Читать книгу Zugänge zur Literaturtheorie. 17 Modellanalysen zu E.T.A. Hoffmanns "Der Sandmann" - Группа авторов - Страница 27
III Vorgehensweise und zentrale Begrifflichkeiten
ОглавлениеDa ein Text zentraler Faktor ästhetischer Kommunikation ist und dessen Semantik über die möglichen Verfahren, deren sich ein Text bedienen kann, erzeugt wird, steht im Fokus von Strukturalismus/Literatursemiotik der (literarische) Text selbst, nicht aber seine Produktion oder seine Rezeption. Genau dieses eigene System eines Textes zu rekonstruieren, ist Ausgangspunkt struktural-semiotischer Vorgehensweise:
1. Es gilt, den Text in seiner Verfasstheit ernst zu nehmen und diese Verfasstheit und sämtliche Textphänomene möglichst präzise zu beschreiben. Als Grundzugang dient hierzu die Unterscheidung von Discours und Histoire, die in jedem Text zu treffen ist. Der Discours bezieht sich auf die konkret vorliegenden Zeichen in ihrer konkret gegebenen Anordnung, wie sie sich im jeweiligen Medium aufgrund dessen Medialität konstituieren. Das ist für Literatur primär die Schrift, ist aber natürlich nicht auf sie beschränkt und kann je nach Gattung unterschiedlich ausgeprägt sein. Die Histoire bezieht sich auf die Semantiken (Propositionen und Signifikate), auf die die Daten des Discours als Signifikanten verweisen; sie stellt also eine Textdimension dar, die nicht konkret auf der empirisch wahrnehmbaren Oberfläche gegeben ist, sondern die es in einem Akt der Abstraktion und Interpretation zu gewinnen gilt.
Dies kann auf paradigmatische oder syntagmatische Weise geschehen. Paradigmatisches Vorgehen löst sich von der Anordnung des Discours und sucht unabhängig hiervon nach semantischen Gemeinsamkeiten, syntagmatisches Vorgehen folgt dem Discours selbst und versucht, die Bedeutung zu eruieren, die dieser Abfolge zugrunde liegt.
2. Auch wenn die Unterscheidung zwischen Discours und Histoire eine traditionelle (formal vs. inhaltlich) aufzugreifen scheint, artikuliert sich hier eine wesentliche, letztlich namensgebende Grundvorstellung des Strukturalismus. Denn Form und Inhalt stehen sich nicht diametral einander gegenüber, sondern bedingen sich als Struktur: Die konkrete formale Gestaltung eines Textes wird zum Träger der Textsemantik funktionalisiert. Strukturalismus/Literatursemiotik bedienen sich dabei durchaus klassischer, traditioneller Beschreibungsinventare, bauen auf ihnen auf oder modifizieren sie, wie etwa das in der Rhetorik bereitgestellte Arsenal an Tropen (Metapher, Metonymie, Synekdoche) und rhetorischen Figuren zur Beschreibung uneigentlicher Sprachverwendung oder der Metrik zur Darstellung von Segmentierungs- und Rhythmisierungsphänomenen. Dies ist aber kein Selbstzweck, sondern bildet die Basis einer darauf aufbauenden Signifikation (Bedeutungszuweisung), auf die hin solche Beschreibungen ausgerichtet sind: Was bedeutet es, dass genau so gesprochen wird, wie gesprochen wird, dass genau so gegliedert ist, wie gegliedert ist, dass genau so erzählt wird, wie erzählt wird etc.?
3. Prägend für die Vorgehensweise ist grundlegend die Vorstellung einer (Aus-)Wahl, einer Selektion der gegebenen Daten aus dem Pool an möglichen Daten. Kein Text als semiotisches, artifizielles Konstrukt muss so sein, wie er ist. Er könnte bezüglich der kulturell jeweils überhaupt zur Verfügung stehenden Alternativen auch anders sein, sprachlich oder in dem, was er darstellt, oder in dem, was er ausblendet. Da nichts in einem Text selbstverständlich (oder gar natürlich) ist, kann auch alles relevant sein und zur spezifischen Bedeutung eines Textes beitragen. Damit kommt auch denjenigen Textdimensionen besondere Bedeutung zu, die zu den Grundlagen von Texten und Kommunikation gehören und deshalb scheinbar notwendig sind. Dazu gehören das Figurenensemble, die räumliche Organisation und zeitliche Situierung, dazu gehören in narrativen Texten aber auch die Handlung und ihr Verlauf. Auch und insbesondere gehört hier die Sprech-/Erzählsituation eines Textes dazu, der Strukturalismus/Literatursemiotik besonderes Augenmerk schenken. Denn die Daten zur Kommunikationssituation in einem Text – wer wem was wann wo wie warum berichtet – sind nicht mit denen der tatsächlichen Textproduktion zu identifizieren, sondern sind von dieser abgekoppelt. Diese textinterne Pragmatik hat wesentlichen Anteil an der Bedeutungsgenerierung und ist letztlich eine Textdimension, an der sich das Merkmal modellbildend augenscheinlich manifestiert.
4. Da die Zeichen eines Textes nicht in der Beziehung zueinander stehen müssen, wie vom benutzten primären Sprachsystem vorgegeben, bedienen sich Strukturalismus/Literatursemiotik der Beschreibung über semantische Relationen, mit deren Hilfe sie die Textkonzepte zu fassen versuchen, um die Grundordnungen eines Textes zu erkennen. Werden Zeichen im Text in Beziehung gesetzt, obwohl sie dies nicht sein müssten, sind sie also korreliert? Werden sie als gleich behandelt, obwohl es durchaus Unterschiede gäbe, sind sie also äquivalent gesetzt? Schließen sie einander im Text aus und negieren sich damit implizit, auch wenn dies durch das Sprachsystem nicht vorgegeben ist, werden sie also als oppositionell gesetzt?
Über diese Relationen wird versucht, die Paradigmen (Leitdifferenzen, Isotopien) eines Textes wie deren Relevanz zu identifizieren. Ordnungsstiftend ist hierbei zudem die Relation der Homologie, die als zentrales deskriptives wie argumentatives Mittel fungiert, indem sie Zusammenhänge unterschiedlicher Textbereiche etabliert und diese in einen Gesamtzusammenhang bringt.
Aufbauend darauf versucht das Konzept der semantischen Räume, die jeweilige Ordnung des Textes zu rekonstruieren. Eine solche modellbildende Ordnung reduziert natürlich immer die Komplexität des Textes. Dies ist aber mit ihrem Erkenntnisgewinn zu rechtfertigen und immer hinsichtlich ihrer Tragfähigkeit und Adäquatheit bezüglich der jeweiligen Fragestellung zu diskutieren.
5. Dass der literarische Text selbst der Fokus bezüglich des Zugangs ist, bedeutet nicht, den Text absolut und als in sich geschlossen bzw. hermetisch zu setzen. Entscheidend für die textuellen Möglichkeiten ist seine Kulturalität, sind also die Faktoren und Parameter der ursprünglichen Kommunikationssituation, der er angehört und von der er abhängig ist. Diese kulturelle Rückbindung eines Textes bedeutet auch, dass in den Text Wissen dieser Kultur eingeflossen sein kann. Den Text in den Fokus zu stellen, bedeutet also nicht, ihn als vollkommen autonom zu sehen und von jeder Umwelt abzugrenzen, sondern nur, bei den Beziehungen zu relevanten Kontexten vom Text auszugehen. Aus dessen Struktur ist zu untersuchen, welche textuellen Propositionen auf welche kulturellen referieren, deren Kenntnis im Text also für das Verständnis vorausgesetzt wird, oder welche textuellen Propositionen vor der Folie kultureller Diskurse der Zeit erst ihre Relevanz erhalten. Das Spektrum solcher Einbeziehung kulturellen Wissens reicht dabei von der Begriffsklärung einzelner im Text enthaltener Lexeme (d. h. der kleinsten Einheit des Wortschatzes) oder der Identifizierung einer Strophenform über Kenntnis von literarischen Konventionen, Traditionen und Poetologien oder kulturellen Metaphoriken und Konstellationen bis zur Integration in übergeordnete denk- und mentalitätsgeschichtliche, anthropologische Formationen. Strukturalismus/Literatursemiotik reißen den literarischen Text nicht aus seinem Zusammenhang, sondern versuchen ihn in seiner Bedeutung gerade über diesen Bezug zu bestimmen und vor dieser Folie zu verstehen (s. auch Nies 2011).