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IV Pathologische Liebe und die moderne Wissenschaft

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Auch im letzten Teil der Erzählung, die mit Macht auf den Tod des Protagonisten zusteuert, dient das komplex sich durchdringende Verhältnis von Glauben und Wissen der Handlung als Motor. Dabei scheint Nathanael bei seiner Rückkehr an seinen Studienort »G.« zunächst tatsächlich geheilt. Zwar war während seiner Abwesenheit das Wohnhaus, in dem er ein Studentenzimmer hatte, abgebrannt; seine Freunde hatten jedoch Bücher und weitere Habseligkeiten gerettet, so dass er das Studium unmittelbar fortsetzen kann, und zwar in einem Zimmer, das nahe der Wohnung seines Professors für Physik, d. h. der Naturwissenschaften, Spalanzani liegt.

Dass Nathanael geheilt scheint, eröffnet ausgerechnet eine erneute Begegnung mit dem Wetterglashändler Coppola, der ihm dieses Mal allerdings Brillen und Ferngläser anbietet. Allein dadurch, dass der der deutschen Sprache nur mäßig mächtige Glashändler die Brillen als Augen bezeichnet, »sköne Oke« (25/[27]), vermag er Nathanael zunächst tief zu verunsichern. Der in der Vielzahl ausgepackter Brillen eine unendliche Anzahl bunter Augen erblickende Nathanael scheint sein waches Bewusstsein zu verlieren, mithin eine fixe Idee zu verfolgen,9 und fleht schreiend um ein Ende des Augenspukes. Als Coppola die Brillen daraufhin einpackt und ihm Ferngläser anbietet, beruhigt sich Nathanael: »Sowie die Brillen fort waren, wurde Nathanael ganz ruhig und an Clara denkend sah er wohl ein, dass der entsetzliche Spuk nur aus seinem Innern hervorgegangen […]« (26/[28]). Auch nachdem Coppola ihm ein Fernglas verkauft und sich unter höhnischem Gelächter verabschiedet hat, das Nathanael als Spott über einen zu hohen Preis interpretiert, kommt er auf Clara zurück: »›Clara‹, sprach er zu sich selbst, ›hat wohl Recht, dass sie mich für einen abgeschmackten Geisterseher hält‹« (27/[29]). Und so scheint er mit Hilfe der Gedanken an Clara auch deren Überzeugungen übernommen zu haben.

Nathanaels Heilung bleibt jedoch eine scheinbare: Nicht nur ist jeder Versuch einer rationalen Erklärung seiner Ängste stets an die Person seiner Geliebten gebunden, an die zu denken ihm einzig Beruhigung vor den eigenen Ängsten verschafft. Auch bleibt diese Haltung zerbrechlich, weil sie durch äußere Einflüsse schnell unterminiert werden kann.

Es ist aber eben dieses mehr zufällig und um Coppola loszuwerden gekaufte »Taschenperspektiv«, also ein kleines Fernglas, das die zerstörerische Resthandlung in eigentümlicher Weise befördern wird. Mit Hilfe dieses Instruments zur Blickerweiterung ist es ihm nämlich möglich, die im Nachbarhaus wohnende Tochter Spalanzanis zu beobachten. Schnell erkennt Nathanael mit seinem erkenntniserweiternden Augenglas, dass Olimpia, so der Name jenes Mädchens, von ausgewählter Schönheit ist, die den Beobachter magisch anzieht.

Die Instrumente einer naturforschenden Aufklärung können, so zeigen diese Passagen der Erzählung, unter bestimmten Bedingungen, nämlich bestimmten psychopathologischen Voraussetzungen derer, die sich ihrer bedienen, zum Mittel einer Verdunklung und Krankheitsverschärfung werden. Dass solche Prozesse in kürzester Zeit vonstattengehen können, weil sie auf weltanschaulich oder pathologisch empfängliche Seelen treffen, dokumentiert der Text anschaulich: Schon wenige Zeilen nach der letzten rettenden Erinnerung an Claras Vorwürfe der Geisterseherei, in denen die tagelangen Beobachtungsversuche Nathanaels geschildert werden, heißt es:

»Olimpias Gestalt schwebte vor ihm her in den Lüften und trat aus dem Gebüsch, und guckte ihn an mit großen strahlenden Augen, aus dem hellen Bach. Claras Bild war ganz aus seinem Innern gewichen, er dachte nichts, als Olimpia […].« (27/[30])

Mit der Verdrängung Claras aus seinem Herzen und seinem Bewusstsein ist das Schicksal des liebestollen Nathanael allerdings besiegelt. Wendet sich der überzeugte Glaube von der vernünftigen Welthaltung vollständig ab, dann gebiert er Ungeheuer, die er nicht mehr zu beherrschen vermag. Dass aber diese Aufklärung durch Spott, Überheblichkeit und autoritäre Ablehnung alles Übersinnlichen jene Voraussetzung für eine hemmungslose Hingabe an die metaphysischen Sehnsüchte des Menschen allererst schuf, ohne dies zu beachten, wird ihr von Hoffmann in Rechnung gestellt.10 Nathanaels Liebe zu Olimpia, Produkt scheinbar reiner Beobachtung, in Wahrheit jedoch narzisstischer Selbstbespiegelungen (vgl. Neymeyr 1997), ist ebenso Ausdruck wie Beförderung seiner Krankheit zum Tode (vgl. Schmidt 1981).

Diese nimmt im Zuge der fortschreitenden Verfestigung der Liebesbeziehung stets konkretere Formen an: Zunächst kommt es zu einer ersten, allerdings gleich stürmischen Begegnung im Rahmen eines großen Festes, eines »Konzert[s] und Ball[s]« (27/[30]), das Spalanzani für die Universitätsgesellschaft ausrichtet und auf dem er seine Tochter, die er bis dato nur im Hause hielt, der Öffentlichkeit zu präsentieren gedenkt. Tatsächlich kommt es zu diesem Auftritt und einer Begegnung zwischen dem Studenten und der Professorentochter, allerdings erst, nachdem Nathanael – als Student in die hinteren Reihen verbannt – den ›Gegenstand‹ seiner Begierde durch das Fernglas betrachtet:

»Ganz unvermerkt nahm er deshalb Coppolas Glas hervor und schaute hin nach der schönen Olimpia. Ach! – da wurde er gewahr, wie sie voll Sehnsucht nach ihm herübersah, wie jeder Ton erst deutlich aufging in dem Liebesblick, der zündend sein Inneres durchdrang.« (28/[31])

Erst die schon gleichsam internalisierte Ersatzhandlung des Fernglasblickes auf dem Fest garantiert dem liebestollen Nathanael, dass seine Gefühle erwidert werden. Die verfremdende Perspektive der nahen Ferne ist nicht allein deshalb erforderlich, um die Umgebung auszublenden, sondern auch, um den narzisstischen Projektionsprozess glücken zu lassen. Ohne Coppolas ›Perspektiv‹ hätte sich Nathanael niemals verliebt bzw. dieser Liebe nachgeben können.

Gleichwohl ermöglicht ihm diese Perspektive, einen Schritt auf das geliebte Wesen zu zu machen. Nach Beendigung des Konzerts und Beginn des Balls kann der Protagonist die Professorentochter zum Tanz auffordern und erlebt – ohne dies zu verstehen – nach dem optischen einen zugreifenden, haptischen Projektionsprozess, indem er nicht mehr die Augen mit Liebe, sondern die tote Hand mit Wärme überzieht:

»Eiskalt war Olimpias Hand, er fühlte sich durchbebt von grausigem Todesfrost, er starrte Olimpia ins Auge, das strahlte ihm voll Liebe und Sehnsucht entgegen und in dem Augenblick war es auch, als fingen an in der kalten Hand Pulse zu schlagen und des Lebensblutes Ströme zu glühen.« (28/[31])

Nie zuvor hatte Nathanael solche »Liebeslust« empfunden, und zwar gerade deshalb, weil Olimpia kaum Worte verliert und so zu der widerstandslosen Projektionsfläche wird, die die bedingungslose romantische Liebe erwartet und erfordert. So wie Olimpia schweigen muss, kann Nathanael der Verbalisierung seiner Liebe uneingeschränkt nachgehen; ist Olimipa des Sprechens kaum mächtig, so Nathanael in einer Weise, die jedes Verständnis von sich weist: »Er saß neben Olimpia, ihre Hand in der seinigen und sprach hoch entflammt und begeistert von seiner Liebe in Worten, die keiner verstand, weder er, noch Olimpia.« (29/[32]) Auf dem Weg in den »Wahnsinn«, mithin in die schwere psychische Erkrankung, mit der die romantische Liebe hier identifiziert wird, wird das Sprechen des zunehmend Erkrankenden unverständlicher.

Gleichwohl und trotz des vernehmbaren Spotts anderer Ballteilnehmer über Nathanaels Leidenschaft für eine nahezu sprach- und scheinbar empfindungslose junge Frau nimmt das Verhältnis zwischen Nathanael und Olimpia in der Folge die konkretere Form regelmäßiger, ja täglicher Treffen an, auf denen der junge Mann seiner Geliebten stundenlang aus seinen Papieren vorliest. Die so Angebetete kann dem mit nie enden wollender Geduld zuhören.

Wichtig ist in diesem Stadium der Erzählung, dass die Öffentlichkeit einschließlich seiner Studienfreunde Nathanaels Leidenschaft für die Professorentochter ob deren »Stumpfsinn« (30/[33]) zwar für eigentümlich oder gar deviant (also für nur besonders schwer abweichend vom üblichen Standard), keineswegs aber für pathologisch (also für seelisch krank) hält, weil tatsächlich niemand in dieser Figur eine Puppe bzw. einen Automaten erkennt. Als scheinbar echter Mensch, als Frau aus Fleisch und Blut, erscheint sie nicht nur dem liebestollen Nathanael, sondern auch »der Gesellschaft«, die sich erst später für diesen Betrug an Spalanzani zu rächen weiß. Nur deshalb, weil die beiden Automaten-Ingenieure gute Arbeit geleistet hatten, kann die Katastrophe in Gang gesetzt werden. Natürlich leistet sich Hoffmann mit dieser Konstellation auch eine Kritik am zeitgenössischen (allerdings bröckelnden) Frauenideal, das in der intellektuellen Passivität und körperlichen Makellosigkeit seine wesentlichen Elemente hatte: Nicht allein Nathanael sitzt seinen Vorurteilen und seinen Bedürfnissen auf. Auf dieser Ebene ist der psychisch Erkrankende nur die Allegorie einer in ihre Konventionen verstrickten Gesellschaft (vgl. auch Hilpert 2013).

Zugleich besteht eine entscheidende Voraussetzung für diese Art des Missbrauchs von Vorurteilen zu experimentellen Zwecken in der herausragenden technischen Leistung Spalanzanis und Coppolas, die dem Automaten Olimpia zu einem überzeugenden Anschein von Leben verhelfen. Hatte Nathanael Clara als »lebloses […] Automat« (24/[25]) beschimpft, weil sie seinem Glauben an das radikale Böse als metaphysische Macht kein Verständnis entgegenbringen konnte und wollte, so schenkt er der Lebendigkeit des tatsächlichen Automaten Olimpia deshalb Glauben, weil dieser seine Bedürfnisse nach Projektion bedingungslos erfüllt.

Dieser vom Experimentator Spalanzani beförderte Prozess der Verbindung zwischen Nathanael und der singenden und spielenden Puppe Olimpia geht so weit, dass der junge Student zu einer Verlobung entschlossen ist. Im Moment der geplanten Ringübergabe aber, die den Erfolg des Menschenexperimentes besiegelte, streiten sich die beiden Urheber der täuschend echten Menschenpuppe um ihre Leistungsanteile. Ausgetragen wird dieser Streit zwischen Spalanzani und Coppola an dem Automaten selbst, dessen Besitz und die daran sich anschließenden Einnahmen von beiden beansprucht werden. In ihrem enthemmten Ehrgeiz und Besitzanspruch, als Sinnbild der egoistischen Fundierung aller aufklärerischen Forschung, zerstören sie den Automaten. Und erst durch diese Zerrüttung wird Olimpia für den hinzukommenden Nathanael als Automat, als leblose Puppe erkennbar. Doch nicht diese Erkenntnis selbst wird zur Ursache für die manifeste Störung des Protagonisten. Erst Spalanzanis Aufforderung, den mit der Puppe flüchtenden Coppola zu verfolgen, weil der sein Lebenswerk zerstört und entwendet habe, und die Bekräftigung dieses Befehls durch das Bewerfen Nathanaels mit den am Boden liegenden künstlichen Augen, zerrütten die Psyche des hintergangenen Liebhabers: »Da packte ihn der Wahnsinn mit glühenden Krallen und fuhr in sein Inneres hinein Sinn und Gedanken zerreißend« (32/[38]). Erstmals äußert sich dieser psychische Verfall auch in Gewalt gegen andere: Nathanael versucht, Spalanzani zu erwürgen.

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