zweifel hat nicht nur Clara, sondern haben auch ihr Bruder und Nathanaels Mutter die Zeichen der nur scheinbaren Heilung des gefährlich Kranken verkannt. Erkennbar inszeniert Hoffmann dieses Unverständnis als Produkt ihrer Sehnsüchte nach der Gesundheit des von ihnen geliebten Sohnes, Mannes und Bruders. Dabei wird nicht das Scheitern der Aufklärung schlechthin inszeniert, sondern die Grenzen des Verständnisses für das pathologisch Andere der Vernunft, das sich allerdings des Scheins der Vernünftigkeit bedienen kann, und deren (lebensbedrohliche) Gefahren für die Missverstehenden.

Dieses semantische und systematische Allgemeine zeigt Hoffmann auch an zwei auffälligen und häufig interpretierten einzelnen Motiven: Im Rahmen des Streites zwischen Spalanzani und Coppola, den Nathanael beobachtet, nennt Spalanzani den Konkurrenten doch tatsächlich »Coppelius« (32/[37]), und schon vorher meint der hinzukommende Nathanael, »des […] Coppelius Stimme« vernommen zu haben. Damit würden die zu Beginn brieflich geäußerten Ängste des Traumatisierten Bestätigung finden.

Spalanzani wechselt aber auch wieder zum Gebrauch des Namens Coppola zurück, so dass der Leser nicht vollends entscheiden kann, ob der zutiefst aufgewühlte Nathanael diesen gefürchteten Namen bloß zu hören meinte oder ob der Erzähler ihn tatsächlich selbst verwendet hat: Es bleibt bis zum Schluss der Erzählung ungeklärt, ob die beiden Namen eine oder zwei Personen bezeichnen, so dass auf der Ebene der gesamten Erzählung die angstbesetzte Unsicherheit des Protagonisten reproduziert wird. Die Logik der kranken Seele produziert eben keine semantische Nichtigkeit, also Unsinn, sondern durchaus wahrscheinliche Annahmen, die die Gefahren, die in ihr schlummern, allererst sichtbar werden lassen. Nathanaels Angst vor dem alchemistischen Kinderquäler bleibt bis zum Schluss legitim und daher seine Befürchtung in Bezug auf die prägende Rolle dieser Figur für sein Verhängnis zumindest nachvollziehbar. Es geht Hoffmann also anscheinend nicht um die Objektivität des Glaubens an böse Mächte, es geht ihm um die Gründe für die subjektive Überzeugungskraft solcher Annahmen. Und für diese Absicht – und nicht um sich einem Verständnis abstrakt zu entziehen – wird die Unsicherheit des Protagonisten auf der Ebene der Erzählung wiederholt.

Ähnliches gilt für das zentrale Motiv der Augen, das in unterschiedlichen Varianten und Bedeutungen die Erzählung prägt.11 Als zentrales Organ der Licht in die Welt bringenden Aufklärung ist das Auge von Beginn an für Nathanael gefährdet, insbesondere in der Szene der Entdeckung während des alchemistischen Versuches, in der der Vater seinen Sohn scheinbar vor der Blendung durch Coppelius rettet. Als ›Spiegel der Seele‹, in dem sich beispielsweise die untadelige moralische Gesinnung Claras dokumentiert, ist dieses Organ zugleich das am schwierigsten technisch zu reproduzierende, weshalb Spalanzani auf die Künste Coppolas angewiesen ist und bleibt. Nur durch die Verzerrungen des Ferne nahbringenden Perspektivs zeigen sich für den liebestollen Nathanael die Leidenschaften der toten Puppe Olimpia. In den verschiedenen Formen und Funktionen der Augen spiegelt sich damit letztlich das zentrale Thema der Unvermittelbarkeit von Glauben und Wissen. Denn nur von der augen- und seelenlosen Olimpia fühlt sich der Romantiker Nathanael »ganz verstanden« (31/[36]).

Die vorstehende Interpretation hat versucht, aus den spezifisch literarischen Elementen und Momenten der Hoffmann’schen Erzählung wie u. a. der Gattungsmischung, der Figurenkonstellation und des Plots eine Deutung des impliziten Bedeutungsganzen zu ermitteln. Durch eine dem Text angemessene Kombination des Verstehens offensichtlicher und des Interpretierens zunächst undeutlicher Passagen und Elemente wurde versucht, eine dem Text innewohnende Bedeutungskohärenz zu rekonstruieren. Durch die Berücksichtigung eines spezifischen historischen Kontextes, nämlich des umstrittenen Verhältnisses von Glauben und Wissen, wurde es möglich, den Grund für das von Hoffmann bewusst hergestellte Unbestimmbare, Geheimnisvolle zu ermitteln: Hoffmann gestaltet dieses Thema als einen unlösbaren, tödlichen Konflikt, der auf den Gefahren beider ins Extrem getriebenen Positionen, der Aufklärung wie der Romantik, basiert.

Als ein allgemeines Verfahren zur Behandlung von literarischen Texten ist diese Art von analytischer und kontextualisierender Hermeneutik jeder Methodik zugrunde zu legen.

Zugänge zur Literaturtheorie. 17 Modellanalysen zu E.T.A. Hoffmanns

Подняться наверх